Kolumne: Das Altpapier am 21. Mai 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 6 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G
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Journalisten sollten ihre Themen selbst setzen - und sie nicht von Politikern setzen lassen. Das fordern die Autoren einer neuen Studie zur Wirtschaftsberichterstattung in ARD und ZDF.

Di 21.05.2024 13:41Uhr 05:33 min

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Kolumne: Das Altpapier am 21. Mai 2024 Jeden Monat ein Jahrhundertereignis

21. Mai 2024, 13:07 Uhr

Journalisten sollten ihre Themen selbst setzen - und sie nicht von Politikern setzen lassen. Das fordern die Autoren einer neuen Studie zur Wirtschaftsberichterstattung in ARD und ZDF. Es täte dem gesamten politischen Journalismus gut, wenn er dies beherzigte. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Keiner fragt Scholz

Wenn Journalistinnen und Journalisten über einen Großbrand berichten, und die Ursache für das Feuer Brandstiftung ist, erwähnen sie das in ihren Beiträgen. Wenn bereits feststeht, wer der Brandstifter war, erwähnen sie das ebenfalls.

Wenn sie über Hochwasser-Katastrophen berichten, fehlen solche essenziellen Informationen sehr oft. Bei der Berichterstattung über die Überschwemmungen im Südwesten fehlte die Formulierung "globale Erhitzung" (oder ein ähnliches Stichwort) am Wochenende in jenen fünf Sendungen, die ich mir angeschaut habe: am Samstag und Sonntag in der 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau", ebenfalls am Samstag und Sonntag im "Heute-Journal" sowie am Samstag in den "Tagesthemen".

Stattdessen hörten wir zum Beispiel: "Hier wird gepumpt, gepumpt, gepumpt und gepumpt" (Susanne Freitag-Carteron im samstäglichen "Heute-Journal" mit einer Faszination, die andere Altersgruppen für "Bob, der Baumeister" empfinden). Im Beitrag vor dieser Schalte war von "saarländischer Schaffenskraft" die Rede. Tags darauf hieß es in der Sendung: "Jeder packt mit an." Der typische Durchhalteparolen-Journalismus also, der bei den Zuschauern, bei denen gerade nicht die Welt untergeht, für ein paar positive Vibes sorgen soll.

Wenn man meint, dass der Aspekt Erderwärmung nicht in den Bericht gehört, könnte man dazu nach den Vor-Ort-Eindrücken ja wenigstens einen Experten interviewen - wie es kürzlich "ZIB 2" (ORF 2) bei einem anderen Extremwetterereignis (30 Grad Anfang April) gemacht hat (ab 20:50). Auch das geschah in den erwähnten Sendungen aber nicht.

Gewiss, in der ZDF-Textberichterstattung findet man die entscheidenden Informationen zur Hochwasserkatastrophe - in einem Beitrag von Wettermoderator Özden Terli (siehe dazu auch ein Interview mit ihm in der "Saarbrücker Zeitung"). Aber damit lässt sich ja nun keineswegs rechtfertigen, dass man in Nachrichtensendungen im Hauptprogramm das Wichtige weglässt.

Lorenz Matzat hat in seinem neuen Newsletter "Kollapsjournalismus" (Altpapier) unter anderem kritisiert, dass die derzeitige Klimaberichterstattung von "Verdrängungsjournalismus" geprägt sei. Die bisherige Berichterstattung über das Hochwasser im Südwesten bestätigt das.

Ein weiterer Beleg dafür, dass "Verdrängungsjournalismus" vorherrscht: die von der Bundesregierung veröffentlichte "Mitschrift" der "Pressekonferenz" im Hochwassergebiet mit Anke Rehlinger und Olaf Scholz, deren Inhalte überall Verwendung fanden. Die PK beginnt so:

"Herzlich willkommen in Kleinblittersdorf. Die Ministerpräsidentin wird beginnen, dann der Bundeskanzler. Danach hätten wir Zeit für drei bis vier Fragen."

Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort stellten, wie dieser Mitschrift zu entnehmen ist, dann aber nur eine Frage ("Frau Rehlinger, was kann das Land, was kann der Bund tun, um in so einer Situation konkret zu helfen?"). Scholz blieb also unbefragt. Wenn man als Reporterin oder Reporter in einer nachrichtlich außergewöhnlichen Situation den Bundeskanzler vor der Linse bzw. dem Mikro hat: Wieso stellt man da keine Fragen?

Zumal einige Fragen ja auf der Hand lagen, um es zurückhaltend zu formulieren. Am Donnerstag hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ein Urteil gegen "die Pseudo-Klimaschutzpolitik der Bundesregierung" gefällt (wie es Jürgen Resch, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, die geklagt hatte, formulierte). Am Freitag hat der Bundesrat das "Ihr seid das Volk? Wir sind Volker!"-Gesetz gebilligt, das Volker Wissings Ministerium Klimaschutzmissachtungsfreiheiten einräumt. Warum also hat niemand Scholz gefragt, welchen Anteil "die Pseudo-Klimaschutzpolitik der Bundesregierung" an der Katastrophe im Saarland hat und warum es keine Klimaschutzpolitik gibt, die den Namen verdient? Und warum hat niemand den Satz "Leider ist das ja hier nicht das erste Mal, dass wir eine große Naturkatastrophe zu bewältigen haben und deshalb werden wir natürlich schauen, was hier notwendig und jetzt zu tun ist" als Einladung für die Frage genommen, ob er denn bereit sei, sich mit dieser Routine zu arrangieren?

"Europäische Aspekte werden nicht kontinuierlich beachtet"

Über das Informationsprogramm der Öffentlich-Rechtlichen sind viele nicht empirisch gesättigte "Meinungen" im Umlauf, an substanziellen Programmauswertungen mangelt es.

Erfreulich daher, dass Henrik Müller und Gerret von Nordheim hier für einen Teilbereich Abhilfe schaffen. "Viel Kraft - wenig Biss. Wirtschaftsberichterstattung in ARD und ZDF" lautet der Titel ihres für die Otto-Brenner-Stiftung erstellten "Arbeitspapiers". Es basiert auf der Auswertung von "knapp 5.800 Sendungen mit rund 3.400 Stunden Programm".

In der Kurzfassung des Arbeitspapiers heißt es:

"Das größte Fragezeichen, das in den Ergebnissen der Untersuchung aufscheint, ist der inhaltliche Mix der Wirtschaftsmagazine. Die Inhalte der Wirtschaftsmagazine adressieren das Publikum überwiegend, in rund 65 Prozent der Beiträge, in der Rolle als Verbraucherinnen und Verbraucher. Der Fokus liegt auf individuellen Reaktionsmöglichkeiten auf wirtschaftliche Ereignisse."

Das kann und muss man kritisieren, allerdings bezeichnen sich drei der untersuchten acht "regelmäßigen Wirtschaftsformate" - "Markt" (NDR), "Supermarkt" (RBB) und "Marktcheck" (SWR) - explizit als "Verbrauchermagazin". Die bieten also das, was sie versprechen. Außerdem kritisiert das Autorenduo:

"Unterbelichtet bleibt in der Berichterstattung vor allem die internationale Dimension der Wirtschaft. Europäische Aspekte und Entwicklungen im Ausland werden nicht kontinuierlich, sondern allenfalls ereignisbezogen beachtet."

Diese Kritik könnte also einen Impuls liefern für die Debatten zur Qualität der hiesigen Europa-Berichterstattung (falls es die anlässlich der Europawahl noch geben wird).

In der Langfassung der Studie machen Müller/von Nordheim einige Feststellungen, die über die wirtschaftspolitische Berichterstattung hinaus gültig sind. Zum Beispiel:

"Die Nachrichtenformate folgen in ihrer wirtschaftspolitischen Berichterstattung in weiten Teilen der Agenda des politischen Berlins (…) Was in der Gesamtschau der Ergebnisse über alle Formate hinweg fehlt, ist eine wirtschaftspolitische Berichterstattung mit (…) eigener Schwerpunktsetzung."

Etwas schärfer formuliert es Müller bei Zeit Online in einem Gastbeitrag zum Erscheinen der Studie:

"Unabhängige Redaktionen sollten in der Lage sein, auf Basis eigener Analysefähigkeiten Themen zu setzen. Es braucht keinen Auftritt in der Bundespressekonferenz (oder was sonst so als politisches Ereignis durchgeht)."

