Kolumne: Das Altpapier am 31. Mai 2024 Alles auf eine Tanzkarte setzen
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31. Mai 2024, 10:56 Uhr
Ob der Erfolg der Regency-Serie "Bridgerton" wirklich die Sehnsucht nach Romantik widerspiegelt, ist fraglich. Plus: Erinnerung an jemanden, der Gefühlstiefe anders definiert. Heute kommentiert Jenni Zylka die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Triviale Romantik
Schon die dritte Staffel Bridgerton geguckt? Ach, erzählen Sie mir nix. Einer muss es doch gesehen haben! Die ersten vier Folgen (die zweite Staffelhälfte kommt erst Mitte Juni, um die brennende Sehnsucht lebendig zu halten) der von Shonda Rimes nach den Romanen von Julia Quinn kreierten, so genannten "Regency"-Serie liefen wie geschnitten Brot. Auch in Deutschland machte sie sich auf Platz Eins der Streaming Charts breit. "Das gab es noch nie", titelt Filmstarts hier über den "romantischen Historien-Hit", und rechnete nach, was Netflix vorrechnete:
"Bridgerton Staffel 3 führt die aktuellen Serien-Charts bei Netflix mit 45,1 Millionen Views an. Das ist der beste Start einer Netflix-Serie seitdem der Streamer seine Charts nach Views rankt (Juni 2023)."
Dann geht es noch ein wenig um die Relationen – unter anderem die Tatsache, dass die dritte Staffel zweigeteilt herausgebracht wurde, macht den direkten Vergleich mit den vorangegangenen Staffeln schwierig. (Etwas umfangreicher schlüsselt hier übrigens The Wrap die Quoten auf.) Regency, beziehungsweise "Regency Romance" hat sich mittlerweile jedenfalls als Genrebegriff etabliert. Für die Unromantischen: Der Titel bezeichnet in Großbritannien eine Epoche zwischen 1810 und 1820, in denen Jane Austen ihre sechs wichtigsten Romane verfasste. Darüber hinaus nennt man so auch das Werk einer gewissen Georgette Heyer, die mitnichten in der Regency-Periode, sondern ungefähr 100 Jahre später gelebt, aber sich in Sachen Liebesroman erstaunlich stark am vage-reaktionären "Früher-war-alles-besser-als-wir-noch-Empire-Kleider-trugen-und-Kavaliere-hatten" orientierte. Dass "Regency Romance"-Bücher dabei literarisch nicht unbedingt hoch angesehen sind, stört keinen großen Geist. Die deutsche Wikipedia-Seite weiß:
"Regency-Liebesromane werden – wie die gesamte englischsprachige Romance-Literatur – der Trivialliteratur (formula fiction) zugerechnet. (…) Die traditionelle Regency Romance bildet vielmehr ein selbstständiges literarisches Genre mit charakteristischer Handlung und eigenen stilistischen Konventionen. (…) Die überwältigende Mehrzahl der auf Heyer folgenden Regency-Romane wurden jedoch von amerikanischen Autorinnen verfasst. Das Lesepublikum ist fast ausschließlich weiblich."
Divers und weiblich
Grundgütiger, was sagt uns das…? Um herauszubekommen, ob das Fernsehpublikum ebenfalls "ausschließlich weiblich" ist, hier ein Blick in die Nielsen Ratings (die Firma Nielsen Media Research misst seit 1950 die Fernseheinschaltquoten der USA). Laut TVLine hatte Nielsen bereits zur zweiten Staffel Folgendes festgestellt:
"Nielsen characterized Bridgerton's audience as "diverse and broad,” with one exception: it was 76 percent female. It further detailed that one third of the viewers were Hispanic or African-American, while the age groups of 18-34, 35-49 and 50-64 were evenly split at 25 percent each.”
Hmm. "Divers und breit aufgestellt" schön und gut, ein Drittel PoC ebenfalls repräsentativ (laut aktuellem US Census gibt das ungefähr das Verhältnis der US-Amerikaner:innen wieder). Aber ob Romantik tatsächlich genuin weiblich sein muss, wage ich zu bezweifeln. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass die bei Bridgerton (und allen anderen Regency-Produkten) vorhandene Konzentration auf weiblich gelesene Heldinnen ebensolchen Zuschauerinnen die Identifikation leichter macht, as simple as that. Doch jetzt endlich zum Inhalt. Die neue Bridgerton-Staffel erzählt, genau wie die davor, von Frauen, die sich einen Mann suchen wollen beziehungsweise müssen, weil die Heiratskonventionen in einer bestimmten britischen Klasse im 19. Jahrhundert eng, bindend und erdrückend waren, und es sich beim so genannten "Debütieren" auf einem dementsprechenden Ball keinesfalls um eine lustige Partysause handelte. Der Guardian zog schon 2022 Parallelen zu modernen Dating Apps mit all ihren frustrierenden Fallstricken:
"For women especially, with a flurry of new, younger debutantes emerging into the marriage-market every year, it could be just as hard to stand out in a ballroom as it is on a dating app. Money helped, and consequently – just as some singletons lie about their age when dating online – some families felt compelled to massage the exact amount of a son’s income or daughter’s dowry. (…) Seeking a spouse required a lot of effort then, too. For anyone intent on a match, the season entailed an exhausting rush to and from as many balls, meeting as many eligible partners, and dancing at as many dances as possible.”
