Kolumne: Das Altpapier am 8. Juli 2024 Meinungsfreiheit bedeutet nicht Zugang zu jeder Bühne
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08. Juli 2024, 13:54 Uhr
"Es ist am einfachsten, die Dinge persönlich zu halten" - mit diesen Worten kritisiert der US-Historiker Timothy Snyder die Berichterstattung über den Wahlkampf in den USA. Joe Bidens Parteifreund Bernie Sanders sagt aus ähnlichen Gründen: "Worauf wir uns konzentrieren müssen, ist die Politik." Eine Forderung, die für die meisten Politikjournalisten, in den USA wie in Deutschland, vermutlich verrückt klingt. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- Die Erzeugung einer faschistischen Aura
- Nein? Doch! Oh!
- Fallen Urlaubstipps jetzt unter Kulturjournalismus?
- Kein Konzept für den Umgang mit Kommentaren
- "Es gibt keine algorithmische Verbreitungsfreiheit"
- Altpapierkorb (Portal für "eine europäische Öffentlichkeit", das Verschwinden der Live-Reportage im Radio, "Schicksalsjahre einer Kanzlerin")
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Die Erzeugung einer faschistischen Aura
Die Berichterstattung über Joe Biden und Donald Trump dürfte in den kommenden Monaten immer mal wieder im Blickpunkt stehen. Wer sich noch nicht eingelesen hat in das Thema: Dieses, dieses, dieses Altpapier könnten hilfreich sein.
Wer dagegen bereits mitten drin ist, könnte überrascht darüber sein, welches Ausmaß die Anti-Biden-Obsession der "New York Times" mittlerweile angenommen hat. Die Medienkritikerin Jennifer Schulze ("Heartland Signal") rechnet in einem Post bei Threads, der am Freitag erschienen ist, vor:
"Between the end of the debate & 8am this morning, it was a staggering 192 pieces. 192. That is mind boggling. Trump gets much less attention with 92 stories (…) Just one about Trump calling for military tribunals for his opponents. None of the stories focus on Trump's mental fitness. There's no question that the Biden debate fail is big news but the coverage is not meeting the moment."
Schulzes Rechnung greift auch "Guardian"-Kolumnistin Rebecca Solnit in ihrer Abrechnung mit US-amerikanischen Medien auf:
"(Sie) wissen nicht, wie man über etwas so Ungewöhnliches und noch nie Dagewesenes wie das Ende der Republik berichtet. Also tun sie es größtenteils nicht."
Solnit schreibt weiter:
"Biden ist alt. In der Debatte am 27. Juni war er auf eine Art entsetzlich, lustlos und manchmal stolperte er und brachte seine Worte durcheinander. Aber Trump war auf eine andere Art entsetzlich, denn fast alles, was er sagte, war eine unverschämte Lüge (…) Ich verstehe, dass das Schreiben über die Monstrosität Trump mit dem Problem konfrontiert ist, dass es sich nicht um Neuigkeiten handelt. Er ist ein Monster, das sein ganzes Leben lang reißerischen Unsinn von sich gibt (aber seine politischen Verbrechen sind neu, und seine frei assoziierenden öffentlichen Selbstgespräche über Haie, Batterien, Toiletten, Wasserfluss und Hannibal Lector, neben anderen Themen, sind wirklich wahnsinnig)."
Die historische Einordnung Solnits lautet:
"Die Expertenklasse [im Original: "pundit class"] der amerikanischen Medien leidet unter schwerem Gedächtnisverlust. Denn sie tut genau das, was sie auch im Präsidentschaftswahlkampf 2016 getan hat - sie liefert eine extrem asymmetrische und hetzerische Berichterstattung über den einen Kandidaten, der gegen Donald J. Trump antritt."
Der Historiker und Faschismus-Experte Timothy Snyder, zuletzt im November 2020 mit einer weitsichtigen Äußerung im Altpapier zitiert, konstatiert in seinem Substack-Newsletter:
"Die höheren Stellen in den Konzernen (mögen) vielleicht die Einschaltquoten, die Trump bringt, oder sie mögen Trump selbst. Und so ist es am einfachsten, die Dinge persönlich zu halten - Trump Zeit zu geben, in der selbstbetrügerischen Logik, dass er sich selbst diskreditieren wird, und sich eher auf Bidens Alter als auf seine Leistungen zu konzentrieren. Für Reporter kann es sich so anfühlen, als wäre die Arbeit getan, wenn nur Biden kritisiert wird - während in Wirklichkeit der Boden durch den Faschismus oder durch die Unfähigkeit, ihm entgegenzutreten, verschoben wurde."
