Kolumne: Das Altpapier am 4. Juli 2024 Alter!
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04. Juli 2024, 11:15 Uhr
Die "New York Times" berichtet: Joe Biden denkt über einen Rückzug nach. Aber stimmt das überhaupt? Und wäre es nicht viel unglaublicher, wenn er das nicht tun würde? Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Was hat Joe Biden wirklich gesagt?
In der "New York Times" ist Joe Bidens Alter eine Woche nach dem ersten TV-Duell mit Donald Trump weiter das dominierende Thema (Altpapier). Der Politologe und Amerika-Experte Curd Knüpfer sagte am Mittwochnachmittag im Interview mit Sebastian Wellendorf für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres":
"Ich gucke (…) gerade auf die Webseite der 'New York Times', und da ist es die Überschrift. Wir finden es hier nochmal in den Kommentarspalten. Ich sehe jetzt auf den ersten Blick (…) fünf Geschichten, die sich mit der Gesundheit des Präsidenten auseinandersetzen."
Gestern Abend hatte sich daran nichts geändert. Vier Artikel ganz oben auf der Seite, von denen in einem stand, Biden habe einem Verbündeten erzählt, er denke darüber nach, ob er weitermachen solle. Katie Rogers schreibt (Übersetzung mit Deepl.com):
"Präsident Biden hat wichtigen Verbündeten mitgeteilt, dass er weiß, dass die kommenden Tage entscheidend sind und dass er seine Kandidatur möglicherweise nicht retten kann, wenn er die Wähler nicht davon überzeugen kann, dass er nach dem katastrophalen Auftritt bei der Debatte in der vergangenen Woche der Aufgabe gewachsen ist."
Rogers bezieht sich dabei auf zwei Personen, die mit Biden gesprochen hätten. Und sie zitiert Karine Jean-Pierre, die Pressesprecherin des Weißen Hauses, mit der Aussage, die Behauptung sei "absolut falsch". Der Präsident habe ihr direkt gesagt, dass er nicht mit Verbündeten über einen Ausstieg gesprochen habe.
Republikaner werden wissen, wie sie daraus einen Witz konstruieren können, in dem es um Joe Bidens Gedächtnisleistung geht. Interessant ist aber, was in Europa ankam. Der "Spiegel" schrieb:
"Präsidentschaftswahlkampf in den USA: Joe Biden denkt laut Medienberichten über Rückzug nach".
"Bild" meldete: "'New York Times': Biden denkt über Rückzug nach" und darunter etwas größer: "Sensations-Umfrage für Michelle Obama"
Da ist man also schon etwas weiter. Das alles drängt in Richtung der Nachricht, die für einen Moment all das Quersitzende auflösen würde. Tatsächlich hätte man aus der Meldung der "New York Times" auch etwas anderes ableiten können, denn im Grunde sagt Biden nicht, er denke über einen Rückzug nach. Er gibt eine realistische Einschätzung der Lage. Er sagt, er würde gern weitermachen. Aber er weiß, dass er die Öffentlichkeit davon überzeugen muss, dass er das auch kann.
In der Nachricht über seine Rückzugsgedanken steckt auch der Wunsch nach einer Sensation. Und mit jeder weiteren Meldung, die in diese Richtung geht, verfestigt sich die Erwartung und wächst die Wahrscheinlichkeit, dass es am Ende so kommen wird.
Dabei könnte man die Frage stellen, ob es nicht die viel unglaublichere Nachricht wäre, wenn Biden in dieser Situation nicht über einen Rückzug nachdenken würde. Wäre das nicht am ehesten ein Beleg dafür, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmt? Die Zweifel bringen ja durchaus zum Ausdruck, dass er bei klarem Verstand ist.
Aber vielleicht ist das schon zu viel Reflexion. Am Morgen geht der Spin in den Nachrichten längst wieder in eine andere Richtung. Biden hat eine E-Mail an seine Unterstützer geschickt, aus der die Agenturen berichten, hier bei "Zeit Online". Biden teilt mit:
"(…) lassen Sie es mich so klar und einfach wie möglich sagen: Ich kandidiere. Ich bin der Kandidat der Demokratischen Partei. Niemand verdrängt mich."
