Kolumne: Das Altpapier am 5. Juni 2024 Was tun gegen Gummistiefel-Politik?
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05. Juni 2024, 12:02 Uhr
Zu viele Medien geben den Selbstinszenierungen von Politikern in Krisengebieten zu viel Raum. Über zu viele Länder wird trotz verheerender Krisen praktisch gar nicht berichtet. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- Promigeiler Hochwasser-Journalismus
- Angola und Burundi nicht vergessen!
- Migrationsdebatte: Seit 35 Jahren falsche Vorschläge
- Altpapierkorb (die Sache mit dem Brinkbäumer-Gehalt, Report zu "rechtsextremer Ästhetik auf Tiktok", die dramatische Lage des Wissenschaftsjournalismus in der Schweiz, "Einigkeit und Recht und Vielfalt")
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Promigeiler Hochwasser-Journalismus
Wenn Journalisten aus aufmerksamkeitsökonomischen Gründen distanzlos ein Zitat eines Politikers in eine Überschrift packen, sorgt das wegen falscher Gewichtung oft für Kritik. Die FAZ hat in ihrer Dienstagsausgabe auf der Seite 1 das Gegenteil getan und unter der Oberüberschrift "Flut in Süddeutschland" die Headline "Scholz sieht Zusammenhang mit Klimawandel" platziert.
Diese Strategie der maximalen Nüchternheit ist allerdings auch nicht zwingend befriedigend. Was wollen uns die Headline-Dichter sagen: Dass sogar er den "Zusammenhang" sieht? Dann wäre die Überschrift immerhin komisch.
Der besagte Scholz fällt derzeit unter anderem durch Gummistiefel-Politik auf, und mit der geht Sabine Henkel in einem Kommentar bei tagesschau.de unter der Überschrift "Gummistiefel-Politik statt Klimaschutz" ins Gericht:
"Klimaschutz wird kleingeschrieben, Hochwasserschutz vernachlässigt. CDU und CSU wahlwerben sogar mitten in der Hochwasserkatastrophe für den Verbrennermotor, während Markus Söder durch die Fluten watet. Das kann man sich nicht ausdenken. Bundeskanzler Olaf Scholz steht im Regenoutfit im Hochwasser, während ein Expertenrat aufzeigt, dass Deutschland seine Klimaziele verfehlen wird. Ein Armutszeugnis für den selbsternannten Klimakanzler. Und genau das zeigt das Erbärmliche: Sie kommen erst, wenn etwas passiert. Wenn den Leuten das Wasser bis zum Hals steht. In Gummistiefeln von einer Katastrophe zur nächsten. Und in der Zwischenzeit passiert zu wenig."
Stimmt alles, aber: Der Kommentar hat eine Leerstelle. Eine nicht ganz unmaßgebliche Frage wäre doch: Müssen Medien diese choreographierten Bilder überhaupt zeigen? Müssen alle Kameras auf die Politiker gerichtet sein, wenn sie gerade dabei sind, Gummistiefel-Politik zu machen? Klar: Sind Spitzenpolitiker in einem Krisengebiet unterwegs, ist es nachvollziehbar, wenn jemand das in zwei Sätzen vermeldet. Alles, was darüber hinaus geht, gehört nur in Ausnahmefällen in einen journalistischen Beitrag. Zumal Parteien und Politiker genug eigene Kanäle haben, um ihre Selbstdarstellungen an die Frau oder den Mann zu bringen.
Man könnte dieser ganzen Gummistiefel-Politik, über die sich Henkel zu Recht echauffiert, also ein bisschen den Boden entziehen, indem man bei der Inszenierung der Betroffenheits-Poser einfach nicht mitspielt.
Angola und Burundi nicht vergessen!
Die Schwächen des Auslandsjournalismus sind mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen immer mal wieder Thema im Altpapier. Das lässt sich gut an Überschriften und Zwischenüberschriften von Altpapier-Jahresrückblicken oder regulären Kolumnen ablesen: "Selbst wenn es mal um Afrika geht, geht es nur um uns", "Die fast vergessenen afghanischen Frauen", "Die mediale Vernachlässigung des Jemen-Kriegs".
