Kolumne: Das Altpapier am 17. Juni 2024 Neues "tagesschau"-Publikum
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17. Juni 2024, 10:52 Uhr
"ARD-aktuell" hat die "tagesschau in Einfacher Sprache" an den Start gebracht. Eine gute Nachricht und ein längst überfälliger Schritt. Heute kommentiert Johanna Bernklau die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Einfache Sprache in der "tagesschau"
Vergangenen Mittwoch ist ein neues "tagesschau"-Format an den Start gegangen: Die "tagesschau" in Einfacher Sprache. Es ist bereits das zweite neue "tagesschau"-Angebot innerhalb von zwei Wochen, nachdem Anfang Juni ein neuer Podcast gelauncht wurde. (Altpapierkorb)
Von Montag bis Freitag läuft die neue "tagesschau" nun um 19 Uhr auf "tagesschau24", außerdem ist sie in der ARD-App, der ARD-Mediathek, auf einer eigenen Website und auf YouTube zu finden. Damit gehört die "tagesschau in Einfacher Sprache" laut eigenen Angaben bundesweit zum ersten tagesaktuellen TV-Angebot, das Nachrichten in Einfacher Sprache aufbereitet.
Wer sich fragt, welche journalistischen Angebote abseits der "tagesschau" in Einfacher oder Leichter Sprache (da gibt es einen Unterschied)" existieren, findet die Antwort auf dieser Website der Eichstätter Journalistik.
Während unter dem Ankündigungs-Post der "tagesschau" auf X unreflektierte Kommentatoren mal wieder ihren Rundfunkbeitrag zurückforderten oder die Verdummung Deutschlands prophezeiten, lohnt sich für tatsächlich Interessierte ein Blick auf die Begründung von Marcus Bornheim, der das neue Format für "ARD-aktuell" als Chefredakteur verantwortet. In der hauseigenen "tagesschau"-Meldung wird er so zitiert:
"Mit diesem neuen Nachrichtenangebot richten wir uns an ein für uns neues Publikum, dem wir somit auch einen Zugang zu gut recherchierten Informationen aus Politik, Wirtschaft, Sport, Kultur und anderen Ländern ermöglichen wollen."
Die magische Zahl: 17 Millionen
Das neue Publikum, das Bornheim da meint, besteht aus knapp 17 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren. Die "tagesschau" bezieht sich bei diesen Zahlen auf die LEO-Studie von 2018, die die Lese- und Schreibschwierigkeiten von Erwachsenen erfasst hat. Oder, wie es in der Studie selbst steht: das Leben mit geringer Literalität.
Das Wort "Literalität" steht nicht im Duden, betrifft aber laut dem Wissenschaftsverlag De Gruyter die "individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit geschriebener Sprache entsprechend den gesellschaftlichen Gegebenheiten."
17 Millionen Menschen – das entspricht einem Drittel der Menschen zwischen 18 und 65 Jahren in Deutschland. Bei stellt sich unweigerlich die Frage: Wie kann es sein, dass die "tagesschau" so viele Leute medial bisher nicht erreicht hat? Und: Hat sie wirklich alle davon bisher nicht erreicht? Wie viele von den 17 Millionen haben zum Beispiel zwar eine Lese-Rechtschreibschwäche, aber können komplexeren Zusammenhängen durchaus folgen?
Wer die Zahl 17 Millionen in der LEO-Studie finden will, der sucht erstmal vergebens: Für die Macher der Studie ist vor allem interessant, wie hoch der Anteil der gering literalisierten Erwachsenen ist (6,2 Millionen). Das sind all jene, die den sogenannten Alpha-Leveln 1 bis 3 angehören – Menschen, die also entweder einzelne Buchstaben erkennen und schreiben können (1), einzelne Wörter lesen und (fehlerhaft) schreiben können (2) oder einzelne Sätze, nicht aber zusammenhängende Texte lesen und schreiben können (3).
Die "tagesschau" hat zu den 6,2 Millionen gering literalisierten Erwachsenen noch die des Alpha-Levels 4 dazugezählt: Menschen, die Texte nur langsam und/oder fehlerhaft lesen und schreiben können (10,6 Millionen).
Ob nun 17 Millionen oder nicht: Das Angebot ist wahnsinnig wichtig und sorgt für eine längst überfällige Inklusion. Inklusion von Menschen, die gerade erst Deutsch lernen oder denen gute Bildung verwehrt blieb. Die einen Schlaganfall hatten oder eine Lernschwäche haben. Und selbst, wenn das nur 3 Millionen Menschen wären: Der öffentlich-rechtliche Auftrag, alle Menschen zu informieren, besteht.
