Kolumne: Das Altpapier am 24. Juni 2024 Kurioser Wirbel um absurden Zoff
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24. Juni 2024, 09:54 Uhr
"Tor-Zoff", "Experten-Zoff", "Elfmeter-Zoff": Teile des Journalismus machen alles zum Streit – das darf aber als umstritten gelten. Was am Onlinejournalismus sonst noch kaputt ist. Und: Was sich die Rundfunkkommission für die Öffentlich-Rechtlichen vorstellt. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Übermedien wütet: Clickbait-Zoff mit Focus Online
Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" wird in diesem Jahr aller Voraussicht nach kein DFB-Trikot mit einem zusätzlichem Stern ganzseitig auf den Titel nehmen, wie vor dem Weltmeisterschaftsfinale 2014. Die Sterne stehen für gewonnene WM-Titel, und um so einen geht’s bei der Europameisterschaft ja nicht. Aber im Fußballfieber ist die "FAS" so langsam schon. Nach dem Schlandkettentitel mit der Zeile "Vielleicht ein neues Sommermärchen" vor zwei Wochen lesen wir nun, weiß auf Pink: "Auf ins Achtelfinale!". Das kann man machen. Unsere Jungs, und so weiter! Mir wär’s zu nah an den euphorischen Storys, die die Fußballverbände erzählen. Aber in der ARD glaubte man im Vorfeld der Europameisterschaft ja auch hartnäckig, über ein "Sommermärchen" diskutieren zu müssen.
Was kann man sagen nach zehn Tagen Fußballturnier? Wenn man den Medien glaubt, die aus einer Fußballeuropameisterschaft vor allem die größtmögliche Aufmerksamkeit für sich herauspressen wollen: Dann ist es eine von Bitterkeit und Streitigkeiten überlagerte Veranstaltung. Überall ist Zoff: Experten-Zoff, Elfmeter-Zoff, Schiedsrichter-Zoff, Playstation-Zoff, Zoff im EM-Studio, Pyro-Zoff. Selbst die Tore sind Zoff, und hinterher wird es dann erst "richtig absurd", denn dann beginnt ja erst der "Wirbel um".
Ein Motor des Überdrehtheitkabinetts und Durchlauferhitzer-Journalismus ist Focus Online: Bastian Schweinsteiger hat nach einer Schiedsrichterentscheidung "gewütet". Ganz frisch "tobt" der Bundestrainer. Der Fußballmoderator Jochen Breyer hat live im ZDF Fußballern den Mund "verboten". Ein "kurioser Vorfall" jagt den nächsten. Und zwischen ARD-Moderatorin Esther Sedlaczek und Experte Schweinsteiger, die sich halt so anfrotzeln, gibt es "dicke Luft". Was soll man dazu sagen? "Ganz toll, bitte Social Media unbedingt noch mehr nachahmen!"?
Focus Online ist am Wochenende auch wieder einmal in den Fokus der Redaktion von "Übermedien" geraten, die sich aus guten Gründen häufiger dort umschaut. Chefredakteur Alexander Graf schreibt in seinem Newsletter (Abo):
"(D)as Portal aus dem Haus des ‚Internet-Pioniers‘ Hubert Burda steht für fast alles, was am digitalen Journalismus heutzutage kaputt ist. Etwa für das Abschreiben belangloser Meldungen anderer Boulevard- und Clickbait-Medien. Oder für das Zusammenkloppen lebloser Schlagwort-Texte, die allein dazu dienen, im Google-Suchergebnis ganz weit oben zu landen. Stichwort: SEO. (…) Und in dieser Woche lieferte ‚Focus Online‘ noch eine ganz neue Variante digitaler Journalismus-Dystopien."
Na?
Gespannt?
Wie ein Flitzebogen?
(Was ist das eigentlich, ein Flitzebogen?)
Bitte sehr:
Eine belanglose Zoff-Meldung einer anderen Publikation wurde von einer KI sinnlos aufgepimpt, ohne das transparent zu machen, und am Ende gab es eine Volte, die ohne jeden inhaltlichen Zusammenhang auf Kosten der Grünen ging. Alexander Graf: "Man nehme den Rumpf eines Clickbait-Viehs, ergänze die Gliedmaßen einer wildgewordenen KI und stülpe obendrauf den Kopf einer Redaktion mit tiefsitzender Grünen-Phobie."
Ich übersetze das mal in eine Sprache, die man bei Burda versteht: "Übermedien wütet: Clickbait-Zoff mit Focus Online".