Das ist die offizielle Erzählung. Zweifel sind die feinen Risse in ihr, die diese Geschichte zerbröckeln lassen, wenn sie größer werden. Die Schwierigkeit für Medien ist, verantwortungsvoll mit der Aufgabe umzugehen, über bestehende Zweifel zu berichten, ohne noch gar nicht vorhandene entstehen zu lassen.
Drei mögliche Fälle – oder vier
Der bereits erwähnte Politikwissenschaftler Curd Knüpfer hat den Eindruck, dass hier etwas ins Ungleichgewicht geraten ist. Im Deutschlandfunk-Interview sagt er, am Tag zuvor habe in den USA der Oberste Gerichtshof entschieden, dass Donald Trump im Prinzip immun sei. "Das ist meiner Meinung nach, nach meinem Empfinden, eine deutlich größere Geschichte", sagt Knüpfer.
Damit sind wir wieder bei der Frage, mit der Klaus Raab sich hier bereits am Montag beschäftigt hat. Inwieweit lassen Medien sich hier von einem rechten Narrativ leiten? Und inwieweit ist die Frage legitim, ob Joe Biden fit genug ist für eine weitere Amtszeit?
Knüpfer sagt:
"Die Frage ist unbedingt legitim. Es geht ja hier um eine Agenda, eine Gewichtung von Thematiken etc. Also wir sprechen jetzt auch gerade über die Gesundheit des Präsidenten. Weder sie noch ich sind Ärzte, soweit ich das weiß. Wir wissen im Prinzip da jetzt nicht viel drüber."
Es sind verschiedene Fälle möglich. Entweder: Ein rechtes Narrativ ist wahr geworden. Oder: Ein rechtes Narrativ war schon immer etwas wahrer, als viele gehofft hatten. Oder: Ein rechtes Narrativ ist falsch, aber es ist der nicht zutreffende Eindruck entstanden, dass an ihm durchaus etwas dran ist.
Eine weitere Frage ist, ob nicht schon die Fokussierung auf diese drei Fälle ein Ungleichgewicht schafft, denn es ist ja nicht so, dass auf der anderen Seite ein jugendlicher Gegner stünde, der ohne Zweifel alle Voraussetzungen für das Amt mitbringt. Auf diese Deutung hatte zum Beispiel die Zeitung "The Philadelphia Inquirer" in einem Leitartikel hingewiesen (Altpapierkorb gestern). Sie lautet: Auch wenn Joe Biden nicht ausreichend fit sein sollte, ist er die geringere Gefahr für die Demokratie als der immerzu lügende und verurteilte Straftäter Trump.
Man muss beides ins Verhältnis setzen. Und es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass hier in der öffentlichen Wahrnehmung ein Missverhältnis besteht. Donald Trump hat dem Eindruck nach durch seine Lügen und sein übriges Verhalten auch die Ansprüche definiert, an denen man ihn misst. In seinem Fall gab es Debatten darüber, ob sich eine Demenz andeutet – die Demokratin Nancy Pelosi hat es soeben wieder verbreitet – oder ob seine psychischen Auffälligkeiten eine Präsidentschaft überhaupt zulassen.
Curd Knüpfer sieht allerdings die Tendenz – und hier zitiert er "einen Kollegen aus den USA" –, dass man in den Demokraten eher Protagonisten sehe, "als Helden der Geschichte" und dementsprechend höhere Standards setze. "Man sieht sie sozusagen als diejenigen, die sich richtig verhalten müssen, die rational argumentieren müssen", sagt Knüpfer. Republikaner zeichne man dagegen oft als Antagonisten. Da nehme man andere Standards, auch bei Trump. "Da wird einfach vorausgesetzt, dass er sich irgendwie trumpesk verhalten wird", sagt Knüpfer.
Zählt Wahrheit oder Eindruck?
Ein für Medien relevanter Punkt ist zudem: Über Donald Trump hat das letzte TV-Duell nichts Neues zu Tage gebracht. Was man von ihm sah, kannte man schon, oder es war erwartbar.
Bei Joe Biden war das anders. Er hat live vor Millionen von Menschen ein Bild abgegeben, das viele Beobachter erschüttert hat. Damit hatten viele so nicht gerechnet. Er hat tatsächlich den Eindruck vermittelt, während des Duells zeitweise nicht bei klarem Verstand gewesen zu sein.
