Kolumne: Das Altpapier am 27. Juni 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann.
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Kolumne: Das Altpapier am 27. Juni 2024 Das Prinzip selber

27. Juni 2024, 11:33 Uhr

Russland sperrt westliche Medien aus und beginnt den Scheinprozess gegen Evan Gershkovich. Das alles ist Teil von Propaganda. Das Prinzip dahinter: falsche Äquivalenz. Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Russland – Österreich 2:2

Russland hat über 80 Nachrichtenportale von europäischen Medien gesperrt, aus Deutschland unter anderem "Spiegel", "Zeit" und "Frankfurter Allgemeine Zeitung", berichtet unter anderem der "Spiegel", der über VPN aber weiter erreichbar ist. Laut dem russischen Außenministerium ist die Sperrung eine Retourkutsche – das haben sie so natürlich nicht gesagt – für Sanktionen der Europäischen Union, die zwei Zeitungen, einer Nachrichtenagentur und einer weiteren Propagandaschleuder den Stecker gezogen hatte.

Die Gelegenheit scheint gleichzeitig aber auch günstig zu sein, denn dazu nennt eine Ministeriumssprecherin auch einen inhaltlichen Grund – nämlich, dass die gesperrten Medien systematisch unzutreffende Informationen über die militärischen Spezialoperationen verbreiteten, sagt der Deutschlandfunk-Russland-Korrespondent Florian Kellermann im Gespräch mit dem Medienmagazin "@mediasres". Er schiebt noch hinterher: Spezialoperation, das sei der russische Krieg gegen die Ukraine. Und genau so etwas meinte die Sprecherin des Außenministeriums wahrscheinlich. Möglich also, dass bald noch ein viertes deutsches Medium auf der Liste steht.

Der Schritt soll öffentlich den Anschein erwecken, als würde Russland sich wehren. Aus der gleichen Opferpose heraus begründet Putin zu Hause ja auch den Krieg, Entschuldigung, die Spezialoperation. Gestern Mittag meldete der österreichische ORF, dass der Leiterin seines Moskau-Büros, Carola Schneider, die Akkreditierung entzogen worden sei und man sie aufgefordert habe, das Land zu verlassen. Auch das hatte eine Vorgeschichte. Wien hatte Ende April zwei Mitarbeitern der russischen Nachrichtenagentur Tass die Akkreditierung entzogen, aufgrund "einer negativen Sicherheitseinschätzung", wie dpa berichtete. Übersetzen könnte man das mit: Spionageverdacht.

Den Verdacht hatte im März die österreichische Wochenzeitung "Der Falter" formuliert, die aus einem anonymen Dossier zitierte, in dem stand, Tass-Mitarbeiter würden "unter journalistischer Deckung" die politische Szene Österreichs auskundschaften. Daraufhin hatte Moskau auf eine ORF-Mitarbeiterin das gleiche Verfahren angewendet, wie vor zwei Wochen unter anderem die "Tagesschau" berichtete.

Am Montag setzte Wien die zwei Wochen alte Ankündigung dann offenbar um. Der Leiter des Wiener Tass-Büros sei aufgefordert worden, binnen zwei Wochen das Land zu verlassen, teilte Moskau laut "Spiegel" mit. So traf es dann eben Carola Schneider. Aus fußballerischer Perspektive steht es damit 2:2. Und so stehen sich Österreich und Russland zumindest dem Anschein ungefähr auf Augenhöhe gegenüber.

Die mediale Geschichte ist: Zwei Länder beharken sich. Und wenn das lange so weitergeht, verlieren die Leute irgendwann den Überblick und denken: Die anderen werden wohl auch irgendwas gemacht haben. Man bekommt Zweifel. Und das ist ein wichtiger Zweck dieser Inszenierungen, die auf den ersten Blick so durchsichtig erscheinen. Sie erwecken den Eindruck einer Äquivalenz, die es tatsächlich nicht gibt.

Kann man das einen Prozess nennen?