Es geht aber durchaus noch düsterer. Snyder schreibt nämlich des Weiteren:
"Und so breitet sich der Faschismus aus und setzt sich in unseren Köpfen fest, in dieser entscheidenden Zeit zwischen Trumps erstem Putschversuch und seinem zweiten. Die Biden-Administration wird in die Pflicht genommen, die vorherige Trump-Administration nicht; und Biden persönlich wird in die Pflicht genommen, Trump als Person nicht. Dies trägt dazu bei, eine faschistische Aura zu erzeugen. Es muss etwas Besonderes an Trump sein, das ihn von anderen unterscheidet: ein Führer, der über jede Kritik erhaben ist und nicht nur (…) ein Verbrecher aus Queens oder ein Klient eines russischen Diktators."
Eine Aura, die bei den US-Bürgern, die noch keine Wahlentscheidung getroffen haben, möglicherweise eine Wirkung hinterlässt.
Bernie Sanders, Bidens Parteifreund und parteiinterner Rivale, sagt in einem Interview mit "Face the nation" (CBS):
"Wir reden hier nicht über einen Grammy für den besten Sänger. Biden ist alt, er kann sich nicht mehr so gut ausdrücken, wie er es einmal konnte. Ich wünschte, er könnte die Stufen der Air Force One hochspringen. Das kann er aber nicht. Worauf wir uns konzentrieren müssen, ist die Politik. Wessen Politik ist für die große Mehrheit der Menschen in diesem Land von Nutzen und wird es auch bleiben?"
"What we have got to focus on is policy" (wie Sanders es im Original formuliert hat) - für Politikjournalisten dürfte das ziemlich verrückt klingen.
Die Historikerin Heather Cox Richardson schließlich sagt in einem CNN-Interview, ihr liege "sehr viel daran, dass das amerikanische Volk ein vollständiges Bild davon erhält, was bei dieser Wahl auf dem Spiel steht", aber derzeit vermittelten die Medien dieses Bild nicht. Der Grund dafür, warum Richardson das "vollständige Bild" einfordert:
"Because we have five months to make sure that we get to the 250th anniversary of the American republic. And if we don't come out right in November, we're not going to make it.”
Der 250. Jahrestag ist übrigens am 4. Juli 2026. Ein ähnliches großes Fass machte Richardson vor eineinhalb Wochen bei Facebook in einem ersten Rückblick auf die Berichterstattung zum "Duell" auf:
"Für mich waren die Kommentare nach der Debatte ein großer Weckruf in Bezug auf die Medien. Sie befinden sich eindeutig in einer Krise, und etwas Neues ist im Entstehen."
Inwiefern sie sehr gedämpft optimistisch ist, führt sie dann folgendermaßen aus:
"Pretty sure whatever comes from this moment will be a bottom-up media rather than the current corporate model. But that, of course, depends on there BEING a free press after January 20, 2025, and that means making sure people understand what is really at stake in this election."
Nein? Doch! Oh!
Zum "braunen Super-Sonntag" bei den Öffentlich-Rechtlichen haben wir an dieser Stelle schon vorab recht viel gesagt. Was muss man noch nachtragen? "Falsche und irreführende Aussagen von Chrupalla", teasert der "Tagesschau"-Bot von Bluesky einen "Faktenfinder"-Beitrag an, der den Sachverhalt etwas weniger präzise zusammenfasst als die KI ("AfD-Chef Chrupalla hat zum Teil mit falschen Zahlen argumentiert").
Darauf ließe sich nun mit dem berühmten Meme mit Louis de Funès und dem "Nein?"-"Doch!"-"Oh!"-Dialog reagieren. Oder mit einem Zitat aus Arne Semsrotts aktuellen Buch "Machtübernahme. Was passiert, wenn Rechtsextremisten regieren" (Altpapier). Semsrott schreibt dort über das Problem des nachgereichten Faktenchecks:
"So können AfD-Politiker in der Sendung viele Falschaussagen von sich geben, die im Format nicht live korrigiert werden, der Online-Faktencheck gerät zum Feigenblatt für die Redaktion. Viel sinnvoller als ein nachträglicher Faktencheck wäre es, Lügenschleudern aus der AfD einfach nicht mehr einzuladen."
Auf eine andere mögliche Variante des Umgangs mit Falschbehauptungen weist indirekt der Vorspann des "Faktenchecks" hin:
"Da es während der Aufzeichnung eines solchen Gesprächs nicht immer möglich ist, falsche oder irreführende Behauptungen sofort zu korrigieren, werden einige Aussagen Chrupallas hier noch einmal im Nachgang genauer beleuchtet."