Ein Zitat aus einer Seite-drei-Reportage von Boris Herrmann und Christian Zaschke in der "Süddeutschen Zeitung" heute macht das deutlich. Zum Thema Abtreibung sagte Biden wörtlich:
"Ich unterstütze Roe gegen Wade, was drei Trimester hat. Das erste Mal ist zwischen einer Frau und einem Doktor. Das zweite Mal zwischen dem Doktor und einer extremen Situation. Und das dritte Mal ist zwischen dem Doktor – ich meine, es würde zwischen der Frau und dem Staat sein."
Man kann hier zu Bidens Verteidigung anführen, dass dies nur ein kleiner Ausschnitt ist. Es ist allerdings keine Stelle, die dem übrigen Eindruck aus der Debatte vollkommen widerspricht.
Unglücklicherweise ist es gar nicht so entscheidend, wie es in Wirklichkeit ist. Sollten Ärzte tatsächlich zu dem Ergebnis kommen, das war eine Schwäche, die in einer Ausnahmesituation unter dem enormen Stress entstanden ist, bleibt immer noch ein Eindruck, der sich nur schwer korrigieren lässt.
In Deutschland haben schon ein zufällig aufgenommener Lacher im Hintergrund, ein schludrig zusammengeschriebenes Buch oder eine Geste auf einem Magazin-Cover Wahlkämpfe in eine bestimmte Richtung gelenkt.
Und die Medien?
In den USA fällt nun alles auf den von einer rechten Kampagne bereiteten Boden. Es war hier dem so entstandenen Eindruck nach kein Aussetzer, sondern die Bestätigung des nach Bestätigung verlangenden Gehirns. Die Erzählung verstärkt damit die Empfindung. Von so einem Eindruck lassen Menschen sich leicht einlullen, vor allem wenn Zusammenschnitte mehrerer Szenen speziell auf diesen Effekt abzielen.
Man muss sich fragen: Was hat man hier wirklich gesehen? Welche verlässlichen Rückschlüsse lässt das Gesehene zu? Ein Fehler wäre allerdings – das hat Stefan Niggemeier bei "Übermedien" schon vor einer Woche erklärt – das alles als Erzählung und eine Kampagne abzutun.
Boris Herrmann und Christian Zaschke schreiben in der SZ:
"Es besteht kein Zweifel daran, dass es für die amerikanische Demokratie eine weitaus größere Katastrophe wäre, wenn Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrte und dort seinen Rachefeldzug begänne. Aber ist es nicht auch unverantwortlich, mit einem Mann in die Wahl zu gehen, für den Auftritte wie der bei der Debatte bald nicht bloß 'keine gute Nacht', sondern Alltag sein könnten? Zumal es bei den Demokraten eine ganze Reihe von erfahrenen Politikerinnen und Politikern gibt, die als Gouverneure gezeigt haben, dass sie wissen, wie man regiert."
Nach meinem Eindruck ist das die entscheidende Frage: Haben die Demokraten es aus welchem Grund auch immer versäumt, den am besten geeigneten Kandidaten aufzustellen?
Daran schließen sich eine ganze Reihe von Fragen an. Haben Medien es versäumt, wichtige Fragen zu stellen, um den nach ihrem Empfinden besseren Kandidaten nicht zu schwächen? Haben sie sich also selbst von einem politischen Ziel leiten lassen? War das legitim? Sollen die Demokraten ihre Entscheidung korrigieren? Und falls ja: Was wäre der beste Weg? Es wird viel Arbeit sein, Antworten auf diese Fragen zu finden. Selbstkritik könnte dabei helfen.
Altpapierkorb (Fernsehrat, Kölner Stadtanzeiger, Zeit Online, Münchner Filmfest, Georgien)
+++ Mit der morgen beginnenden neuen Amtsperiode scheidet ungefähr die Hälfte der bisherigen ZDF-Fernsehratsmitglieder aus dem Gremium aus, meldet die Agentur "epd". 29 von 60 Personen kämen neu in den Rat. Laura Kristine Krause, selbst eine dieser 60 Personen, schreibt in der Reihe "Neues aus dem Fernsehrat" für "netzpolitik.org" von 31 neuen Mitgliedern, von denen 26 Frauen seien, beziehungsweise weiblich gelesen. Damit wird der Rat weiblicher. Vor zwei Jahren lag der Frauenanteil bei 40 Prozent, jetzt sind es schon 75. Das liegt an einer vor acht Jahren eingeführten Regel, nach der auf jede ausscheidende Frau ein Mann folgen soll, beziehungsweise umgekehrt.
