Kolumne: Das Altpapier am 1. Juli 2024 Sanierung und Reform
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01. Juli 2024, 10:08 Uhr
Nach der Wahl von Katrin Vernau zur WDR-Intendantin überwiegt das Lob: weil die Wahl wirklich eine Wahl war – vor allem aber, weil Vernau wirklich für Veränderung stehe. Außerdem: Haben Medien zu viel über Joe Bidens Alter berichtet – oder zu zurückhaltend? Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
"Mal eine gute Wahl"
Aus der Reihe "Sätze, die man nach Wahlen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk" nicht oft liest, stammt der folgende: "Für den Augenblick scheinen im WDR und mit dem WDR alle zufrieden." Es ist der Schlusssatz des (bislang nur in der Samstagszeitung erschienenen) "FAZ"-Artikels über die Wahl von Katrin Vernau zur WDR-Intendantin (Altpapierkorb vom Freitag). In der "FAZ" zu lesen ist auch das Lob eines namentlich nicht genannten Rundfunkrats für die Arbeit der Findungskommission: "Ich fühle mich bei ihrer Arbeit und der gebotenen Transparenz sehr gut vertreten. Es gab kein Gemauschel, keinen schon vorher feststehenden Gewinner."
Hier setzte ja schon oft Kritik an: Es habe nur einen Kandidaten gegeben, von dessen Befähigung man sich zudem bisweilen nur schwer ein Bild machen konnte. In diesem Fall war es anders. Vernau galt im Vorfeld nicht einmal als die große Favoritin. Als favorisiert galt zunächst, zumindest für eine Zeitlang, eher der WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn, der allerdings – wie Elmar Theveßen, Leiter des ZDF-Studios in Washington – schon im ersten Wahlgang ausschied. Vernau gewann die Stichwahl gegen Helge Fuhst von ARD-aktuell und den "Tagesthemen".
Gleichwohl, völlig überraschend oder gar "ein Karrieresprung ins kalte Wasser", wie es die "Süddeutsche" (Abo) nennt, ist ihre Wahl eigentlich nicht. Sie ist von allen vier, die am Ende zur Wahl standen, die einzige, die schon mal Intendantin gewesen ist, nämlich beim RBB. Und den WDR kennt sie auch von innen, sie ist dort bislang Verwaltungsdirektorin.
Auch die "Welt", die wie die "FAZ" nicht im Verdacht steht, auffallend unkritisch zu sein, wenn es um die Öffentlich-Rechtlichen geht, lobt das Verfahren: "Alles in allem war das also mal eine gute, weil offene Intendantenwahl beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk." (Und das "mal" ist natürlich ganz amüsant.) Gut findet man die Wahl dort aber auch, weil Vernau für mehr Umkrempelung stehe als mutmaßlich etwa Schönenborn. Schönenborn, so die "SZ", sei in der Vorstellungsrunde "mit einem Bekenntnis zu Programmunterbrechung bei Breaking News" aufgefallen "sowie mit der schonungslosen Aussage, dass es in ein paar Jahren sicher nicht mehr alle Dritten Programme geben werde". Aber wenn man Christian Meier von der "Welt" folgt, verkörpere er nicht "in ausreichendem Maße die geforderte Veränderung".
Was quasi allen, die berichten, aufgefallen ist, ist, dass von den vier Kandidatinnen und Kandidaten nur Vernau keine Journalistin ist. Sondern eine Wirtschaftswissenschaftlerin, die ein Vorleben unter anderem bei der Unternehmensberatung Roland Berger hat. Das wurde beim RBB, als sie dort als Interims- und Sanierungsintendantin andockte, durchaus kritisch gesehen; man las vom Spitznamen "Stahlbesen". Fun fact: Kritisiert wurde im RBB damals auch, dass es mit ihr nur eine Kandidatin gab. ("Der rbb-Redaktionsausschuss äußerte Zweifel, 'dass das gewählte Verfahren ohne echte Auswahl für die Rundfunkräte geeignet ist, das Vertrauen der Belegschaft in die Interimsintendantin zu fördern'", so rbb24.de im September 2022.)
Nun, im Nachhinein, wird ihr die Arbeit beim RBB gutgeschrieben, unter anderem vom Berliner "Tagesspiegel":
"Sie klärte intern auf, beendete das teure Bauprojekt Digitales Medienhaus, stärkte die Innenrevision, legte die drohende Millionenlücke offen und schob einen 49-Millionen-Euro-Sparplan samt Stellenabbau an. Sie legte in den Landtagen von Brandenburg und Berlin Rechenschaft ab und kündigte Geschäftsleitungsmitgliedern. All das brachte ihr Respekt ein."