Dass es während der Aufzeichnung nicht immer möglich ist, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Frage ist doch, was macht man mit dem Produkt, wenn es fertig ist: Verbreitet man es mit all seinen Mängeln, oder beseitigt man sie?
Der "Faktenfinder"-Text - in dem nach meiner Zählung sechs Chrupalla-Äußerungen aufgeführt sind, die der Autor Pascal Siggelkow als "falsch", "irreführend" oder "mindestens irreführend" bezeichnet - erschien eine Viertelstunde nach dem Ende der linearen Sendung (in der Mediathek stehen die Interviews schon vorher). Man kann also davon ausgehen, dass die Korrekturen schon fertig waren, als Chrupalla im linearen Programm noch den Trump machte.
Die nach meiner Wahrnehmung erste Doppel-Rezension der "Sommerinterviews" erschien bereits um 18.20 Uhr - zu einem Zeitpunkt, zu dem die lineare Ausstrahlung des ersten Interviews noch lief, und als das zweite (mit Alice Weidel) noch gar nicht begonnen hatte. Allemal ist zwischen Aufzeichnung und Ausstrahlung genügend Zeit, um in Form von Einblendungen deutlich zu machen, was von dem Gesagten nicht stimmt. Wie man solche Korrekturen dann konkret vornimmt, darüber müsste man freilich noch diskutieren. [Anm. der Redaktion am 9.7.: Wir haben diesen und den vorigen Absatz nach dem Hinweis eines Lesers präzisiert]
Fallen Urlaubstipps jetzt unter Kulturjournalismus?
Die quantitative Ausdünnung der Kultur- und insbesondere der Literaturberichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die fast immer einher geht mit einer inhaltlichen Verflachung, ist leider ein Dauerthema im Altpapier. Zuletzt kam es vor einer Woche aufgrund der aktuellen Entwicklungen beim SWR hier zur Sprache. Mit dem SWR und dem bevorstehenden Ende der Sendung "Lesenswert Quartett" steigt auch die taz in ihrer Wochenendausgabe in einen ausführlichen Text ein. Um unseren MDR geht es auch. Alexander Teske schreibt:
"Wer bei mdr.de den Reiter 'Kultur‘ anklickt, erhält zum Beispiel 'Urlaub in Sachsen: Die besten Tipps für tolle Ausflugsziele' oder 'Rund um Erfurt und Jena: Sieben coole Ausflugstipps bei Hitze‘. 'Einfach nur peinlich ist das. Hochkultur ist ein Schimpfwort geworden. Es geht um Klickzahlen, das Marketing steht im Vordergrund, und man vergleicht sich mit privaten Anbietern', sagt eine Kulturredakteurin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Ein Sprecher des MDR sagt dazu: 'Der Kulturbegriff wird dabei im Sinne eines 'MDR für alle‘ konsequent auch auf Formate für jüngere Zielgruppen definiert.‘"
Wo Literatur übrigens einen ungleich höheren Stellenwert hat als im ÖRR: bei den Strategen des Rechtsextremismus. Darüber schreibt Torsten Hoffmann, der an der Universität Stuttgart das Forschungsprojekt "Neurechte Literaturpolitik" leitet, für die taz:
"Keine andere politische Strömung hat sich in den letzten zwanzig Jahren so intensiv mit Literatur beschäftigt wie die Neue Rechte. Insbesondere der Kreis um das Ehepaar Götz Kubitschek und Ellen Kositza bespielt aus Schnellroda eine Vielzahl von Medienformaten, in denen Gedichte empfohlen, Romane besprochen und (meist männliche) Autoren diskutiert werden (…) Kositza zum Beispiel diskutiert gemeinsam mit der Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen und jeweils einem Gast in der Sendung 'Aufgeblättert. Zugeschlagen. Mit Rechten lesen' im Stil der ZDF-Sendung 'Das literarische Quartett' seit 2018 über Bücher (…) – darunter zahlreiche Neuerscheinungen, die sich nicht dem rechten Spektrum zurechnen lassen."
Und warum tun Kubitschek und Co. das?
"Ein Kernanliegen der Neuen Rechten besteht darin, sich um eine Intellektualisierung des Rechtsextremismus zu bemühen – dabei spielt Literatur eine zentrale Rolle."