Friends to Lovers
Obwohl, so viele Tänze tanzen wie möglich klingt eigentlich nach Fun… In der neuen Staffel erlebt Penelope Featherington (Nicolas Coughlan), eine unter einem Pseudonym bitterböse und gesellschaftskritische Klatschblättchen verfassende, körperlich nicht dem heteronormativen Schönheitsideal entsprechende junge Frau, jedenfalls eine vestimentär stark begleitete "Friends-to-Lovers"-Genese mit ihrem best buddy, dem Nachbarn Colin Bridgerton (Luke Newton). Wiederum der Guardian kommentiert aktuell dazu:
"Of course, you can see the twist coming a mile off, but to complain about that would miss the point entirely: Bridgerton is all wish-fulfilment. This is a fantasy of the past powered by infatuation, something that initially involved a headline-grabbing embrace of on-screen bonking.”
Es geht also um das Erfüllen von Wünschen, und somit um die alte Geschmacksfrage, ob Kultur (denn auch "Trivialliteratur" und ihre Beiprodukte sind Kultur) einen per Eskapismus entführen darf, oder eher die positiven Gefühle der Rezipient:innen nutzen sollte, um Ungerechtigkeiten aufzuzeigen damit sich etwas ändert. Der Tagesspiegel hat hier (€) die Autorin der Originalbücher, Julia Quinn, zu diesen Themen umfassend interviewt, und versuchte in dem sehr spannenden und bezeichnenden Gespräch wirklich, sie auf Ambivalenzen abzuklopfen. Quinn ließ sich aber nicht die Tanzkarte vom Arm reißen, und wandt sich wie ein unglücklich verliebter Aal…
Hauptsache Happy End
"Frage: Was finden moderne Frauen an diesen Märchen, in denen das Happy End gleichbedeutend mit einer Liebesheirat ist?
Antwort: Der Großteil der Menschen sucht nach wie vor nach einer romantischen Beziehung fürs Leben. Heutzutage muss das keine Heirat bedeuten und auch keinen Partner vom anderen Geschlecht. Im 19. Jahrhundert allerdings schon. Obwohl es auch tolle Regency-Romane mit homosexuellen Figuren gibt, aber die funktionieren anders, weil es andere Hindernisse zu überwinden gibt. Für mich ist ein Happy End eine erfüllte Liebesbeziehung. Dass es sich dabei in meinen Geschichten um die Ehe handelt, ist dem Setting geschuldet."
Mit anderen Worten kann keiner etwas dafür, wenn das früher eben mal so war. Was eine lahme Entschuldigung ist, denn es bleibt dem/der Autor:in schließlich selbst überlassen, auf wessen Geschichten man den Fokus legt. Und "Bridgerton" mit seinem hautfarbendiversen Cast spielt eh, so sagt es auch Frau Quinn, in einer Art "kontrafaktischer Parallelwelt" (darum trifft es auch der eingangs zitierte Begriff des "Historien-Hits" nicht ganz. Im Interview heißt es weiter:
"Frage: Die Heldinnen in Ihren Geschichten sind willensstark und eloquent, häufig unterhalten sie sich über die geschlechterungerechten Verhältnisse, in denen sie leben. Ändern dürfen sie daran aber letztlich nie etwas, der Weg zur Macht führt ausschließlich über die Männer. Hatten Sie beim Schreiben das Bedürfnis, mit Genre-Konventionen zu brechen?
Antwort: Prinzipiell habe ich mir nur eine Regel auferlegt, die ich wirklich niemals brechen werde: das Happy End. Männliche Autoren machen das gern mal, sie töten dann am Ende die Frau. Das ist für mich aber kein Liebesroman mehr. Meine Geschichten sind beileibe nicht immer historisch korrekt, aber an ein paar grundlegende Fakten der Regency-Zeit will ich mich doch halten: Frauen werden erst in 50 Jahren studieren und erst in 100 Jahren wählen dürfen."
Ganz schön um die Frage herumlaviert… könnte man sich nicht auch ein Narrativ vorstellen, in dem eine Frau einen Weg zu einer Art von Macht findet, der nicht über Männer geht, und der trotzdem in einen Liebesroman passt? Aber es ist ja noch nicht aller Tage Tanzabend, und es sind bestimmt noch nicht alle Regency-Romane geschrieben, befürchte ich.