Diese Verdrehung ist allgegenwärtig in Russlands Propaganda. In Jekaterinburg beginnt gegen den "Wall Street Journal"-Korrespondenten Evan Gershkovich nun das, was Russland einen Prozess nennt, wie unter anderem der "Spiegel" berichtet. Es soll der Anschein entstehen, Russland habe einen Spion identifiziert und wehre sich dagegen nun juristisch. Erstes Ergebnis: Der "Prozess" wurde vertagt.

In Wirklichkeit hat Russland hier eine Geisel genommen, die sie dem Anschein nach gegen einen in Deutschland rechtmäßig verurteilten Mörder eintauschen möchte. In der Interview-Inszenierung mit dem Journalisten-Darsteller Tucker Carlson hatte Putin angedeutet, wie der "Spiegel" noch einmal bemerkt, dass er Gershkovich gegen Vadim Krassikow eintauschen möchte, der tatsächlich ein Agent ist und der nach einem Auftragsmord im Berliner Tiergarten gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt worden war.

Auch hier geht es also offenbar darum, eine Äquivalenz herzustellen, die in Wirklichkeit so nicht existiert. Man möchte jemanden eintauschen, der als Agent enttarnt und verurteilt ist. Also braucht man jemanden mit gleichwertigen Eigenschaften. Und wenn man so eine Person nicht hat, dann muss man sie eben erschaffen, durch einen erfundenen Vorwurf und ein inszeniertes Verfahren.

Benedikt Schulz hat für "@mediasres" mit dem "Wall Street Journal"-Deutschlandkorrespondenten Bojan Pancevski gesprochen, der über seinen Kollegen und das Verfahren sagt:

"Der ist zu Unrecht verhaftet worden, der ist zu Unrecht inhaftiert worden, der steht zu Unrecht vor Gericht. Das darf man sich nicht als einen echten Prozess vorstellen. Der ist natürlich kein Spion, der hat natürlich nie im Leben Spionage betrieben. Der hat noch nie im Leben für die Regierung der Vereinigten Staaten gearbeitet. Der war sauber akkreditiert bei der russischen Regierung, und der hat seinen Job als Korrespondent gemacht. Natürlich als Korrespondent frei zu berichten in Russland grenzt an Unrecht, also an Spionage wegen des Systems."

Und damit sind wir wieder am Anfang. In einem System, in dem Wahrheit das ist, was der Staat vorgibt, muss die wirkliche Wahrheit nach diesem verdrehten Verständnis so etwas wie Verleumdung sein. Tatsächlich ist es aber vermutlich schon ein Fehler, zu versuchen, sich da überhaupt reinzudenken, denn, sprechen wir es aus: Es ist einfach Manipulation.

Pancevski sagt:

"Die Aussagen des Gerichts und der Behörden muss man überhaupt nicht ernst nehmen."

Und er sagt noch etwas, das wir aus anderen Zusammenhängen kennen, und das aus Mediensicht interessant ist:

"Man soll, glaube ich, auch nicht wiederholen, diese Anschuldigungen sind ja vollkommen absurd."

Die Frage ist: Müssen Medien sie trotzdem nennen, um auch die andere Seite zu zeigen? Oder können sie auf offenkundige Lügen nicht einfach verzichten? In Donald Trumps Zeit als US-Präsident stellte sich ein ähnliches Problem. Auch da wiederholten Medien immer wieder offenkundige Lügen, weil hier ja im Grunde zwei Personen sprachen, die sich kaum in Einklang bringen ließen: der notorische Lügner Donald Trump und der demokratisch gewählte Präsident der Vereinigten Staaten, dessen Aussagen schon von Amts wegen eine gewisse Bedeutung haben.

Russland ist eine Diktatur, die sich einen demokratischen Anschein gibt. Für Medien ist die Frage: Bis zu welchem Grad spielen sie da mit? Es fängt schon da an, wo es um die Benennung von Putin in den Nachrichten geht. Ist er Präsident? Er hat sich ja schließlich wählen lassen? Aber kann man das wirklich Wahlen nennen? Andererseits: Muss ein Präsident sich überhaupt wählen lassen? Oder wäre es angemessen, ihn einen Diktator zu nennen?