Was auffällt, ist die Einhelligkeit der positiven Kommentierung in den ernstzunehmenden Zeitungen, obwohl die sich in Sachen ÖRR-Berichterstattung in der Regel schon unterscheiden: Lob für die Wahl von der "FAZ", Lob von der "Welt", Lob vom "Tagesspiegel", Lob von der "SZ", vom "Manager Magazin" und von dwdl.de. Und alle heben darauf ab, dass Vernau eine Reformerin sei. Das unterstreicht noch einmal, dass der Wunsch nach einer weitreichenden ARD-Reform, die "ein großer Wurf" werden müsse ("SZ"), weit geteilt wird.
Feine bis mittelfeine Unterschiede in der Berichterstattung gibt es freilich. Neben der Darstellung als "Reformerin" gibt es auch die als "Saniererin". An der Stelle deutet sich auch Reibung an, exemplarisch ausformuliert in "FAZ" und "taz". In einem zweiten Artikel der "FAZ" von Michael Hanfeld steht, Vernau werde
"garantiert auf Widerstände treffen, vor allem bei den besitzstandswahrenden Gewerkschaften, der wahren Macht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Mit kaum bezahlbaren Tarifabschlüssen und Betriebsvereinbarungen haben sie dafür gesorgt, dass die Sender an der zu zahlenden Altersversorgung ihrer Festangestellten verzweifeln."
Während in der "taz" der Medienjournalist, aber auch Gewerkschafter Steffen Grimberg schreibt, Vernau sei "zugewandt, mitarbeiter*innenorientiert und im Vergleich zu den üblichen Alphamenschen auf solchen Posten auf eine sehr angenehme Art uneitel". Aber:
"Natürlich ist sie eine knallharte Verhandlerin. (Transparenzhinweis: Meine Kolleg*innen im DJV, die beim RBB und jetzt wieder beim WDR mit ihr Tarifverträge ausfechten, können mehr als nur ein Lied davon singen.)"
Joe Biden
Das Alter von Joe Biden wird seit Monaten in Medien thematisiert. Thematisiert wird auch die Thematisierung durch rechte Medien in den USA und durch Medienschaffende, die sich aber von einer rechten Agenda treiben ließen (zuletzt in diesem Altpapier). Eine sich fast selbst beantwortende Frage dabei war: Handelt es sich um eine rechte Strategie, um einen Präsidenten unmöglich zu machen, ohne sich dabei um seine tatsächliche politische Bilanz zu scheren? Stefan Niggemeier meint, das sei "offensichtlich". Er schrieb bei "Übermedien" (frei lesbar) am Tag nach der TV-Debatte zwischen Biden und Donald Trump:
"Rechte Medien zeichneten (…) ohne Unterlass ein so vernichtendes Bild vom körperlichen und geistigen Zustand des Präsidenten, dass sie kurz vor der gestrigen Debatte die Notbremse ziehen mussten: Sie hatten die Erwartungen an Biden so sehr gesenkt, dass schon ein mäßig guter Auftritt von ihm wie eine positive Überraschung wirken würde. Sie erzählten deshalb stattdessen absurde Geschichten davon, dass Biden vorher wach, fit und klug gespritzt würde, und forderten einen Drogentest."
Nach der Debatte, in der Biden nach allgemeiner Einschätzung gar nicht gut aussah, gibt es nun aber aktualisierte Lesarten. Michael Hanfeld kommentiert in der "FAZ" die Berichterstattung über Bidens vermeintliche Senilität: "Es handelt sich nicht um eine 'rechte' Erzählung und auch nicht um eine Verschwörung einseitig berichtender Medien." Das würde ich nicht unterschreiben. Natürlich steckt politisches Kalkül hinter der unentwegten Darstellung Bidens als seniler Tropf. Es ist eine rechte Kampagne.
Die Frage, die Niggemeier stellt, ist etwas anders gelagert. Er richtet den Blick nun lieber auf die linksliberalen Medien. Seine Frage ist nicht: Haben auch sie zu viel über Bidens Alter berichtet? Sondern: Haben sie zu wenig darüber berichtet? Haben sie, weil sie der offensichtlichen rechten Kampagne nicht auf den Leim gehen wollten, sich nicht getraut, "früh und laut genug die heikle Frage zu stellen, ob Joe Biden wirklich noch fit genug ist, um für weitere vier Jahre Präsident der Vereinigten Staaten zu sein"?