Der unter anderem auf Afrika spezialisierte Journalist Julian Hilgers hält nun bei "Übermedien" ein Plädoyer unter dem Titel "Schenkt den vergessenen Krisen mehr Aufmerksamkeit!" Hilgers erläutert:
"Angola liegt im Ranking der vergessenen humanitären Krisen der Organisation Care wie schon im Vorjahr auf dem unrühmlichen ersten Platz (…) Burundi, Sambia, die Zentralafrikanische Republik – die Liste der Länder, aus denen trotz verheerender Krisen kaum berichtet wird, lässt sich lange fortführen."
Was hingegen überraschend kommen mag für manche:
"Über den Krieg im Sudan wurde anlässlich des ersten Jahrestages im April, Hilferufen von zahlreichen NGOs und der Geberkonferenz für das Land in Paris verhältnismäßig viel berichtet."
Zur Sudan-Berichterstattung siehe auch ein 13 Monate altes Altpapier von Klaus Raab.
Die folgenden Beobachtungen von Hilgers sind zwar nicht neu (siehe zum Beispiel "Das Verblassen der Welt. Auslandsberichterstattung in der Krise" (Otto-Brenner-Stiftung 2022), aber sie gehören in einen derartigen Artikel:
"Private Medien leisten sich kaum noch Korrespondent:innen. Das Netz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist bisher noch besser, reicht aber bei weitem nicht aus. Die Studios von WDR und ZDF in Nairobi beispielsweise verantworten fast 40 Länder in Afrika – und das mit jeweils einer TV-Korrespondentin."
Die üblichen Reaktionen der Sender auf Kritik hält Hilgers übrigens für wenig substanziell:
"(D)er Mangel an Zeit und Sendefläche ist eher Symptom als Ursache. 'In einer komplexen, vernetzten Welt mit Krisen und Konflikten an vielen Orten ist Auslandsberichterstattung wichtiger denn je', schreibt das ZDF etwas plattitüdenhaft. Es bräuchte also auch mehr Raum dafür. Nicht nur in speziellen Auslandsformaten, sondern auch für die Hauptnachrichtensendungen. Die Welt um 20 Uhr in 15 Minuten abzubilden, ist längst nicht mehr zeitgemäß. Und online zählt auch das Argument der Sendeplätze nicht."
En passant plädiert der Autor also auch für die Verlängerung der Hauptnachrichtsendungen. Vor zwei Jahren hatte Peer Schader bereits "auf 45 Minuten verlängerte 'Tagesthemen', die um Punkt 20 Uhr beginnen", gefordert (Altpapier)
Migrationsdebatte: Seit 35 Jahren falsche Vorschläge
Die freie Journalistin Gilda Sahebi hat kürzlich unter anderem bei Bluesky kritisiert, dass "zum Thema Migration in der deutschen Debatte stets dieselben Leute befragt werden (eine Person sticht dabei besonders heraus), bei denen alle Aussagen voraussagbar sind und man nichts Neues lernt".
Am Donnerstag zeigt Das Erste nun einen bereits jetzt in der Mediathek abrufbaren Film, der diesbezüglich positiv auffällt: "Deutschland am Limit? Abschiebung, Abschottung, Asyl." Die drei Migrationsforscher*innen, die hier befragt werden, bringen Perspektiven ein, die sonst unterrepräsentiert sind. Mit einem gewissen Pathos lässt sich - Achtung, Spoiler! - sogar sagen, dass sie zahlreiche in Deutschland von Politik und Journalismus verbreitete Erzählungen zur Migrationspolitik zerlegen.
Das soll hier keine Kurzkritik der Doku von Isabel Schayani und Mareike Wilms werden, vielmehr geht es mir darum, einige Fakten und Einschätzungen herauszustellen, die es verdient gehabt hätten, früher in einer TV-Doku aufgegriffen zu werden, als erst drei Tage vor der Europawahl.
Erst einmal kurz etwas zum Titel "Deutschland am Limit? Abschiebung, Abschottung, Asyl". Wenn in einem Titel eine Frage auftaucht, lautet die Antwort meistens: Nein. Das ist auch bei diesem Film so. Die Uni Hildesheim hat herausgefunden, dass mehr als 70 Prozent der von ihnen befragten Kommunen als "herausfordernd, aber noch machbar" sehen. Die Kommunen sind überfordert? Laut dieser Studie eher nicht. Siehe dazu auch "Die Welt" Ende der vergangenen Woche.