Kein Konzept für den Umgang mit Kommentaren
Auf ein weiteres großes Problem der Öffentlich-Rechtlichen weist Johanna Sethe in einem Beitrag für "Übermedien" hin. Sie berichtet von ihren Erfahrungen bei der Arbeit als Community-Managerin für den ÖRR. Um zu verdeutlichen, was in diesem Bereich falsch läuft, erwähnt sie unter anderem
"ein Video über einen antisemitischen Angriff durch einen rechtsextremen Politiker in Polen (…) Die Kommentare, die sich offen den Nationalsozialismus zurückwünschen oder klar formulieren, sie würden Juden hassen, sind in ihrer Masse zwar erschreckend, aber auch unstrittig: löschen, weg damit. Bei einer Flut von Kommentaren, die den antisemitischen Politiker zum 'Ehrenmann' adeln, ist das schwieriger. Inhaltlich ist es aber dasselbe: Antisemitismus."
Sethe weiter:
"Es gäbe für das Problem eine einfache erste Lösung: Wenn in einer Kommentarspalte unter einem Beitrag nicht mehr sachlich diskutiert wird, sollte sie geschlossen werden. Gerade öffentlich-rechtliche Accounts müssten hier deutlich konsequenter und mutiger sein. Meiner Erfahrung nach reagieren obere Hierarchie-Etagen auf die Forderung, Kommentarspalten zu schließen jedoch oft mit Entsetzen und einem klarem 'Nein‘. Ob ich nicht wisse, wie sehr der öffentlich-rechtliche Rundfunk dafür kritisiert werde, nicht genug Meinungsvielfalt zu zeigen, unliebsame Meinungen gar zu zensieren."
Ja, sie sind schon recht drollig, diese Hierarchen! Sethe fragt daher:
"Woher kommt die Annahme, einen eigens geschaffenen Debattenraum unter bestimmten Umständen auch wieder zu schließen, könne etwas mit Zensur zu tun haben? Meinungsfreiheit ist das Grundrecht darauf, sich eine Meinung zu bilden und diese frei zu äußern. Sie ist aber kein Freifahrtschein, seine Ansichten auf jeder Bühne und zu jedem Zeitpunkt ungefiltert kundtun zu dürfen. Es wird schließlich auch nicht jeder Leserbrief, der eine Redaktion erreicht, veröffentlicht."
Vielleicht das wichtigste Takeaway des Beitrags:
"Viele, vor allem öffentlich-rechtliche Social-Media-Redaktionen scheinen keinen konkreten Fahrplan zu haben, wie sie die Debattenräume, die sie mit ihren Kommentarspalten aufmachen, eigentlich bespielen wollen."
"Es gibt keine algorithmische Verbreitungsfreiheit"
Der Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation Democracy Reporting International (DRI), Michael Meyer-Resende, kritisiert in einem Gastbeitrag für die Samstags-FAZ den "laxe(n) Umgang des Konzerns" mit politischen Accounts:
"Das Unternehmen verspricht (…), dass Konten politischer Parteien besonders behandelt werden und Beschränkungen unterliegen. Meine Organisation hat jedoch vor den Wahlen in vielen EU-Staaten zahlreiche Konten politischer Parteien oder Kandidaten gefunden, bei denen nicht ersichtlich war, wer sie betreibt: die Parteien selbst? Bezahlte PR-Firmen? Oder waren es 'Fan-Accounts‘? Die meisten dieser Konten haben Werbung für rechtsextreme Parteien wie die AfD oder den französischen Rassemblement National gemacht. Ihre Inhalte wurden auf Tiktok in großem Stil verbreitet. Nach der Veröffentlichung unserer Berichte sperrte das Unternehmen einige Dutzend dieser Konten, aber erst kurz vor den Wahlen. In Deutschland wurde viel spekuliert, warum rechtsextreme Parteien auf Tiktok so erfolgreich sind. Es liegt nahe, dass der laxe Umgang des Konzerns mit politischen Konten etwas damit zu tun hat."
Bei einem Symposium in Hamburg hat Tim Klaws, Tiktoks "Head of Government Relations and Public Policy", zur Arbeit der Moderationsteams des Konzerns bei der Europawahl kürzlich übrigens gesagt: "Es gab keinen großen Fall, wo etwas schief gegangen ist." Siehe dazu einen Artikel von mir, der Ende Juni bei "epd medien" erschienen ist.
Die Rechtsextremen und Tiktok - das ist auch eines der vielen Themen, mit denen sich Correctiv-Chefredakteur Marcus Bensmann in seinem am Donnerstag erschienenen und am Sonntagvormittag im Berliner Ensemble vorgestellten Buch "Niemand kann sagen, er hätte es nicht gewusst. Die ungeheuerlichen Pläne der AfD" beschäftigt. Er zitiert in dem Zusammenhang den "Techunternehmer Christoph Mause aus Düsseldorf", der das Wirken des österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner folgendermaßen beschreibt:
"Sellner begreift Social Media als Propaganda-Waffe in einem Infowar. Es ist wichtig, dass wir verstehen, dass wir uns hier nicht in einer gesellschaftlichen Diskussion oder einer politischen Auseinandersetzung befinden, sondern tatsächlich in einem Krieg. Und es kommt hinzu, dass die Verbündeten aufseiten des Feindes größer sind, als wir wahrscheinlich annehmen und beweisen können."