(PS: "Historisch betrachtet besteht ein Flitzebogen aus einem gebogenen Stück Holz oder einem anderen flexiblen Material, das mit einer Bogensehne gespannt ist. Wenn die Sehne zurückgezogen und losgelassen wird, wird der Pfeil abgeschossen. Im Gegensatz zu modernen, komplexen Bögen ist der Flitzebogen einfach in der Konstruktion und oft selbst gemacht." – Mit Dank an ChatGPT.)
Wirbel um ÖRR-Pläne: Was die Rundfunkkommission will
Habe ich am Freitag an dieser Stelle tatsächlich geschrieben, es gebe noch keine Nachberichterstattung zum Rundfunkkommissionstreffen von vergangener Woche? Das war nach der Veröffentlichung der Freitagskolumne um 10.10 Uhr schnell überholt. Die "FAZ" hat – online veröffentlicht am Freitag um 12.57 Uhr (Abo) – die rheinland-pfälzische Medienstaatssekretärin Heike Raab interviewt, der man durchaus eine gewisse Zuständigkeit zuschreiben kann; ihr Land ist bekanntlich "seit Menschengedenken" in der Angelegenheit federführend, und daran wird sich auch die nächsten zwei Millionen Jahre nichts ändern (Altpapier vom Freitag). Was sagt Heike Raab?
(Na? Gespannt? Wie ein Flitzebogen?)
Sie sagt:
"Erstens muss der öffentlich-rechtliche Rundfunk interaktiver arbeiten und als wichtiges Momentum in der Demokratie den gesellschaftlichen Diskurs anreichern. Damit soll der Auftrag qualitativ gestärkt werden. Zweitens wollen wir den Auftrag quantitativ begrenzen. Dazu gehört beispielsweise die Zahl der Hörfunkwellen. Die Rundfunkkommission ist der Auffassung, dass hier eine deutliche Reduzierung möglich ist. Wir sehen die Notwendigkeit, lineare Spartenprogramme ins Netz zu überführen. Auch die Überzahl an Portalen, Apps, Blogs und Podcasts ist nicht zu rechtfertigen."
Das ist noch nicht in Stein gemeißelt, aber es zeigt doch wohl ungefähr ziemlich genau die Richtung an, in die es gehen soll bei einer "der größten Reformen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks der letzten Jahrzehnte", wie es Heike Raab nennt. Der Evangelische Pressedienst nennt in einem ausführlichen Text auch Zahlen: 51 oder 53 statt, wie bislang, um die 70 Radioprogramme sollen es wohl sein. Und Online-Angebote, Apps und Social-Media-Auftritte sollen begründet werden, die Stichworte seien, so steht es bei epd Medien, "Erforderlichkeit und Gebotenheit".
Auch zur künftigen ARD-Struktur sagt Raab etwas. Darum gab’s ja zuletzt sozusagen Wirbel bis Zoff (Altpapier). Ist eine ARD-Leitung gewollt oder nicht? Sie spricht nun bei der Online-"FAZ" davon, dass zu einer modernen Struktur "eine klare inhaltliche und organisatorische Federführung" gehöre. Der ARD-Staatsvertrag soll jedenfalls, heißt es bei der dpa, im Vergleich mit ZDF und Deutschlandradio am grundlegendsten verändert werden.
Die "FAZ" macht mit dem Interview freilich auch, was sie gern macht, wenn es um die Öffentlich-Rechtlichen geht: Stimmung. Diesmal mit der Headline: "Weniger Radiokanäle der ARD, dafür mehr Rundfunkbeitrag" lautet sie online (in der Samstagsdruckausgabe steht "Mehr Beitrag, weniger Radio" über einer Zusammenfassung des Interviews). Muss man den direkten Zusammenhang verstehen? Ist "weniger Radio" nicht eher ein noch nicht festgezurrtes Zukunftsprojekt, während die exakte Höhe des vorgesehenen künftigen Rundfunkbeitrags bereits im November nachzulesen war?
Sagen wir’s mit der erforderlichen Gebotenheit: "Kurioser Vorfall – Headline sorgt für Verwunderung pur!"
