Kolumne: Das Altpapier am 29. Mai 2024 Sylt: keine Differenzierung erwünscht?
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29. Mai 2024, 10:55 Uhr
Das Video von Sylt hat zwei Probleme: Rassismus und die Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Trotzdem wurde lange nur ein Problem in den Medien thematisiert. Warum eigentlich? Heute kommentiert Johanna Bernklau die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Rache vs. Rechtsstaat
Das skandalöse Sylt-Video (zuletzt gestern im Altpapier) hat zwei Probleme: Rassismus und Persönlichkeitsrechtsverletzungen.
Beide bestehen seit dem Zeitpunkt, zu dem das Video das erste Mal geteilt wurde. Trotzdem wurde lange nur über das Rassismus-Problem geredet und erst in den letzten Tagen liest und hört man auch Meinungen, die die Persönlichkeitsrechte der rassistischen Sänger in Schutz nehmen.
Was ist passiert: Junge Leute aus der Oberschicht feiern auf Sylt, dichten dabei den Song "L’amour toujours" in ausländerfeindliche Parolen um, grölen sie lautstark mit und eine Person deutet einen Hitlergruß an. Ein Video davon landet im Netz, die Gesichter der Beteiligten sind gut zu erkennen, ein Aufschrei geht durch Deutschland. Zurecht.
Selbsternannte Social-Media-Detektive finden die Klarnamen der Personen aus dem Video heraus, stellen sie und ihre LinkedIn-Profile online, manche verlieren dadurch ihren Job (wie viel Bestand diese Kündigungen allerdings haben, steht nochmal auf einem ganz anderen Blatt). Social Media feiert sich und ist stolz auf das, was es in so kurzer Zeit geschafft hat.
"Das geht von der einen extremen Richtung in die nächste", sagte Innenministerin Nancy Faeser dann am Sonntagabend bei der Sendung von "Caren Miosga" (tagesschau).
So etwas ist schon mal passiert – dass sich die Internetöffentlichkeit in ihrer Empörung verbündet, um etwas gegen den Feind zu tun. Ende April recherchierte ein Internetmob die echten Charaktere hinter der Netflix-Serie "Rentierbaby", deren Stalking-Geschichte auf einer wahren Begebenheit beruht. Ergebnis: Zahlreiche Unschuldige wurden zu Unrecht an den Pranger gestellt und fühlten sich selbst wie Stalkingopfer.
Ähnlich ist es nun auch im Sylt-Fall. Die ersten kritischen Medienberichte erschienen, nachdem Frauen auf Social Media davon erzählten, wie sie zu Unrecht verdächtigt wurden, in dem Video aufzutauchen – aufgrund ihrer Namen oder der vermeintlichen Ähnlichkeit ihrer Gesichter.
Darüber berichtet zum Beispiel der "Kölner Stadtanzeiger". Eine Frau sei aufgrund ihres Nachnamens fälschlicherweise für die Frau aus dem Video gehalten worden und habe deshalb hunderte von Hassnachrichten bekommen. Das berichtet sie in einem TikTok-Video. Der "Kölner Stadtanzeiger" kürzt ihren Nachnamen in seinem Bericht zwar konsequent mit dem ersten Buchstaben ab – nur, um dann das TikTok-Video einzubetten, das das Verwechslungsopfer unter ihrem vollen Nachnamen veröffentlicht hat.
Besser hat das der "Spiegel" in diesem Kommentar von Angela Gruber gemacht. Dort heißt es im Fließtext:
"Anmerkung d. Red.: Weil das TikTok-Video Hinweise auf Klarnamen gibt, verlinken wir dieses nicht."
In dem sehr lesenswerten Kommentar, in dem Gruber die Situation sehr treffend schildert, schreibt sie unter anderem:
"Die Onlinedynamik zielt darauf ab, die Gezeigten zu identifizieren, diesen zu drohen, sie zu beleidigen, einzuschüchtern oder anderweitig zu schädigen. Das ist eines Rechtsstaats unwürdig. Wer andere digital verfolgt und mit Häme überzieht, der engagiert sich damit nicht für die Demokratie."
