Kolumne: Das Altpapier am 28. Juni 2024: Porträt der Altpapier-Autorin Johanna Bernklau.
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Kolumne: Das Altpapier am 28. Juni 2024 Social Media für Dummies

28. Juni 2024, 11:48 Uhr

Social-Media-Trends werden nicht nur zur EM verstärkt auch in journalistischen Medien behandelt. Warum das erstmal komisch, manchmal lustig und in den meisten Fällen wenig sinnvoll ist. Heute kommentiert Johanna Bernklau die Medienberichterstattung.

Porträt der Altpapier-Autorin Johanna Bernklau
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Trendberichterstattung ist doch kein Verbrechen

Wenn Sie direkt einen Ohrwurm bekommen, sobald Sie das Wort "Pyrotechnik" lesen, dann herzlichen Glückwunsch: Sie haben Social Media durchgespielt und werden diesem Text (hoffentlich) einen Schmunzler abgewinnen können.

Falls Sie die Zeile "Pyyyrooteeeechnik – ist doch kein Verbrechen" allerdings nur aus diesem "FAZ"-Artikel kennen oder diesem "Stern"-Kommentar oder diesem "Spiegel"-Text oder dieser "taz"-Meldung, dann geht es in dieser Kolumne auch ein bisschen um Sie.

Aber der Reihe nach: Soziale Plattformen wie TikTok oder Instagram bestehen zu einem Großteil aus Trends. Viele davon sind seltsam, stumpfsinnig, andere sind witzig, unterhaltsam, einzelne sind gesellschaftlich relevant und müssen eingeordnet werden. Gemeinsam schweben sie für eine Zeit lang in der Social-Media-Blase und manchmal schaffen sie es sogar hinaus in die journalistische Medienlandschaft. Das macht allerdings nur in den wenigsten Fällen wirklich Sinn.

Denn es ist immer ein wenig komisch, wenn journalistische Medien Social-Media-Trends in einem Artikel aufgreifen und dann in umständlichen Worten das erklären, was man sich in 20 Sekunden auch einfach in einem Video anschauen könnte. Zum Beispiel das Kartoffel-Ranking von Florian Wirtz, um mal beim EM-Thema zu bleiben.

Mit dem Satz "Normale Kartoffeln? Hm. Ich würd sogar sagen, auf die Eins" ist Wirtz "viral gegangen", wie es so schön heißt. Warum? Weil es witzig ist, stinklangweilige Kartoffeln so toll zu finden, dass man sie in einem Kartoffel-Produkte-Ranking vor Pommes oder Chips einordnet. Und, weil deutsche Menschen ohne Migrationshintergrund manchmal ironisch als "Kartoffeln" bezeichnet werden. Was macht die "Rheinische Post" aus dem viralen Wirtz-Video? Eine äußerst ungelenke Beschreibung:

"In der Internet-Gemeinde, deren Sinn für Humor sich nicht jedem erschließt, kursiert seit Längerem ein Videoformat, bei dem im Selfie-Modus verschiedene Kartoffelgerichte über dem Kopf der jeweiligen Nutzerin oder des Nutzers eingeblendet werden. Diese müssen dann – je nach Vorliebe – die Beispiele auf einer Skala von eins bis zehn einsortieren. Irgendjemand beim DFB kam auf die Idee: Da machen wir mit. […] Es traf Florian Wirtz. Man sieht ihn etwas verlegen, zweifelnd, was der Quatsch soll, seine Wahl treffen. Aber weder Pommes, noch Chips, keine Smileys aus Kartoffeln, nicht das Gratin oder Püree daraus sind für den 21-Jährigen die Nummer eins. Nein, es sind ganz normale gekochte Kartoffeln. Und das sagt er dann auch ganz ungekünstelt: 'Normale Kartoffeln – ich würde sogar sagen: auf die eins.'"

Um alleine diesen Teil des Artikels zu lesen, brauche ich knapp 30 Sekunden. Hätte ich das Video gesehen, hätte ich den Gag nach 20 Sekunden verstanden. Man kann sich also auch fragen, wie sinnvoll es ist, einen Videotrend in einem schriftlichen Text aufzugreifen.

Doch die Zeitverschwendung ist nicht der einzige Punkt: Nach der Videobeschreibung driftet der Autor der "Rheinischen Post" in eine für mich nicht nachvollziehbare Erklärung ab, nämlich "was das Kartoffel-Video von Florian Wirtz wirklich aussagt" (so lautet die Überschrift des Textes). Die Fallhöhe ist also groß; die Erkenntnis nicht so sehr:

"Anders als selbst Olaf Scholz oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP zählt Wirtz nicht einmal Chips beim Kartoffel-Ranking zu seinen Top Drei. Das kann schon mal unangebrachten Spott bei jenen hervorrufen, die Nachrichten im Netz, um im Bild zu bleiben, am liebsten nur noch knusprig aufbereitet konsumieren und nicht mehr unverfälscht als normale Kartoffeln."

Auf den Trend ist auch die "Süddeutsche" in ihren "Favoriten der Woche" eingegangen – allerdings mit deutlich mehr Witz. Fairerweise muss man dazu sagen, dass die "Süddeutsche" aber auch einfach schon mehr Übung darin hat: Ein Essenstrend geht auf TikTok viral? Die "SZ" schreibt darüber. Füchse in einer Autowerkstatt gehen auf TikTok viral? Die "SZ" schreibt darüber. Indische Taxifahrer gehen mit einem eigenen EM-Song auf TikTok (und Twitter) viral? Die "SZ" (und ganz viele andere Medien) schreiben darüber.