Er schreibt:
"Journalisten, die in diesem Sinne und mit diesem Anspruch ihre Arbeit machen, stehen Aktivisten und Ideologen gegenüber, die bereit sind, jede potentielle Munition für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und dabei zu übertreiben und zu verzerren. Die Kampagne, die systematisch daran arbeitete, Biden als senilen Greis darzustellen, war ja real und getrieben von parteiischem Kalkül. Und sie arbeitete tatsächlich mit Falschdarstellungen, mit irreführenden Ausschnitten von Bidens Auftritten, die aus einer vielleicht etwas ungelenk wirkenden Situation einen irrwitzig wirkenden und deshalb viral gehenden Aufreger machten. (…) Es ist richtig und notwendig, dass Journalisten diesen Verdrehungen widersprechen. Aber es ist auch wichtig, es beim Kampf gegen die Übertreibungen nicht zu übertreiben."
Er plädiert dafür, souveräne Entscheidungen über die eigene Themensetzung zu treffen und sich nicht von jenen zu sehr beeinflussen zu lassen, denen man nicht "in die Hände spielen" wolle. In dem Spannungsfeld, das Niggemeier hier beschreibt, bewegt sich der Journalismus verstärkt seit dem ersten Präsidentschaftswahlkampf von Donald Trump. Die eine große Superlösung für das Dilemma wird es nicht geben. Umso wichtiger ist die innerjournalistische Debatte.
Altpapierkorb (Grimme-Online-Award, Assange-Deal, SWR-"Lesenswert", Fußballfernsehen)
+++ Der Grimme-Online-Award kann in diesem Jahr doch noch vergeben werden, meldet u.a. epd Medien. Weil sich das Grimme-Institut in einer finanziell schwierigen Lage befindet, war zuletzt eigentlich vorgesehen gewesen, auf den Preis für ein Jahr zu verzichten. (Für die Transparenz: Ich bin Mitglied einer Auswahlgruppe, die einen anderen Preis des Grimme-Instituts vergibt.)
+++ Dass Julian Assange frei ist, sorgte am Wochenende für Nachbetrachtungen. Hervorhebenswert ist die Analyse und Rekonstruktion der vorangegangenen Verhandlungen im "Spiegel" (Abo), der unter den Partnermedien von Wikileaks gewesen ist. Er sieht den Deal auch kritisch: "Mit dem Deal haben die USA einen Präzedenzfall geschaffen. Erstmals wurde ein Publizist, der weder US-Staatsbürger ist, noch in den USA aktiv war, nach dem Espionage Act bestraft. Geahndet wird auch die bloße Entgegennahme und Veröffentlichung von geheimen Dokumenten – also etwas, was investigative Journalisten ständig tun, wenn es im öffentlichen Interesse ist. Der Fall Assange soll abschrecken. Reporter wissen nun, wie weit selbst eine demokratische Regierung in Washington geht, wenn ihre dunkelsten Geheimnisse enthüllt werden. Autokraten in aller Welt können sich künftig darauf berufen, wenn sie missliebige Journalisten und Aktivisten verfolgen. Das ist die Schattenseite dieses Deals. Seine Folgen für die Arbeit von Journalisten sind noch nicht abzusehen."
+++ Die Sparmaßnahmen des SWR waren hier kürzlich schon Thema (Altpapier und Altpapier zum Sparen speziell an der Literaturkritik). Auch die "Welt" hat sich noch einmal kritisch über die Einstellung der Literatursendung "Lesenswert" gebeugt: "Mit den frei werdenden Mitteln aus 'Lesenswert' sollen andere Formate entstehen, teilte der Sender am Montag mit – und verwies auf die seit Frühjahr bestehende Sendung 'Longreads' mit Autorin Helene Hegemann. (…) Der öffentlich-rechtliche Rundfunk spart am Bildungsauftrag, um sich besser um seinen Selbsterhalt zu kümmern. In kruder Alternativlogik heißt es dann: Entweder Scheck oder Hegemann, entweder 'Lesenswert' oder 'Longread'." Wo man doch, rein theoretisch, auch beides machen könnte.
+++ Allerhand Betrachtungen des Fernsehgeschehens rund um die Fußballeuropameisterschaft. Lesenswert: Holger Gertz holt in der "SZ" (Abo) groß aus. Und im "Spiegel" (Abo) schaut sich Andreas Bernard zwei Kommentatoren-Konstellationen genau an: das Trio Kramer-Mertesacker-Breyer im ZDF und Schweinsteiger-Sedlaczek in der ARD. Und die "Allianz von linearem Fernsehen und Social-Media-Vernetzung", die beide Teams erkennen ließen.
Am Dienstag schreibt das Altpapier Christian Bartels.