Willkommen im Rechtsstaat
Diese "Onlinedynamik", die der "Spiegel" wiederum in einem anderen Beitrag "Schwarmintelligenz" nennt und Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen "digitale Menschenjagd" ("mediasres"), hat eigentlich einen ganz anderen Namen: Doxing.
In der "Süddeutschen Zeitung" wird der Begriff so erklärt:
"Der Begriff stammt aus den Frühzeiten des Internets, als anonyme Hacker sich in Usenet-Gruppen - dem Social Web jener Zeit - gegenseitig in 'flame wars' beleidigten und bekriegten. Die letzte Eskalationsstufe bestand darin, den Kontrahenten zu "doxen": aus dem Netz zusammengeklaubte Dokumente (docs, daher der Name), die Rückschlüsse über die Person hinter dem gegnerischen Pseudonym zuließen, zu veröffentlichten."
Doxing ist in Deutschland verboten. Aus gutem Grund: So produktiv sich das gemeinsame Recherchieren online angefühlt haben mag, so sehr verletzt diese Form von Selbstjustiz die Persönlichkeitsrechte der Personen in dem Video. Und – willkommen in Deutschland – hier gibt es auch Rechte für Rechte.
Medienrechtler Michael Terhaag sagt im Interview mit dem "Stern":
"Es gibt gute Gründe, weswegen in Deutschland Gerichtsverfahren ein halbes oder sogar ein Jahr lang dauern. Die Justiz ermittelt gründlich und umfassend. Lynchjustiz, wie sie früher auf Marktplätzen stattgefunden hat, das wollen wir doch nicht. Gerade auf Social Media hauen die Leute ungefiltert Bilder, Fotos und Hasskommentare raus, ohne sich Gedanken darüber zu machen. Wenn sich früher Menschen über jemanden oder etwas aufgeregt haben, haben sie einen Brief an die Lokalzeitung geschrieben und sich 'ausgekotzt', und manchmal wurde er dann gedruckt. Heute gibt es diesen Filter nicht mehr."
Auch andere Medienrechtler, die in den letzten Tagen von sämtlichen Medien zu dem Thema befragt wurden, sehen in der Veröffentlichung der Klarnamen einen Verstoß gegen Persönlichkeitsrechte.
"Ich würde sagen, dass es für das Informationsinteresse nicht erforderlich ist, die Klarnamen zu kennen. […] So abscheulich das Verhalten dieser Menschen auch sein mag: Sie haben Persönlichkeitsrechte. Und die müssen beachtet werden." – Internetrechtler Philipp Obladen (WDR)
"Es ist immer ein Abwägungsprozess zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem, was Persönlichkeitsrechte ausmacht. Aber man kann sehr wohl die Frage stellen […], ob es nötig ist, den Klarnamen zu enthüllen und Menschen in dieser Weise dann für die Verfolgung freizugeben." – Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen ("mediasres")
Doch nicht nur die Namensnennung wird als problematisch eingeschätzt – in einem "FAZ"-Beitrag erklärt Medienanwalt Felix Damm, warum er die identifizierende Berichterstattung der "Bild"-Zeitung für rechtswidrig hält:
"Man kann über den Vorgang berichten, ohne die Personen im Bild vorzuführen und ohne Umstände aus deren Privatsphäre öffentlich zu machen."
