Kolumne: Das Altpapier am 11. Juni 2024 Wen(n) junge Wähler wählen
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11. Juni 2024, 10:56 Uhr
Der Lieblingsfokus der deutschen Europawahl-Berichterstattung lag auf den Jungwählern und den ostdeutschen Bundesländern. Warum? Weil sie rechts gewählt haben. Eine andere Perspektive hätte den Nachrichten aber auch gutgetan. Heute kommentiert Johanna Bernklau die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Ach, die jungen Leute
Zwei Details wurden bei der deutschen Berichterstattung über die EU-Wahl besonders herausgegriffen: Die ostdeutschen Bundesländer und die jungen Wähler. Dass zudem hauptsächlich die deutsche und nicht die europäische Perspektive eingenommen wurde, hat Klaus Raab schon im Altpapier von gestern kritisiert.
Im Netz findet man sie überall, die Erklärungen, warum die AfD so viele Stimmen von den jungen Wählern bekommen hat. Die Fallhöhe ist groß, schließlich "wissen [die jungen Wähler] sehr wohl, warum sie rechts wählen" und es "wäre gefährlich", das "nur auf TikTok" und Protestwähler zu schieben. So ist es zu lesen in einem "ZEIT-Campus"-Kommentar, der gestern lange sehr präsent auf der Startseite von "zeitonline" stand und dessen angekündigte Offenbarung, warum denn jetzt so viele junge Leute AfD gewählt haben, ausbleibt. Doch dazu später mehr.
Bevor man mit den Erklärungen anfängt, wäre es doch viel interessanter zu wissen, was eigentlich die Frage ist. Was sind denn die News in Bezug auf das Wahlverhalten der jungen Wähler? Wirklich nur, dass die AfD im Vergleich zur letzten Europawahl elf Prozent mehr Stimmen bekommen hat? Oder dass die Grünen im Vergleich zur letzten Europawahl 23 Prozent weniger Stimmen bekommen haben? Oder eher, dass fast jeder dritte junge Wähler eine Kleinstpartei gewählt hat?
Die "tagesschau" macht es sich einfach und titelt "Junge Menschen wählen anders". Interessant. Und dann wieder auch nicht. Schließlich wählen auch arme Menschen, hoch gebildete Menschen oder Frauen anders (als wer oder wann eigentlich?) und für die gibt es keine eigenen Artikel.
Was also ist das Besondere bei den jungen Menschen, außer, dass sie bei dieser Europawahl zum ersten Mal ab 16 Jahren wählen durften? Das beantwortet die "tagesschau" trotz diffusem Titel dann doch im Artikel und klamüsert die wichtigsten Beobachtungen auseinander: Der Erfolg der AfD, der Misserfolg der Grünen, das schlechte Niveau der SPD und die starke Rolle der Kleinstparteien.
Was das ZDFheute daraus macht? Einen Erklärartikel, warum die AfD bei jungen Wählern so stark abgeschnitten hat. Überraschung: Es liegt nicht nur an TikTok, die Partei "macht sich etwas anderes zunutze" heißt es geheimnisvoll im Teaser. Doch das Geheimnis bleibt aus: Sowohl das ZDF als auch der oben erwähnte "Zeit"-Artikel offenbaren: Es liegt auch an den Zukunftsängsten der jungen Menschen (Klima, Inflation, Wohnungskrise), womit nun wirklich niemand hätte rechnen können.
Doch keine Sorge: Nachdem sich der gesamte ZDF-Artikel um die AfD und die jungen Wähler gedreht hat, relativiert er die Aufmerksamkeit, die er der AfD damit gegeben hat, wieder. In den letzten Sätzen heißt es:
"Zwar feiert die AfD bei jungen Wählerinnen und Wähler(n) die größten Zugewinne. Die Altersgruppe hat aber auch in großem Maße ihre Stimme kleineren Parteien gegeben. Von einem allgemeinen Rechtsruck der Jugend bei dieser Wahl kann man daher nicht sprechen."
Wie gut, dass sich der gesamte Artikel dann trotzdem mit diesem vermeintlichen Rechtsruck beschäftigt hat, anstatt mit der starken Rolle der Kleinstparteien. Das haben dafür die "Süddeutsche Zeitung" und der MDR gemacht.
