Kolumne: Das Altpapier am 8. Mai 2024 Mehr Selbstbewusstsein, weniger Opportunismus!
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08. Mai 2024, 11:46 Uhr
Um für große deutsche Tageszeitungen über die Proteste an den US-Universitäten schreiben zu können, ist Ahnungslosigkeit eine unabdingbare Voraussetzung. Außerdem: Zehn Ideen gegen die Medienkrise. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Das Kreuz mit der Kachelpublizistik
Wer den Feier- und den Brückentag nutzen will, um sich ausführlich mit Ideen für besseren Journalismus zu beschäftigen, dem stehen zwei neue Handreichungen zur Verfügung: "Über Rechtsextreme reden? Empfehlungen für die mediale Berichterstattung", zusammengestellt vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas), und das "Plädoyer an die Presse. 10 Ideen gegen die Medienkrise", veröffentlicht vom "Volksverpetzer" und unterstützt von fünf Journalistenorganisationen (zum Beispiel Pro Quote und der Wissenschaftspressekonferenz).
"Keine Clickbait-Überschriften und -Kacheln verwenden", lautet eine der Cemas-Empfehlungen. Pia Lamberty und Maheba Goedeke Tort erläutern sie folgendermaßen:
"Zitate von Rechtsextremen in der Überschrift nutzen vor allem erst einmal Rechtsextremen und haben wenig journalistischen Mehrwert. Zusätzlich zeigen Studien, dass Menschen vielfach allein durch die Überschrift glauben, besser informiert zu sein und meist nur diese erinnern – selbst wenn der Text die Überschrift dekonstruiert. Vor allem, wenn ein Artikel hinter der Paywall ist, sollte die Überschrift besonders sorgsam gewählt werden."
Eine Ergänzung, keine Mäkelei: Vieles, was in der Berichterstattung über die AfD falsch läuft, läuft generell falsch: Das Genre der Kachelpublizistik ist grundsätzlich fragwürdig, völlig unabhängig davon, von welchem Politiker die Zitate stammen. Die Kacheln des Journalismus sind zu oft nur die kostenlosen Litfaßsäulen der Politik.
Eine nach meiner Einschätzung besonders hervorhebenswerte Empfehlung aus dem Cemas-Papier:
"Häufig liegt bei der Berichterstattung über Rechtsextremismus der Fokus auf Rechtsextremen selbst. Die Konsequenzen des Rechtsextremismus für direkt Betroffene, aber auch für die Gesellschaft insgesamt, geraten oft in den Hintergrund."
Ob das nun an mangelnder Empathie für die Betroffenen liegt oder an der Angst vor rechten Shitstorms, wäre noch zu erörtern. Zu ergänzen wäre an dieser Stelle vielleicht noch die Kritik daran, dass in Talkshows zivilgesellschaftliche Stimmen gegen Rechtsextremismus unterrepräsentiert sind.
An den "10 Ideen gegen die Medienkrise", die "Volksverpetzer" und Co. präsentieren, ist erst einmal bemerkenswert, dass mit "Krise" hier keine wirtschaftliche, sondern eine inhaltliche gemeint ist. Zu Beginn kritisieren die Autoren gleich mal jene Journalistinnen und Journalisten, "die so tun, als habe man eine außenstehende, beobachtende Rolle im Diskurs, die nicht 'eingreifen’ dürfe". Dieser erste und offenbar wichtigste Block des Plädoyers steht unter den Überschriften "Der Mythos Neutralität" und "Du gestaltest den Diskurs". In dem Zusammenhang heißt es:
"Es gibt kein Naturgesetz, das etablierte Medien verpflichtet, den rechten, demokratie- und wissenschaftsfeindlichen Narrativen hinterherzurennen. Sie können stattdessen andere, konstruktive und demokratische Narrative etablieren, sogar eigene Themen setzen – und so die Hoheit über den Diskurs zurückgewinnen."
Mehr Selbstbewusstsein, weniger Opportunismus - so ließe sich diese Forderung zusammenfassen. Das Plädoyer führt an dieser Stelle einen Gedanken aus einem "Volksverpetzer"-Artikel fort, den wir kürzlich mit Bezug auf ein Panel des Roman-Brodmann-Kolloqiums in Berlin schon zitiert haben. Er lautet:
"Die demokratische Gesellschaft kann sich nicht darauf beschränken, immer nur hinterherzurennen, Fakten zu checken und Fakes zu widerlegen. Wir müssen selbst unsere eigenen Narrative setzen. Nicht immer nur die falsche Empörung der Springermedien beschwichtigen, sondern uns auch einmal selbst empören."