Der Sozialverband Deutschland (SoVD) lobte das neue Format (in diesem "Welt"-Artikel):
"Der SoVD sieht darin einen wichtigen Schritt für mehr Teilhabe und fordert, dass ähnliche Maßnahmen in allen gesellschaftlichen Bereichen umgesetzt werden. Barrierefreier Zugang zu Informationen ist ein Grundrecht und fördert eine inklusive Gesellschaft. Wir danken den Verantwortlichen der Tagesschau und des NDR für dieses vorbildliche Projekt und freuen uns auf viele Nachahmerinnen und Nachahmer."
Und auch die "Zeit" titelte in einem Kommentar: "Hier wird der Bildungsauftrag endlich mal erfüllt".
Erst der Hintergrund, dann die Nachricht
Und wie sieht das jetzt in der Praxis aus? Am besten, man schaut selber mal rein.
Bislang sind drei Beiträge in Einfacher Sprache erschienen, heute Abend wird der nächste dazukommen. Dabei geht es um mehr, als statt von "Scheinvaterschaften" von "falschen Vätern" zu sprechen oder aus "Wehrdienst" einen "Plan für junge Menschen" zu machen. Sonja Wielow, Leiterin des Projekts, erklärt in der "tagesschau"-Meldung:
"Wir berücksichtigen auch kulturelle oder bildungsbedingte Herausforderungen, vor denen Menschen unserer Zielgruppe häufig stehen. Viele beschäftigen sich nämlich nicht mehr mit Nachrichten, weil sie sie nicht verstehen können. Deshalb erklären wir den Hintergrund einer Nachricht, bevor wir zur eigentlichen Neuigkeit kommen."
Das lösen die Beiträge bisher auch sehr gut ein: Bevor es zum Beispiel um eine neue Regelung für den Organspendeausweis geht, erklärt Sprecherin Susanne Holst erst, was Organspende eigentlich bedeutet und wie sie bisher funktioniert.
Allerdings besteht bei anderen, vielleicht komplexeren Themen trotzdem teilweise ein Spannungsfeld zwischen dem Abbau von Komplexität in Sprache und Inhalt und dem Geben von einordnenden Hintergrundinformationen.
Dass die Wehrpflicht 2011 abgeschafft wurde und seitdem sämtliche Erfassungsmöglichkeiten für Nachwuchs oder Reservisten fehlen, wird nicht erwähnt. Oder, warum es für Frauen erstmal keine Verpflichtung gibt, den Fragebogen zum Wehrdienst auszufüllen. Eine schwierige Aufgabe hier abzuwägen, was wichtig ist und was nicht. Was bei dem Beitrag zur Erhöhung des Bafög-Satzes aber journalistisch schon geboten gewesen wäre: Zu erwähnen, um wie viel Euro er denn steigen wird.
Altpapierkorb (Sylt-Video, TV-Duell, EM-Auftakt)
+++ Nachdem das Landgericht München der "Bild"-Zeitung untersagt hatte, das Sylt-Video unverpixelt zu zeigen (letztes Altpapier), hat auch der WDR die Gesichter in seinen Veröffentlichungen unkenntlich gemacht. Die Begründung aber: fadenscheinig. "Ziel der Berichterstattung war und ist es, die Vorkommnisse unverblümt darzustellen, um auf dieser Grundlage einen Beitrag zu der durch das Video ausgelösten gesellschaftlichen Debatte zu liefern. Aufgrund der abnehmenden Aktualität haben wir entschieden, die Personen auf dem Video nachträglich unkenntlich zu machen."
+++ Für das anstehende TV-Duell zwischen Joe Biden und Donald Trump gibt es in diesem Wahlkampf neue Regeln. Eine davon: Wenn Biden redet, ist das Mikrofon von Trump stumm geschaltet, und umgekehrt. Anscheinend ist mittlerweile unklar, wie man ordentliche Diskussionen führt.
+++ Über die neue ARD-Anrufsendung "Mitreden! Deutschland diskutiert" hat Matthias Warkus bei "Übermedien" geschrieben. Sein Fazit: "Am Ende ist für mich allerdings unklar, was das Call-in-Format überhaupt leisten soll."
+++ Zum EM-Auftakt haben sich am vergangenen Freitagabend Millionen Zuschauer vor den Fernsehern versammelt. 22,48 Millionen sahen die ZDF-Übertragung, dabei hatte der Sender einen Marktanteil von stolzen 82,3 Prozent, wie dwdl.de meldete. +++
Das Altpapier am Dienstag schreibt Christian Bartels.