Der Satz "Unabhängige Redaktionen sollten in der Lage sein, auf Basis eigener Analysefähigkeiten Themen zu setzen" verweist, wie bereits angedeutet, auf einen zentralen Missstand des politischen Journalismus insgesamt.

Im Moment scheint es im deutschen Politikjournalismus ja nur eine Person zu geben, die Themen setzt, und das ist Christian Lindner. Jedes Bäuerchen von ihm versetzt Nachrichtenjournalisten in Habachtstellung. Was dieser Finanzminister "will" oder "fordert", ist in einer Frequenz zu lesen und zu hören, die all seine noch lebenden Amtsvorgänger Tag für Tag vor Neid erblassen lassen dürfte.

Apropos Lindner: Er hat schon wieder die Gemeinde der Desinformationsgläubigen getriggert. Dazu DLF-Redakteurin Ann-Kathrin Büüsker bei Bluesky:

"Christian Lindner bedient im ZDF wieder das Desinformations-Narrativ, Deutschland würde mit Steuermitteln 'Radwege in Peru' finanzieren. Dieser Hoax wurde von AfD-Vertretern in die Welt gesetzt, die behaupten, hunderte Millionen würden dort investiert. Tatsächlich sind’s vor allem KfW-Kredite."

Das war am Donnerstagabend im "Heute-Journal" im Interview mit Christian Sievers. Wir hatten Anfang der vergangenen Woche darauf hingewiesen, dass Lindner dieses eigentlich längst als Falscherzählung ausgewiesene Narrativ revitalisiert hat, zahlreiche Journalisten es einordnungsfrei verbreitet haben und "Bericht aus Berlin"-Moderator Matthias Deiss es ebenso einordnungsfrei aufgegriffen hat. Auch Sievers, der beste Interviewer, den die Nachrichtenmagazinsendungen "Tagesthemen" und "Heute-Journal" derzeit aufzubieten haben, ordnet nicht ein, benennt nicht die fragwürdige Kommunikationsstrategie des Herrn Ministers.

Eine "Pointe", die ich Anfang der vergangenen Woche noch nicht kannte, ist mir erst durch ein Posting des grünen NRW-Landesvorsitzenden Tim Achtermeyer nach der ZDF-Sendung klar geworden: Im Verwaltungsrat der erwähnten Förderbank KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau), über deren konkretes Wirken in Peru man sich hier und hier informieren kann, ist Lindner stellvertretender Verwaltungsratsvorsitzender.

Lindner sitzt dank seiner Tätigkeit im Aufsichtsgremium also eigentlich direkt an der Informationsquelle: Bevor im Januar eine breitere, wenn auch vergleichsweise kleine Öffentlichkeit mitbekam, dass das "Radwege in Peru"-Narrativ auf völlig falschen Angaben fußte, musste er das bereits gewusst haben. In anderen Fällen würde man sich wahrscheinlich fragen, ob so eine Person überhaupt geeignet ist, eine Tätigkeit in einem Kontrollgremium auszuüben.

Mit Rechten reden - von Thurn und Taxis bis Trump

Mit der Formulierung "gilt als" habe ich mich auch schon oft beholfen, obwohl bei mir meistens die Warnsignale angehen, wenn andere darauf zurückgreifen. "Gloria von Thurn und Taxis gilt als Galionsfigur der Neuen Rechten", steht nun über einem Interview mit besagter Blaublüterin, das in der aktuellen Ausgabe der "Zeit" erschienen ist. Es wirkt wie eine sehr bemühte Rechtfertigung dafür, dass man an prominenter Stelle der Zeitung (Seite 3) ein ganzseitiges Gespräch mit einer Person veröffentlicht, die keinerlei politische Funktion hat und die mit Äußerungen von schwer zu übertreffender Krudheit - "Höcke ist … ein deutscher Idealist, ein Träumer. Solche Leute kommen irgendwann in der Wirklichkeit an" - nicht geizt.