Bei Berichten über den russischen Angriffskrieg hat sich inzwischen etabliert, dass Redaktionen am Ende noch den Hinweis anfügen: Die Informationen aus dem Kriegsgebiet können nicht unabhängig überprüft werden.

Wie macht man es also mit den russischen Gerichtsberichten? Nennt man sie gleich "Scheinprozess"? Ist das eine Wertung, die in Nachrichten nichts zu suchen hat? Oder wäre es im Gegenteil eine falsche Beschreibung, bei den zur Verfügung stehenden Informationen von einem "Prozess" zu sprechen? Oder ist auch ein absurder Prozess ein Prozess? Im Titel von Kafkas Buch stehen ja schließlich auch keine Anführungsstriche.

Ist Verfolgung ein Trend?

Es geht hier natürlich nicht nur darum, auf komplizierte Weise ein Tauschobjekt herzustellen. Natürlich gewinnt diese Tauschware, als die man Gershkovich hier sehen muss, durch die Medienaufmerksamkeit an Wert. Ein wichtiger Effekt ist aber auch die Signalwirkung, über die im anderen prominenten Gerichtsfall ebenfalls gesprochen wird, mit dem Medien sich in dieser Woche beschäftigen, dem von Julian Assange (Altpapier gestern).

Verurteile einen, verängstige alle. Das ist das Grundprinzip, nach dem in etwas anderer Weise auch Terroranschläge funktionieren. Mit jedem weiteren Bericht über die absurden Vorwürfe gegen Gershkovich verbreitet sich also die ohnehin schon bekannte Gewissheit: Journalismus in Russland ist gefährlich.

Aber wir wissen von Steve Bannon und von Napoleon: Das einzig wirksame rhetorische Stilmittel ist die Wiederholung. Wobei es natürlich sein kann, dass Napoleon das so nie gesagt hat. Aber dann wäre das Zitat selbst der beste Beweis.

Im Fall von Julian Assange hatte die Botschaft, dass Investigativjournalismus auch in demokratischen Staaten gefährlich ist, 14 Jahre lang Zeit, sich zu verbreiten. Katharina Weiß von der Organisation "Reporter ohne Grenzen" sagt im Interview mit Christian Jakob für die taz auf die Frage, ob der Fall für einen allgemeinen Trend hin zu einer verstärkten Verfolgung von Journalisten steht:

"Auf der einen Seite gibt es den neuen European Media Freedom Act, der die Rechte von Medienschaffenden jüngst gestärkt hat. Andererseits gibt es Entwicklungen wie in der Slowakei, wo die Regierung den als unbequem empfundenen öffentlich-rechtlichen Rundfunk abwickeln will, oder wie in Italien, wo die Regierung von Giorgia Meloni den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf Regierungslinie zu bringen versucht. Das ist in der Tat ein Kennzeichen unserer Zeit. In der EU ist man dabei noch sehr privilegiert. Es leben nur noch ein Prozent aller Menschen in Ländern, in denen die Pressefreiheit uneingeschränkt als solide geschützt gelten kann."

Zur weiterhin nicht eindeutig beantworteten Frage, wie es dazu kam, dass Assange nach den Vorstellungen der USA bis zu 175 Jahre Haft drohten, man sich aber nun mit fünf bereits abgesessenen Jahren zufrieden gibt, sagte der frühere Wikileaks-Sprecher Daniel Domscheit-Berg schon am Dienstag im Interview mit Bettina Köster für "@mediasres":

"Ich könnte vermuten, dass es vielleicht damit zu tun hat, dass sehr viele der Vorwürfe, die man gegen ihn vorbringen wollte, vor dem First Amendment, also der Pressegesetzgebung in den USA, die die Pressefreiheit regelt, keinen Bestand gehabt hätten."