Was Mause und Bensmann fordern:
"(D)ie liberalen Demokratien müssen sich gegenüber diesen propagandistischen Angriffen nicht wehrlos zeigen. Bisher würden die gesetzgeberischen Maßnahmen eher auf den Inhalt zielen, 'wie Meldeverfahren für Hassreden‘, so Mause, aber viel wichtiger sei, dass 'das algorithmische Ausspielen von Inhalten sehr eng reguliert werde‘ (…) Entweder beschränke man das Ausspielen von Inhalten auf Menschen, denen man tatsächlich folgt, also die aktiv wünschen, Informationen geteilt zu bekommen, oder aber: Die User müssten erst zustimmen, ob sie bestimmte Inhalte gezeigt bekommen wollen."
Was passieren wird, wenn darüber verstärkt diskutiert werden würde, weiß Bensmann natürlich:
"Die Forderung nach Regulierung von TikTok oder anderen Medien wird von rechten Ideologen oft als Angriff auf die Meinungsfreiheit gesehen. Dagegen kontert der Techunternehmer aus Düsseldorf: 'Es ist wichtig zu verstehen, dass es in unserer Demokratie zwar eine Redefreiheit, aber keine algorithmische Verbreitungsfreiheit gibt.‘"
Das Missverständnis von Freiheit ist, siehe dazu auch Johanna Sethes gerade erwähnter Text, derzeit also ein recht akutes Problem.
Altpapierkorb (Portal für "eine europäische Öffentlichkeit", das Verschwinden der Live-Reportage im Radio, "Schicksalsjahre einer Kanzlerin")
+++ netzpolitik.org stellt das am vergangenen Donnerstag relaunchte Portal DisplayEurope.eu vor, das seine Inhalte in 15 Sprachen anbietet: "Auch mehr als dreißig Jahre nach Gründung der EU ist eine wirkliche europäische Öffentlichkeit nicht erkennbar (…) DisplayEurope.eu will hier Abhilfe schaffen und zugleich zeigen, wie eine dezentrale mediale Informationsversorgung aussehen kann." Dem Portal sei nun zuzutrauen, dass es "Maßstäbe für eine europäische Öffentlichkeit" setzt.
+++ "Die Livereportage, in der – mal gut, mal schlecht – die Realität simultan beschrieben wird, galt als die hohe Kunst des Radiomachens", doch nun "schleicht sich das Format langsam von dannen". Das beklagt Ansgar Hocke, der vier Jahrzehnte Reporter beim SFB bzw. RBB war, in einem Gastbeitrag für die FAZ. Der größere Kontext: "Verschwindet das analoge Radio, dann verschwindet die Livereportage."
+++ "Schicksalsjahre einer Kanzlerin" lautet der Titel eines weiteren dokumentarischen Films über Angela Merkel. Tim Evers hat sowohl einen Fünfteiler für die ARD-Mediathek gedreht (seit heute abrufbar) als auch eine 90-minütige Fassung fürs Lineare (läuft in einer Woche). Der KNA-Mediendienst (nur mit Logindaten aufrufbar) kritisiert, das Werk bleibe "im Deskriptiven stecken", lobt aber, dass sich "vor allem die Mediatheken-Version in ihrem Look & Feel schon vorbildlich vom klassischen Polit-TV" unterscheide. Tilmann P. Gangloff (RND) hat zur Machart eine andere Meinung. Sie entspräche "größtenteils den gewohnten Fernsehkonventionen. Daran ändern weder die gelegentlichen Bilderkaskaden noch die Spielereien mit dem oftmals vielfach geteilten Bildschirm oder die eingespielten zeitgenössischen Popsongs etwas". Michael Hanfeld (FAZ) wiederum spricht von einer "außergewöhnlich vielschichtigen, klugen und kritischen Dokumentation". Und richtig aus dem Haus ist Gustav Seibt (SZ): "In der klugen Verfremdung, die der Film hinbekommt, wird das Atemberaubende, Dramatische von Merkels politischer Laufbahn unterhalb des irreführenden Anscheins des 'Lethargokratischen‘ (Peter Sloterdijk), den sie erweckte, wieder fühlbar."
Das Altpapier am Dienstag schreibt Jenni Zylka.