Die "Bild" hatte plakativ Screenshots aus dem Video herausgepickt und die Personen darin (mit abgekürztem Nachnamen) vorgestellt, teils ihren Wohnort oder ihren Beruf genannt. Am Dienstag äußerte sich die Zeitung zu den Vorwürfen. In dem Statement heißt es unter anderem:
"Die unsäglichen Gesänge und eindeutigen Bekundungen von Sylt wurden von den Tätern selbst im Video verbreitet und geteilt. BILD berichtet darüber und nennt die Schande beim Namen. Wir zeigen diese, wie wir unterschiedslos auch anderen rassistischen, antisemitischen oder gewaltsamen Taten und gesellschaftlich relevanten Vorgängen, die derart im Interesse der Öffentlichkeit stehen, ihr Gesicht geben."
Auch der WDR entscheidet sich gegen eine Verpixelung,
"da es sich um ein zeitgeschichtliches Ereignis handelt und dies stärker wiegt als die Interessen der gezeigten Personen. Außerdem haben sie sich selbst in eine zumindest halb-öffentliche Lage gebracht und mussten damit rechnen, dass diese Bilder an die Öffentlichkeit gelangen."
Bitte nicht differenzieren
Interessanterweise ist es dann ausgerechnet das junge Format "tickr.news" von WDR aktuell, das auf Instagram entgegen der dort vorherrschenden Meinung für die Persönlichkeitsrechte der Personen in dem Sylt-Video eintritt.
In seinem Kommentar erklärt Ilias Hamdani, warum er es "komplett daneben" findet, dass die Klarnamen der Leute veröffentlicht wurden. Ziemlich mutig, wenn man bedenkt, wie sehr sich Social Media für seine "Rechercheerfolge" feiert.
Das sieht man dann auch in den Kommentaren:
"Täterschutz ist natürlich wichtiger als alles andere" oder
"Solange man sich in Deutschland so sicher dabei fühlt, diese Parolen zu rufen, geht die 'Hetzjagd' noch nicht weit genug" oder
"Naja, hätten die ja selbst mal drüber nachdenken können! Kein Mitleid! Und die brauchen keine 2. Chance sondern nur Papas Geld".
Es ist erschreckend, wie unreflektiert die Kommentare zum Teil sind, wie sehr sie die Rechte, die eben auch Täter in Deutschland haben, mit Füßen treten und dabei vermeintlich für das Richtige, nämlich gegen Rassismus einstehen.
Die grauen Zwischentöne in dieser schwarz-weißen Debatte sind rar gesät, weil es für manche schwer zu verstehen ist, dass man gleichzeitig gegen Rassismus und für den Schutz von Persönlichkeitsrechten sein kann.
Altpapierkorb (Regionaljournalismus in der Schweiz, Gerichtserfolg gegen RTL, neuer "tagesschau"-Podcast, Steffen Klusmann)
+++ Warum selbst das große Medienunternehmen CH Media, das die reichweitenstärkste Zeitung der Schweiz herausgibt, mit großen Problemen zu kämpfen hat, hat Dennis Bühler für "Die Republik" aufgeschrieben. Spoiler: Im Regionaljournalismus läuft es auch in der Schweiz nicht gut.
+++ Die Journalistin und Filmemacherin Jana Bernhardt hat in ihrem mittlerweile sieben Jahre andauernden Streit mit RTL einen ersten Erfolg eingefahren: Sie wirft dem Sender vor, für mehrere Reportagen unverhältnismäßig wenig Geld bekommen zu haben. Vor Gericht wurde RTL nun verpflichtet, seine Werbeeinnahmen offenzulegen – Bernhardt hofft, damit unter Berufung auf den "Fairnessparagraphen" aus dem Urheberrecht eine höhere Bezahlung zu erwirken, wie dwdl.de berichtet.
+++ Ab kommender Woche startet die "tagesschau" einen neuen Podcast. Anders als bei "11km", der Themen vertieft, soll der neue Podcast ein 15-Minuten-Format für den Morgen werden (dwdl).
+++ Ex-"Spiegel"-Chefredakteur Steffen Klusmann wird Berater bei den Portalen "web.de" und "gmx", wie turi2 meldet. +++
Das Altpapier am Donnerstag schreibt René Martens.