Übrigens: Der Anteil der AfD ist bei den Wählern zwischen 35 und 44 Jahren um vier Prozentpunkte höher als bei den "jungen Wählern" zwischen 16 und 24 Jahren. Das kann man in dem interaktiven Tool, zum Beispiel hier beim MDR, selbst nachklicken. Warum sich die Berichterstattung trotzdem so auf die Kombi "Jungwähler und AfD" konzentriert? Vielleicht, weil man die sogenannte Gen Z so toll in TikTok-Schubladen schieben kann.
Grüße aus der Grafik
Wahltermine sind bekanntlich die Prime Time für Datenjournalisten. Gestern war das Internet voll von Grafiken, die Wählerwanderungen, Gewinne und Verluste, Vergleiche mit der letzten EU-Wahl und Stimmanteile geografisch und soziodemografisch aufbereiteten. Eine davon war ganz besonders beliebt, die "SZ" macht damit gleich mal ihre EU-Wahl-Datenstory auf, auch der "Spiegel", die "tagesschau" und die "Welt" (kein Anspruch auf Vollständigkeit) verwenden die Grafik.
Es geht speziell um diese hier, die Deutschland in schwarz-blau färbt und in das Union-schwarze Westdeutschland und das AfD-blaue Ostdeutschland teilt. Der vermeintlich klare Bruch zeigt sich durch den Anteil der stärksten Kraft in den jeweiligen Landkreisen und kreisfreien Städten.
Was die Karte nicht zeigt, weil es so viele Ebenen auf einer eindimensionalen Karte leider nicht geben kann: Dass die AfD auch in weiten Teilen Süddeutschlands zweitstärkste Kraft wurde – allerdings nicht mit so hohen Anteilen wie im Osten (denn auch das gehört zur Wahrheit dazu).
Die Grafik zeigt dafür umso mehr, wie unfreiwillig vereinfachend visuell aufbereitete Daten sein können und wie schnell es passiert, dass Rezipierende sie für die einzige Wahrheit halten. Mit einer Karte, die Deutschland so eindrücklich zu trennen scheint, fällt es schwer, zu fragen: Was gibt es denn da noch so an Daten? Das hat auch "Spiegel"-Journalist Marius Mestermann auf X angemerkt und zur Differenzierung aufgerufen.
"Ein kleines Plädoyer dafür, aus einfachen Grafiken keine weitreichenden, undifferenzierten Schlussfolgerungen zu ziehen, sondern etwas tiefer zu schauen und nicht zu generalisieren ("der Osten", "die Sachsen" etc.)."
Altpapierkorb (mehr zur Wahlberichterstattung, weniger Einsparungen beim MDR, Stellungnahme der MVFP)
+++ Mehr Storytelling in der Fernseh-Wahlberichterstattung wünscht sich Jörg Häntzschel in diesem "SZ"-Beitrag und plädiert für mehr "Demokratie in action" statt schnöder Statistik-Vorlesung.
+++ Angesichts der Europawahl hat sich die Redaktion von "Übermedien" einige Fragen zu Medien und ihrer Rolle in der Berichterstattung über die AfD und die Politik im Allgemeinen gestellt. Eine offene Liste, über die sowohl nachgedacht als auch geschmunzelt werden kann.
+++ Der DJV fordert sämtliche Medienunternehmen dazu auf, dem Schutzkodex für Journalisten beizutreten. Demzufolge soll es in jedem Medienhaus eine Ansprechperson für Journalisten geben, wenn diese bei ihrer Arbeit bedroht oder angegriffen werden. DJV-Vorsitzender Mika Beuster befürchtet aufgrund des Wahlsiegs der AfD, dass "Pressefeinde Oberwasser bekommen", wie er bei meedia.de zitiert wird.
+++ Von den Einsparungen beim MDR, die vor allem im Bereich der Investigation für viel Kritik gesorgt hatten (Altpapier), hat Intendant Ralf Ludwig nun der Großteil zurückgenommen. Möglich sei das wegen Umschichtungen und einem Vorschlag der Leitung der politischen Magazine. Das berichtet der Medienblog "Flurfunk Dresden" von der Sitzung des MDR-Rundfunkrats.
+++ In einer Stellungnahme hat der Zeitschriftenverlegerverband MVFP einen Appell an die Politik gerichtet und unter anderem die "effektive Begrenzung öffentlich-rechtlicher Gratis-Konkurrenz" und eine Senkung des Mehrwertsteuersatzes für die Presse gefordert. Nachzulesen bei faz.net. +++
Das Altpapier am Mittwoch schreibt Christian Bartels.