Die beiden zu Wort kommenden deutschen Migrationsforscher - Hannes Schammann von besagter Uni Hildesheim und Victoria Rietig von der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik - sprechen zum Beispiel über hausgemachte und, zynisch gesagt, von der Politik offenbar gewollte Probleme. Stichwort: die mangelhafte Ausstattung der Ausländerbehörden.
Schammann dazu:
"Die Ausländerbehörden haben zu viel zu tun. Zu viele Fälle liegen auf dem Tisch."
Und Rietig:
"Es spottet jeder Beschreibung. Die Situation der Auslandbehörden ist eines der dringlichsten Probleme (…), die Deutschland angehen müsste, aber wir tun’s nicht."
Presenterin Schayani wirft an anderer Stelle ein:
"2014 gab es in der EU 315 Kilometer Grenzzäune. 2022 waren es 2078 Kilometer."
Dazu erläutert dann der Niederländer Hein de Haas, inwiefern eine restriktive Politik seit Jahrzehnten ins Leere läuft:
"Zu denken, man würde das Problem lösen, wenn man immer dasselbe macht, ist eine völlige Illusion. Seit 35 Jahren sehen wir, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten Geld in Grenzzäune, Kontrollen und Personal stecken. Es hat ganz klar nicht funktioniert."
Was zum Beispiel nicht funktioniert, so Rietig:
"Die Rolle von Schleppern wird immer wichtiger, je schwieriger ich es mache, ohne Schlepper zu migrieren. Also, sobald ich Grenzkontrollen massiv verschärfe (…) Deshalb sagt man ja auch, dass Grenzkontrollen ein Konjunkturprogramm für Schlepper sind."
Generell, so Rietig, lasse sich sagen:
"Im Migrationsbereich werden häufig Dinge vorgeschlagen, von denen alle Experten wissen, dass der wahrscheinliche Effekt ziemlich überschaubar sein wird - und trotzdem wird es immer wieder rhetorisch aufgebauscht, (…) immer wieder aus der Tasche gezogen."
Dazu gehört auch die aus unterschiedlichen Gründen wirklichkeitsfremde Ankündigung, es müsse "mehr" abgeschoben werden.
Schayanis Fazit:
"Mit Zäunen, Grenzkontrollen und Abschiebungen können wir Flucht und Migration nicht gänzlich stoppen (…) Vielleicht müsste man ehrlich genau darüber sprechen."
Mit "man" dürften auch oder vor allem die Journalisten in Faeserland (Sorry an Christian Kracht für den Kalauer) gemeint sein, die bisher in nicht ausreichendem Maße willens waren, tradierte Politiker-Erzählungen zu hinterfragen.
Altpapierkorb (die Sache mit dem Brinkbäumer-Gehalt, Report zu "rechtsextremer Ästhetik auf Tiktok", die dramatische Lage des Wissenschaftsjournalismus in der Schweiz, "Einigkeit und Recht und Vielfalt")
+++ "Woher stammen die Probleme beim MDR?", lautet der Titel der aktuellen Ausgabe von "Läuft", dem Podcast von "epd medien" und Grimme-Institut. Zu Gast: Peter Stawowy, Macher des Blogs "Flurfunk" und früher Berater und freier Mitarbeiter der Altpapier-Dachredaktion MEDIEN360G. Es geht um die Sparvorhaben des Intendanten Ralf Ludwig (Altpapier), die Proteste dagegen (Altpapier) - und auch um die Kritik daran, dass Klaus Brinkbäumer seit dem 1. Mai weiterhin sein Programmdirektoren-Gehalt bezieht, obwohl er für den Sender inzwischen gar nicht mehr als Programmdirektor, sondern als Journalist tätig ist (siehe zum Beispiel "Übermedien"). Zu letzterem Aspekt sagt Stawowy (ab Time Code 12:15): "Das ist aus meiner Sicht fürs Haus gar nicht die schlechteste Lösung." Denn: Wenn der Ex-Programmdirektor weiterhin für den Sender arbeite, sei das immer noch besser, als wenn er bis zum Auslaufen seines Vertrags fürs Nichtstun Geld bekomme.