Erinnerung an Thomas Heise
Dokumentarfilmautor und -regisseur, dem man garantiert keinen Grenzkitsch vorwerfen kann. Neben vielen anderen bringt auch der Spiegel hier einen Nachruf auf Thomas Heise, der mit nur 68 Jahren starb. Im Spiegel heißt es:
"Als Chronist der deutsch-deutschen Umbrüche wurde Heise zu einer auch international viel beachteten Stimme. (…) Immer wieder beklagte Heise westdeutsche Unkenntnis und Ignoranz bezüglich des Ostens. 'Wenn man im Gefängnis sitzt', umschrieb er die Situation von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern, 'will man unbedingt rausgucken, will was von der Welt mitbekommen, ist sehr aufmerksam im Sehen des Anderen. Aber wer guckt schon von draußen ins Gefängnis rein, um dort etwas anderes zu sehen?'"
Der Tagesspiegel bezeichnet Heise als "einen, der immer eine Perspektive fernab des Mainstreams fand", erinnert an sein dreieinhalbstündiges Mammutwerk "Heimat ist ein Raum aus Zeit" über seine Familie, und bilanziert liebevoll:
"Thomas Heises Blick wird fehlen. Unfähig zu Draufsichten, zu Kurzsichten, öffnete er Zwischen- und Nebenräume. Aber vor allem blieb er 'sub', immer von unten, konnte die Dinge, die Landschaften erzählen lassen über Menschen – eigentlich darf 'Heimat ist ein Raum aus Zeit' auch als Landschaftsmeditation gelten. Undenkbar, er hätte diesen großartigen, ebenso schonungslosen wie zärtlichen Film nicht mehr gemacht. Deutsche Geschichte als Porträt dreier Generationen einer nie heilen Familie."
Aus jenem Film sind mir neben der berührenden Tragik der Geschichte an sich vor allem die sorgfältigen, ruhigen, literarisch beeindruckenden Off-Texte im Gedächtnis geblieben, die mit dem Adjektiv "zärtlich" treffend beschrieben sind. So liest Heise eine Nachricht vor, in der einer seiner Ahnen tiefe Gefühle situativ beschreibt: "Wir sitzen zusammen und lesen. Manchmal schaust du auf, manchmal schau ich auf. Manchmal schauen wir beide auf." Romantischer lässt es sich kaum sagen.
Altpapierkorb (mit Peak TV und TV Hits der Zukunft, Baby Reindeer und Redaktionsausdünnung bei der SZ)
+++ Immer wieder gibt es Neues vom Peak TV, hier beschreibt Variety (€) mögliche Strategien, die Fernsehsender und Streamer zur Konsolidierung fahren könnten.
+++ In dem Zusammenhang auch interessant: Dieser Variety-Artikel über potentielle Fernsehhits der Zukunft, die sich angeblich in gewisser Weise antizipieren lassen.
+++ Und wo wir gerade so schön im Thema sind: Die Vanity Fair beschreibt hier das „Baby Reindeer Dilemma“, also die Frage danach, inwiefern man selbsterlebte "Fakten" in seine "Fiktion" mischen darf – und inwiefern unsere subjektive Welt und Wahrnehmung "Fakten“ überhaupt beinhaltet: "What rights do people have over how they are portrayed? Who safeguards the facts? And how real is too real?" Die genannte Serie "Baby Reindeer" des schottischen Comedian Richard Gadd erzählt aus Sicht des Opfers (ihm selbst) von einer Stalkerin – die Frau, auf der der Stalker-Charakter beruht, ist nicht amüsiert und hat jetzt eine New Yorker Rechtsanwaltskanzlei eingeschaltet.
+++ Dass der Journalist Cornelius Pollmer die Süddeutsche verlassen wird, weiß der Medieninsider, gefolgt von der vielfach ausgezeichneten Kollegin Nele Pollatschek, die ebenfalls zur "Zeit" wechselt. Verschiedene Begründungsansätze:
"Die Wechsel erfolgen in einer nach wie vor turbulenten Zeit bei der Süddeutschen Zeitung. Nach dem großen Sparprogramm vor drei Jahren müssen die Kosten nun noch weiter zurückgefahren werden, im Hintergrund schwelt ein Sparstreit über weiteren Abbau freier wie auch fester Stellen. Zudem machte die SZ negative Schlagzeilen über den Umgang mit ihren redaktionellen Mitgliedern. Zeitgleich sieht sich die Chefredaktion wegen zahlreicher Fehler in den vergangenen Monaten großer Kritik ausgesetzt. Zu ihnen hatte Chefredakteur Wolfgang Krach eben erst Stellung genommen."
Das Altpapier am Montag schreibt Klaus Raab. Schönes Wochenende!