Immerhin gibt es in dem Interview eine amüsante Passage mit einem leicht medienhistorischen Einschlag, es geht darin um Hans-Georg Maaßen. Die Interviewerin Elisabeth Raether sagt:

"Maaßen musste 2018 gehen, weil es keine Belege gab für seine Aussage, dass ein Video, das rechte Ausschreitungen in Chemnitz zeigt, gezielte Falschinformation sei."

Woraufhin von Thurn und Taxis anmerkt:

"Der professionelle Informationshorizont hat offensichtlich eine solche Interpretation ermöglicht."

Vielleicht etabliert sich das ja, als, tja, Alternative zu der 2017 von der früheren Trump-Beraterin Kellyanne Conway geprägten Formulierung "alternative Fakten".

Geht es bei solchen Interviews um Abos? Schauen wir doch mal, was es der "Welt" brachte, dass sie die Aufzeichnung des Voigt-Höcke-Schauspiels nur für Leute bereithielt, die ein Abo hatten oder bereit waren, (probeweise) eines abzuschließen.

Der "Medieninsider" hat die Zahlen dazu. Demnach wuchs "Die Welt" "im April (…) unter 0,5 Prozent und unter den eigenen Durchschnittswerten der vergangenen zwölf Monate" - wobei "Die Welt" selbst aber stolz wie Bolle ist, "deutlich vierstellige Zugänge mit dem TV-Duell erzielt" zu haben.

Für die SZ blickt Peter Burghardt voraus auf die beiden TV-Duelle zwischen Joe Biden und Donald Trump im Juni und September. Den einen oder anderen Aspekt aus der relativ frischen deutschen Debatte - etwa zu der Frage, ob ein Faschist von so einem TV-Duell nicht immer profitiert, egal wie es verläuft - hätte Burghardt natürlich extrapolieren können, aber er legt es eher auf Launigkeit an.

Michael Tomasky prognostiziert im Politikmagazin "The New Republic" Folgendes:

"Trump ist wahnhaft genug, um zu glauben, dass er mit Biden den Boden aufwischen wird. Dann wird er sehen, dass Biden nicht der Vollidiot ist, für den er ihn hält, und dass er sich auf einer Debattenbühne tatsächlich behaupten kann, und die Debatte wird keinen klaren Gewinner oder Verlierer haben, sondern weil Biden einfach kein aggressives Arschloch und wütender Egomane ist und einfühlsamer rüberkommt, wird er die Insta-Polls um 10 bis 15 Punkte gewinnen, und Trump wird schließlich eine Ausrede finden, um die zweite Debatte auszulassen und ein kleines Nürnberg zu finden, wo er eine Kundgebung abhalten und darüber jammern kann, dass er der am meisten verfolgte Mann in der Geschichte des Planeten ist."

Die zu große Bandbreite historischer Momente

Warum zitieren wir eigentlich hin und wieder aus US-amerikanischen Mediendebatten? Zum einen: Wenn es um Grundsätzliches geht, lassen sie sich teilweise auf deutsche Verhältnisse übertragen. Zum anderen: Was profunde Medienkritik angeht, gibt es in den USA eine weitaus breitere Spitze als in Deutschland. Wobei das teilweise in der Natur der Sache liegt (größeres Land, größere Bevölkerung, mehr Journalisten).

Der frühere MSBNC-Moderator Mehdi Hasan betont in einem Interview mit "The Ink" - einem dieser vielen Magazine in Newsletter-Form -, dass bei aller Fundamentalkritik die strukturellen Probleme der Branche nicht in Vergessenheit geraten dürften:

"Die Medien haben es schwer, sowohl aus verständlichen Gründen als auch aus Gründen, die sie selbst verursacht haben (…) Ich war sehr kritisch gegenüber den US-Medien im Besonderen. Ich war kritisch, als ich bei MSNBC war, und ich bin kritisch, seit ich MSNBC verlassen habe. Aber ich verteidige die Medien auch, wenn es darum geht, sie vor bösgläubigen Akteuren (…) zu schützen."

Bezugnehmend auf das im Fall eines Trump-Wahlsieges drohende Ende der Demokratie in den USA, sagt Hasan:

"Wir befinden uns in einem historischen Moment, und man kann zu dieser Liste noch eine Pandemie hinzufügen, die es nur einmal im Jahrhundert gab, aber alles, was einmal im Jahrhundert war, gibt es jetzt einmal im Jahr oder im Monat."