Viral bedeutet nicht automatisch: relevant

Dabei stellt sich die Frage, für welche Zielgruppe diese Artikel eigentlich geschrieben werden. Diejenigen, die selbst auf TikTok unterwegs sind, brauchen keine Erklärung von Internetphänomenen, von denen sie selbst Teil sind. Und diejenigen, die nicht auf TikTok unterwegs sind, interessieren sich doch nicht ernsthaft für aus dem Kontext gerissene Kartoffel-Videos oder Erklärbär-Stücke, was es eigentlich mit den "hot rodent men", den "heißen Nagetier-Männern" wie Julian Nagelsmann oder Timothée Chalamet auf sich hat.

Die "taz" wiederum hat den Dreh beim "hot rodent men"-Trend verstanden und sich einen besonderen Spaß für diejenigen ausgedacht, die schon wissen, dass die klassischen männlichen Schönheitsideale auf TikTok Schnee von gestern sind: In einem blödsinnigen Selbsttest "Mann oder Maus?" hat die "taz" den Trend in seiner eigenen Blödsinnigkeit unterstützt und damit genau die Energie von TikTok getroffen. Ob der Artikel deswegen eine journalistische Daseinsberechtigung hat – darüber sollte man streiten.

Andere Texte wirken dann wie der Pseudo-Beweis: Schaut mal, so doof ist die "Gen Z", das findet sie gerade witzig, das ist gerade angesagt. Wieder die "Rheinische Post": "Warum 'Mäuse-Männer' das neue Sexsymbol der Gen-Z sind". Denn ein TikTok-Trend muss ja sofort die gesamte Gen Z betreffen, ist doch ganz klar.

Mit jedem TikTok-Trend, über den Medien wie "Spiegel", "SZ" oder "Rheinische Post" berichten, berichten sie zwar einerseits über Internetkultur, was erstmal plausibel klingen mag. Andererseits ist nicht jedes Video relevant, nur weil es hunderttausende Aufrufe hat. Die Berichterstattung darüber bedeutet dann vermutlich vor allem, dass sich diese Medienhäuser eine ähnlich hohe Anzahl an Aufrufen für ihre eigenen Artikel erhoffen. Für wen auch immer sie die schreiben.

Bei manchen Trends ist es wiederum verständlich, wenn sie journalistisch aufgegriffen werden – eben, weil deren Hintergrund zumindest gesellschaftlich relevant ist. Wie bei einer Straßenumfrage, bei der sieben von acht befragten Frauen nachts alleine im Wald lieber einen Bären als einen Mann antreffen würden. Die "SZ" nutzt diesen Aufhänger für genau das: Einen Aufhänger zu einer tiefergehenden Berichterstattung über die Sicherheit von Frauen.

Oder der Trend #AllEyesOnRafah, bei dem ein KI-generiertes Bild, das eine angebliche Zeltstadt im Süden Gazas zeigen soll, millionenfach auf Instagram geteilt wurde – offenbar ohne das Wissen, wo es eigentlich herkam. Der "Spiegel" berichtete darüber und verfolgte das Trend-Bild zu dessen Ursprungs-Account zurück, der dort auch antisemitische Beiträge postete.

Mit der wachsenden Bedeutung von Plattformen wie TikTok wird es wichtiger, dass Medienhäuser nicht nur an der Oberfläche der Trends kratzen, sondern sie zum Anlass nehmen, deren gesellschaftlichen Hintergrund zu beleuchten. Vorausgesetzt, den gibt es. Und ja, manchmal darf es auch einfach nur witzig und vielleicht ein bisschen blödsinnig sein. So wie TikTok eben auch ist.

Altpapierkorb (Neue WDR-Intendantin, "Zeit", "Arte", "Hart aber fair", BDZV und Springer)

+++ Kathrin Vernau, ehemalige Interims-Intendantin des rbb und WDR-Verwaltungsdirektorin, wird ab Januar 2025 die Nachfolge von Tom Buhrow im WDR antreten. In der Stichwahl setzte sie sich mit 36 zu 19 Stimmen klar gegen Helge Fuhst durch. Für ihre Amtszeit hat sie sich in ihrer Bewerbungsrede ein Acht-Punkte-Programm gesetzt, laut dem sie unter anderem die Regionalität im WDR stärken möchte (siehe dwdl.de). Ist damit "die Zeit der Alpha-Journalisten in ARD-Leitungspositionen vorbei?" fragt der "Spiegel" und stellt fest, dass eine "ruhmreiche journalistische Vergangenheit" für den Rundfunkrat offensichtlich nicht so wichtig war wie eine strukturelle Neuausrichtung und Reformfähigkeit, die Vernau stattdessen in den WDR bringen soll.

+++ Wer den Politik-Teil der neuen "Zeit" schon durchgeblättert hat, der musste auf Seite 6 hoffentlich auch mindestens kurz stutzen: Sehr prominent wird dort ein "Vordenker der Neuen Rechten" inszeniert – deutliche und ausführliche Kritik daran hat Daniel Scheuerer auf Bluesky formuliert, der sich in seinem Studium mit Rechtsextremismus und Rassismus in journalistischen Medien befasst hat.

+++ Wie sehr der französische Teil von "Arte" um seine Finanzierung zittern muss, hat Claudia Tieschky für die "SZ" aufgeschrieben. Die eigentlich tollen Ankündigungen Macrons, Arte zu einer neuen europäischen Plattform auszubauen, rücken vor den Neuwahlen des französischen Parlaments in den Hintergrund.

+++ Über die ungewisse Zukunft von "Hart aber fair" hat Volker Nünning für die verdi-Zeitschrift "Menschen Machen Medien" geschrieben.

+++ Der Axel-Springer-Verlag zieht sich laut Recherchen von "Medieninsider" aus dem Verlegerverband BDZV zurück.

Das Altpapier am Montag schreibt Klaus Raab. Schönes Wochenende!

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