Altpapierkorb (Smartphone-Zoff, Drosten-Mascolo-Zoff, WDR-Zoff, "WaPo"-Zoff, Talkshow-Zoff, Horse-race-Zoff)
+++ Zoff um Smartphones: Sind sie Henne, sind sie Ei? Kommen Teenager zum Beispiel schlecht drauf, wenn sie Social Media nutzen? Oder nutzen sie Social Media, wenn sie schlecht drauf sind? Jonathan Haidts Buch ist der neueste Beitrag zur Debatte, und seine These ist, so fasst es Johannes Kuhn in seinem Substack-Newsletter zusammen: "Die Ängste und psychischen Belastungen der heranwachsenden Generation hängen direkt mit der Allgegenwärtigkeit von Smartphones zusammen." Das ist umstritten; Korrelationen gibt es. Ob es aber auch kausale Zusammenhänge gibt, ist nicht geklärt. Kuhn schreibt in dieser wissenschaftlich unübersichtlichen Lage etwas nicht Unkluges: "Diese beiden Lager (‚Wirmüssenhandeln‘ und ‚Wirwissenzuwenig‘) stehen sich schon länger gegenüber. Ich habe allerdings den Eindruck, dass sich die Erfahrungswerte der Bevölkerung verändert haben: Fast alle Eltern können inzwischen etwas darüber erzählen, wie sich Aufmerksamkeit und Verhalten ihrer Kinder durch Smartphones verändert, wie sie teilweise Symptome von Abhängigkeit zeigen, gerade, wenn ihnen das Gerät entzogen wird. Es fühlt sich deshalb richtig an, was Haidt beschreibt." Es bleibt also dabei: Man muss differenzieren. Aber das gilt auch für die sehr grundsätzliche Netzapologetik, die ihre beste Zeit längst hinter sich hat.
+++ Der ehemalige "Spiegel"-Chefredakteur Georg Mascolo und der Virologe Christian Drosten haben dem "Spiegel" (Abo) ein Interview gegeben – in ihren Rollen als Autoren eines gemeinsamen Buchs; einer Rückschau und Vorschau auf die letzte Pandemie und das, was zu tun sei, wenn die nächste kommt. Drosten bekommt Raum für Medienkritik – und kritisiert vor allem die Baustellen Verkürzung, Zuspitzung und Personalisierung. Drosten ist allerdings Experte für Virologie, Mascolo für Medien. Mascolo sagt: "Ich kann viele Kritikpunkte zwar nachvollziehen, störe mich aber an pauschaler Medienkritik." Dass Drosten in diesem Feld auch mal zum gröberen Besteck greift, während er selbst die Zuspitzungen von Medien beklagt (siehe etwa das Kapitel "Das Konfliktnarrativ" im Altpapier-Jahresrückblick aufs erste Corona-Jahr 2020), ist aber ja bekannt.
+++ "Showdown in Köln"! Ähm, "Showdown"? Bei dwdl.de geht’s um die Besetzung der WDR-Intendanz. Diese Woche wird gewählt.
+++ Der Zoff bei der "Washington Post" (auch das im Altpapier vom Freitag) habe Folgen, berichtet die "SZ" (Abo): Der vorgesehene neue Chefredakteur Robert Winnett habe abgesagt.
+++ Und was macht die politische Debatte? Zoff natürlich! Hängt nämlich in Talkshows ab, obwohl die ja so hervorhebenswert vielleicht gar nicht sind, wie sie gemacht werden. Und Bernhard Heckler und Cornelius Pollmer reflektieren in der "SZ" vom Samstag (Abo) darüber, wie alles besser werden könnte. Einen rundum überzeugenden Pitch für einen besseren Talk legen sie am Ende auch nicht vor, ist halt nicht so einfach – aber man liest den Text, weil er halt von Talks handelt, sehr gerne so weg. Zitat: "Möglicherweise verachten Teile der öffentlich-rechtlichen Medien ihre Zuschauer nämlich doch nicht in dem Maß, das Kritiker ihnen gelegentlich vorwerfen. Unter Umständen lechzt das Publikum auch gar nicht so sehr nach jener Reflexionstiefe, wie man sie in Feuilletons wie diesem gerne energisch einfordert." Möglicherweise. Möglicherweise sind die eher quantitativen Vorstellungen davon, was "das Publikum" will, aber auch Teil des Problems.
+++ Rausschmeißer und Abbinder des Tages: Harald Staun in der gedruckten "FAS" mit einer nicht ganz neuen, aber wohl langfristig aktuellen Beobachtung zum Horse-race-Journalismus, die heute nicht ungeteilt bleiben soll: "Die Berichterstattung über die Arbeit von Regierung und Parlament gleicht der über einen Sportwettkampf. Statt Probleme zu beschreiben, konzentriert man sich auf den politischen Streit und dessen Personal, auf Ergebnisse und Performances, auf Erfolge und Fehler der Akteure, auf ihre Beliebtheit, Charaktereigenschaften oder Führungsqualitäten." Es folgen: Belege aus den Sportressorts: "Wie lange macht es der Kanzler noch? Spielt er die Vertrauensfrage aus? Hat sich die SPD im Kampf mit der AfD verrannt? Wie stellen sich die Grünen auf? Wie gut ist Friedrich Merz in Form? Und wann wird Boris Pistorius eingewechselt?"
Am Dienstag schreibt das Altpapier Christian Bartels.