+++ Der "Kölner Stadt-Anzeiger" macht eine schwere Krise durch. Konzernchef Christoph Bauer, der sich wie Christian Wernicke auf der SZ-Medienseite berichtet, "in elf Jahren den Ruf eines kalten Managers erarbeitet" hat, baut das Unternehmen radikal um. Die Redaktion befürchte, dass die Zeitung zur "Klickbude" verkommt, schreibt Wernicke. Auch ein offener Brief der Redaktion im April an die Verleger Isabella Neven DuMont und Christian DuMont habe nichts bewirkt. Wernicke: "Zwei Monate nach dem ersten von inzwischen drei Notrufen der Redaktion ließen sich die beiden Erben endlich am 25. Juni auf ein Gespräch mit leitenden Redakteuren ein. Ergebnis? Bedauern, Verständnis – aber laut SZ-Informationen keine Garantien für nichts."
+++ "Zeit Online" wehrt sich gegen eine Rüge, die der Presserat ausgesprochen hat, weil in einer Überschrift gestanden hatte, das Landgericht München habe die "Letzte Generation" als kriminelle Vereinigung eingestuft. Tatsächlich hatte das Gericht nur einen Anfangsverdacht festgestellt. Die Medienethikerin Marlies Prinzing hält die Rüge für richtig und kritisiert, dass "Zeit Online" sie anzweifelt. Im Interview mit Sebastian Wellendorf für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" sagt sie, Überschriften dürften pointiert sein, aber nicht irreführend. "Zeit Online" bezieht sich in seiner Argumentation auf Rechtsexperten, nach deren Einschätzung die Überschrift rechtmäßig ist. Marlies Prinzing hält dem entgegen: "(…) das heißt noch lange nicht, dass es professionell ist, dass es ethisch geboten ist, so etwas zu machen."
+++ Das 41. Münchner Filmfest stehe im Zeichen von Verfall und Niedergang, schreibt Jörg Seewald auf der FAZ-Medienseite. Wobei: Jan Böhmermann rettet mit seinem Film "Hallo Spencer" ein ARD-Kultprojekt vor dem Verfall", so Seewald, und Spencer-Erfinder Winfried Debertin rette er vor dem Ruin. "Der habe die Puppen und Drehbücher all die Jahre in einer abbruchreifen Diskothek gelagert, und jede Woche kamen Lastwagen des NDR, die die alten Sendebänder abluden, weil die Fristen abgelaufen sind. Winfried wurde sein Lebenswerk vor die Tür gekippt. Das war traurig und tragisch.' Nun keimt mit dem augenzwinkernden Spiel des Schauspielers Rainer Bock, unterstützt von Victoria Trauttmansdorff, Jens Harzer und Margarita Broich, Hoffnung auf." Ins Kino kommt der Film dann im Herbst, wenn alles wieder welkt. Stichwort Verfall.
+++ Georgien hat wegen des sogenannten "Ausländische Agenten"-Gesetzes seinen Status als EU-Beitrittskandidat verloren. Das Gesetz erschwert die Arbeit von Nicht-Regierungs-Organisationen, weil es sie verpflichtet, sich als Vertreter von ausländischen Interessen zu registrieren. Sandro Baramidze, Programmleiter von "Transparency International Georgien" und früher stellvertretender Justizminister des Landes, kritisiert das Gesetz im Interview mit Vivien Mirzai für die taz als Stigmatisierung und Mittel der Regierung, unabhängige Medien und Organisationen zu unterdrücken und Georgien wieder ein Stück Richtung Russland zu bringen. Das Hauptziel des Gesetzes sei die Sabotage des EU-Beitrittsprozesses, sagt er.
Das Altpapier am Freitag schreibt Klaus Raab.