+++ "Das TikTok-Universum der (extremen) Rechten - Trends, Strategien und Ästhetik in der Social Media-Kommunikation" heißt ein neuer Report der in Frankfurt ansässigen Bildungsstätte Anne Frank. Die "Hessenschau" und die FAZ-Medienseite gehen darauf ein. Letztere schreibt: "Die AfD setzt beispielsweise auf 'Masse statt Klasse', wie es in dem Report heißt. Demnach produziert die Partei einen kontinuierlichen Strom an Videos, der von unzähligen Accounts geteilt wird: 'In nur wenigen Stunden konnten wir über 50 Accounts mit jeweils über 40.000 Followern ausfindig machen, die nur solche Schnipsel posten', sagt Eva Berendsen, Leiterin des Bereichs Kommunikation der Bildungsstätte und Mitautorin des Reports. Reden von AfD-Politikern seien dabei teils schon im Manuskript darauf angelegt, sich in einminütige Clips schneiden zu lassen." Mehr zu Tiktok gibt es in der FAZ dann auch noch in einem Michael-Hanfeld-Kommentar zu Posts, die den Messerangriff von Mannheim bejubeln. Eine Sprecherin der Plattform habe, so Hanfeld, auf FAZ-Anfrage mitgeteilt, es "kümmerten sich weltweit 40.000 Mitarbeiter darum, Inhalte wie die hier aufgezählten nicht zuzulassen oder herauszufiltern".
+++ Dem Wissenschaftsjournalismus in der Schweiz geht es gar nicht gut, berichtet das Magazin "Republik": "Heute gibt es nur noch fünf Schweizer Medienhäuser, die überhaupt eigenständige Wissensredaktionen unterhalten (…) Entsprechend groß ist der Schwund unter den betroffenen Journalistinnen. Das spürt auch der Schweizer Klub für Wissenschaftsjournalismus. 'Vor zehn Jahren hatten wir noch knapp 200 ordentliche Mitglieder, heute sind es knapp 130', sagt Stephanie Schnydrig, Präsidentin des Klubs. Unter ihnen gebe es auch viele Freiberufler, die aber oft nicht von ihrer journalistischen Arbeit leben könnten." Manches, was in dem Text steht, trifft auch auf Deutschland zu. Das gilt zum Beispiel für eine Passage, in der Volker Stollorz von Science Media Center in Köln zitiert wird: "(Er) beobachtet eine zunehmende Entkopplung von dem, was die Wissenschaft produziert, und dem, was besonders gut läuft. Es wimmle inzwischen von Erklär- und Servicestücken, sagt er: Was tun gegen Reizdarm? Fünf Fragen rund um die Sexualität. Sieben Wege, um Ihr Gedächtnis zu stärken."
+++ Heute im linearen Fernsehen: "die Schwundstufe dessen, was dokumentarisches Arbeiten kann" (Matthias Dell). Es geht um die Prä-EM-Doku "Einigkeit und Recht und Vielfalt", über die bisher vor allem wegen einer fragwürdigen Umfrage geredet wurde, die der WDR im Zusammenhang mit dem Film in Auftrag gegeben hatte (Altpapier, Altpapier). "epd medien" fasst zusammen, wie Autor Philipp Awounou bei "Hart aber fair" auf die Kritik reagierte: "(Er) erklärte, es sei ihm als Autor der Dokumentation und dem WDR darum gegangen, zu verstehen, inwiefern rassistische Aussagen zur Hautfarbe von Nationalspielern von einem relevanten Teil der Bevölkerung geteilt werden oder ob es sich dabei lediglich um 'Internettrolle und Ewiggestrige' handele. Wenn man rassistische Haltungen überprüfen wolle, müsse man mit ihnen arbeiten. So funktioniere empirische Sozialforschung, sagte der Journalist. 'Und deshalb haben wir Rassismen abgefragt, um zu verstehen, ob diese Ergebnisse, die wir in unserer Recherche erzielt haben, ob die einen ausreichend großen Teil der Bevölkerung überhaupt widerspiegeln.'" Einen etwas weniger als acht Minuten langen "Hart aber fair"-Ausschnitt mit Awounou findet man bei sportschau.de.
Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ralf Heimann.