Das "Problem" sei also die "Bandbreite" der mehr oder weniger historischen Momente. Hier lässt sich auch ein Bezug zu den aktuellen Überschwemmungs-Regionen herstellen, von Kleinblittersdorf bis Fariab, von Kenia bis Südbrasilien.

Annika Joeres kommentiert ein Zitat aus einem Text über das Hochwasser im Saarland so:

"Vermutlich sagt einmal am Tag eine ganze Region in Europa: 'So etwas haben wir noch nie erlebt.'"

Und Christian Stöcker konstatiert in seiner aktuellen "Spiegel"-Kolumne:

"Naturkatastrophen (passieren) im Moment weltweit so viele, dass die Nachrichtensendungen gar nicht mehr alle abbilden."

Zurück zum Interview mit Hasan. Seine Schlussfolgerung:

"Daher ist es für eine Medienbranche, die mit der Bindung von Zuschauern und Lesern, mit Budgetproblemen und mit dem Werbemarkt zu kämpfen hat, schwierig, all diese Dinge zu behandeln. Und in einem Moment, in dem wir wirklich eine Bestandsaufnahme der Bedrohungen für unser Leben, unseren Planeten und unsere Demokratie machen müssen, haben wir einen Haufen Medienorganisationen, die super vorsichtig, super unfähig und oft unwillig sind, das zu tun."

Konkret greift Hasan dann die "New York Times" an (siehe dazu die vergleichbare Kritik in diesem und diesem Altpapier):

"It is the job of The New York Times to point out a demonstrable, undeniable fact: Joe Biden supports democracy and Donald Trump doesn't. That is not opinion. That is fact. Now, if Times readers still want to vote for Donald Trump after that, good luck."

Symptome der Morbus NYT kennen wir auch in Deutschland. Auftritt Julia Ruhs, Mitarbeiterin beim Bayerischen Rundfunk. In einer Kolumne für "Focus" schreibt sie:

"Ich bin weder AfD-Sympathisant noch Sympathisant dieser aufgeregten Anti-AfD-Blase."

Der Christdemokrat Ruprecht Polenz schreibt dazu bei Threads:

"Dahin kommt man, wenn man demokratische Parteien nicht von Feinden der Demokratie unterscheiden kann."

Abgesehen davon: Was für Ruhs eine "Blase" ist, ist tatsächlich "die größte Protestwelle in der Geschichte der Bundesrepublik".


Altpapierkorb (verzerrter deutscher Blick auf Studentenproteste in den USA, verlorener Diskursraum X, von Hirschhausens Minutenlohn, Schertz-Doku-Rezeption reloaded, Staatsvertrags-Verstoß Namibia-Doku)

+++ Adrian Daubs Kritik an der Berichterstattung über die Studenten-Proteste in den USA haben wir an dieser Stelle neulich aufgegriffen. Dem Thema widmet sich der Stanforder Germanistikprofessor nun erneut - dieses Mal gemeinsam mit dem freien US-Korrespondenten Lukas Hermsmeier bei "Analyse & Kritik": "In der Berichterstattung über die Student*innenproteste in den USA (…) wurde (…) ein Bild gezeichnet, das wenig mit der Realität zu tun hatte. Es kam zu Projektionen und Verzerrungen, die dann wiederum als rhetorische Untermauerung für Repressionen in Deutschland herangezogen wurden. Wer eine überwiegend friedliche Antikriegsbewegung in die Nähe Nazideutschlands rückt, entfernt sich von jeder journalistischen Professionalität und relativiert in der Tat auch den Antisemitismus." Letzterer Satz bezieht sich auf einen Text der Springer-Führungskraft Jennifer Wilton.