Und das könnte wiederum darauf hindeuten, dass die Signalwirkung wichtiger war als das Bemühen, eine den Vorwürfen angemessene Strafe durchzusetzen. Möglicherweise war man aber auch einfach froh, ein unangenehmes Problem so auf gesichtswahrende Weise loszuwerden. Das grundsätzliche Problem, dass hier jemand 14 Jahre lang im Gefängnis saß, weil er Kriegsverbrechen öffentlich gemacht hat, für die niemand verurteilt wurde, ist allerdings weiterhin nicht gelöst.

Altpapierkorb (WDR wählt Intendanz, Antisemitismus, KI-Gefahren, Zustellförderung, IVW, öffentlich-rechtliche Sender in Frankreich in Gefahr)

+++ Der WDR wählt heute ab 13 Uhr seinen neuen Tom Buhrow. Im Rennen sind, das stand hier schon: Katrin Vernau, Jörg Schönenborn, Helge Fuhst und Elmar Theveßen. Michael Hanfeld berichtet auf der FAZ-Medienseite über die bevorstehende Wahl, Christian Meier schreibt für die "Welt" darüber. Einig sind sich beide immerhin darin, dass Elmar Theveßen nur Außenseiterchancen hat. Meier bewertet vor allem die Reformbereitschaft der Kandidaten. Die größte sieht er bei Vernau und Fuhst. Schönenborn habe den Vorteil, dass er den Sender sehr gut kenne. Er stehe allerdings eher für Kontinuität. Hanfeld bemerkt, dass im Falle der Wahl von Schönenborn oder Vernau auch deren bisherige Stellen, Programmdirektor und Verwaltungsdirektorin, neu besetzt werden müssten. Das Rennen sei aber offen.

+++ Die antisemitische Stimmung habe auch Deutschland erfasst, schreibt Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite. Laut dem Bundesverband der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus gab es 2023 in Deutschland 4782 antisemitische Vorfälle, 80 Prozent mehr als im Vorjahr. In sozialen Netzwerken verbreitete Inhalte heizten die Stimmung auf. Ende Mai habe sich etwa auf Instagram ein Bild mit dem Slogan "All Eyes on Rafah" verbreitet – offensichtlich ein von einer Künstlichen Intelligenz generierter Fake. Ein israelfreundliches Gegenbild sei von Instagram gelöscht worden.

+++ Der Medienwissenschaftler Stephan Weichert warnt in einem Artikel für das DJV-Magazin "Journalist" vor den Gefahren der Künstlichen Intelligenz für den Journalismus. Weichert: "Seit rund 2000 Jahren arbeitet sich der Journalismus an Gerüchten und Unwahrheiten ab, er kämpft gegen ingierte Informationen: Fakten nicht schaffen, sondern recherchieren; Realität nicht verfälschen, sondern so objektiv wie möglich abbilden; Ereignisse nicht erfinden, sondern tatsachenbasiert erzählen. Durch den KI-erzeugten Augentäuscheffekt siegt die Künstlichkeit über die Authentizität, weil beides plötzlich austauschbar erscheint."

+++ Schlechter Tag für die Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern, kurz IVW: Nachdem Medienmarken wie die RTL sich schon abgewendet haben, ziehen sich nun auch der "Spiegel" und "Bauer Media" teilweise zurück, berichten Gregori Lipinski und Jens Schröder für "Meedia".

+++ Die rechtsextreme französische Partei Rassemblement National will den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Frankreich im Falle eines Wahlsiegs zerschlagen, berichtet Marc Zitzmann auf der FAZ-Medienseite. Die Gründe sind ähnlich wie überall in Europa. "Ziel ist namentlich, den Fernsehkanälen France 2 und France 5 sowie den Radiosendern France Inter und France Culture ihren angeblichen linken Ungeist auszutreiben", schreibt Zitzmann.

Das Altpapier am Freitag schreibt Johanna Bernklau.

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