+++ Warum haben Regionalzeitungen oder deren Mitarbeiter ihre Accounts bei X - das gerade die letzte Erinnerung an den alten Namen getilgt hat - aufgegeben? Darüber habe ich für die aktuelle Ausgabe der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen "Drehscheibe" geschrieben. Unter anderem habe ich mit Hanning Voigts, Landtagskorrespondent der "Frankfurter Rundschau" gesprochen. Er sagt: "Oft wurde gesagt, es könnten nicht alle Guten gehen, dann übernehme ja komplett die Gegenseite den Laden. Das ist aber längst passiert. Wir linken, liberalen Demokrat*innen und an Aufklärung, Realität und Wahrheit interessierten Personen haben verloren. Am Tag, als Musk Twitter gekauft hat, haben wir diesen Diskursraum verloren. Das ist offensichtlich, das kann niemand leugnen."

+++ Am Pfingstsonnabend lief im Ersten eine der jährlich drei Ausgaben von Eckart von Hirschhausens Show "Was kann der Mensch?" Aus diesem Anlass fragte sich Volker Nünning: Was kriegt der Eckart? Für den "Medieninsider" schreibt Nünning dazu: "Nach Recherchen von Medieninsider kostet eine Ausgabe dieser Show insgesamt 1,3 Millionen Euro. Die drei vorgesehenen Folgen schlagen zusammen mit 3,9 Millionen Euro zu Buche. Eine Sendeminute kostet etwa 7150 Euro. Er bekommt für die Moderation einer Ausgabe nach Informationen von Medieninsider im Jahr 2024 ein Honorar von 65.000 Euro. Für die drei Ausgaben zusammen also 195.000 Euro. Umgerechnet pro Minute sind das etwa 360 Euro."

+++ Die ARD-Dokumentation "Der Star-Anwalt: Christian Schertz und die Medien" kam schon mehrmals vor im Altpapier, zuletzt gab es am Freitag einen kurzen Hinweis auf eine "Übermedien"-Rezension Stefan Niggemeiers. Die Debatte geht weiter: Für den aktuellen "Übermedien"-Newsletter schreibt Niggemeier aus einer dezidiert persönlichen Warte über Schertz ("Wir haben eine lange, sehr wechselvolle Geschichte miteinander"), und in den Kommentaren unter dem eigentlichen Artikel findet sich Kritik an der filmischen Machart. Kritik, die in ähnlicher Form auf viele öffentlich-rechtliche Dokumentationen zutrifft. Ein Kommentator namens "theo", offenbar selbst Filmemacher, schreibt zum Beispiel: "Wenn im Abspann sechs (!) Namen unter 'Design' aufgelistet werden, dass zeigt das m. E. die Schieflage dieser Doku ganz gut (…) Dann diese abendlichen Straßenszenen, die nullkommanichts mit dem Text zu tun hatten und 'irgendwie cool' wirken sollen. Vielleicht wollen sie alle so sein, wie sie sich Netflix vorstellen. Herr Schertz geht am Fenster auf und ab, das Ganze wird auch schemenhaft von der Straße aus gefilmt. Vielleicht aber geht Herr Schertz normalerweise nie am Fenster auf und ab – auch das Teil des Design-Pakets? Es wirkt so viel, zu viel inszeniert. Und wenn man so etwas macht, dann kann sich womöglich auch so ein Gedanke einschleichen, bestimmte Inhalte nicht mehr wahrhaben zu wollen, die so gar nicht in diese Inszenierung hineinpassen. Dann ist die Doku beinahe schon vor dem ersten Drehtag in trockenen Tüchern, man muss nur noch ein Drehbuch abfilmen."

+++ Öffentlich-rechtliche Dokus, andere Baustelle: "In 'Deutsche Schuld – Namibia und der Völkermord' sind so viele Schwächen komprimiert, dass der Film in Seminaren zur Produktion von Fernsehdokumentationen als ideales Negativbeispiel dienen könnte", schrieb ich im Oktober 2023 für "epd Medien" über eine NDR/MDR/RBB/SWR-Dokumentation. Damit lag ich in der Tendenz zwar richtig, aber insofern falsch, als jetzt davon auszugehen ist, dass dieser Film niemals wieder irgendwo gezeigt wird, zu welchem Zweck auch immer. Am Freitag stellte - wie etwa dwdl.de berichtet - der Rundfunkrat des bei dieser Produktion federführenden NDR fest: Der Anfang Dezember aus der Mediathek entfernte Film verstößt gegen den NDR-Staatsvertrag.

Das Altpapier am Mittwoch schreibt Johanna Bernklau.

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