Um Springer-Medien geht es in dem "Plädoyer" auch, insbesondere um die "Bild"-Zeitung:
"Sie wird entgegen den Tatsachen als seriöse Quelle behandelt und ihre Kampagnen dadurch fahrlässig sogar noch verstärkt. Es zerstört viel Vertrauen, wenn es offenbar keinen nachhaltigen, internen Kontrollmechanismus in der deutschen Medienlandschaft gibt. Das destruktive aktivistische Verhalten dieses und anderer Medien des Axel-Springer-Verlages verstärken (…) die Desinformationskrise in unserem Land (…)"
Ein Punkt fehlt in beiden Handreichungen: "Nicht auf rechtsextremes Agenda Setting hereinfallen", ist zwar eine Warnung in dem Cemas-Papier überschrieben, aber in den Blick nehmen sollte man nicht nur die offensichtliche Übernahme "rechtsextremen Agenda Settings", sondern auch das vergleichsweise unterschwellige affirmative Framing rechtsextremer Positionen und Strategien.
Was ich damit meine? Überschriften über wie "Was andere Parteien vom Erfolg der AfD lernen", am Wochenende veröffentlicht bei tagesschau.de. Es geht dabei um Tiktok. "Was andere Parteien vom Erfolg der AfD lernen"? Hallo? Hoffentlich nüscht.
Klar: Man muss darüber berichten, dass die AfD bei Tiktok weitaus mehr Nutzer erreicht, als andere Parteien. Aber: "Erfolg" und "lernen" sind viel zu positive Formulierungen. Ein anderes halbwegs aktuelles Beispiel: Wenn der "Spiegel" meint feststellen zu müssen, der argentinische Präsident Javier Milei haben einen "Etappensieg" errungen.
Siehe dazu diesen und diesen Post der Person, die bei Bluesky als "Drella" unterwegs ist und häufiger derartige Framings aufgreift (und mich auf die genannten Beispiele aufmerksam gemacht hat).
Die visionäre Klarheit der Ahnungslosen
Adrian Daub, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik an der Stanford University (im Altpapier hin und wieder zitiert, ausführlich zum Beispiel in diesem), hat bei Substack einen Artikel über die Proteste an den US-Universitäten veröffentlicht, den eigentlich eine große deutsche Tageszeitung bei ihm in Auftrag gegeben hatte. Der erschien dort aber nicht, denn:
"On Friday that week I was told that their editorial board (!) had decided that the text could not appear in the paper (…) – since I had unduly de-emphasized the raging antisemitism in the encampments. Which I don’t think is true, but whatever. More interestingly: this editorial board sits in Munich. So confident were they in their sense of what was happening on dozens of campuses that they’d never been to and knew no one at (…) Any local knowledge would have only unduly detracted from the visionary clarity of the image they had of US universities."
Offensichtlich wollten sich die Experten aus München ihre von diversen Karla Kolumnas etablierten "Phantasmen" nicht zerstören lassen. Letzteren Begriff verwendet Daub in der längeren Substack-Fassung:
"In den letzten 50 Jahren ist der Campus zu einer Projektionsfläche geworden (ein 'Phantasma', wie Samuel Catlin in einem brillanten Essay in Parapraxis schreibt)."
Nachdem die Hierarchen in München abgewunken hatten, schickte Daub den Text an "eine zweite überregionale Tageszeitung, die mich ebenfalls um einen Text gebeten hatte und für die ich mehr als 50 Artikel geschrieben habe". Die lieben Kollegen dort antworteten gar nicht.
Wer den Text, den die große Tageszeitung aus München und die andere erwähnte überregionale Zeitung (die Vermutung, dass sie im Bundesland Hessen ansässig ist, ist nicht kühn), lieber nicht drucken wollten, in der deutschen Fassung lesen will: Der "Freitag" hat ihn nun veröffentlicht. Daub schreibt:
"Dass die Blicke der westlichen Welt auf US-Universitäten gerichtet sind, ist (…) keineswegs neu. Seit Jahren hören wir, dass auf dem amerikanischen Campus die freie Meinungsäußerung mit Füßen getreten werde, die woke Orthodoxie wurde mit Polizeimetaphern belegt (Sprachpolizei, Sprechverbote). Wie viele Geschichten über Studierende, die an den Universitäten wegen Rassismus oder Sexismus "angeklagt" wurden, musste man in den letzten zehn Jahren in der Presse lesen? Passiert ist diesen Studierenden in der überwältigenden Zahl der Fälle überhaupt nichts. Nun wird die demokratische Meinungsäußerung hier tatsächlich mit Stiefeln getreten, nun werden tatsächlich Studierende und Professor:innen abgeführt. Nun hagelt es Suspendierungen, Verweise, Räumungen und Festnahmen. Und diejenigen, die noch vor wenigen Wochen denselben Studierenden genau erklären wollten, was für 'unbequeme‘ Meinungen man auf dem Campus 'aushalten‘ müsse, schweigen oder applaudieren gar."
Warum?
"Begründet wird dieser Applaus natürlich nicht mit Lust an der Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern mit der Bekämpfung von Antisemitismus. Dass in den Protestcamps auf den amerikanischen Campussen auch äußerst problematische Parolen skandiert werden, dass viele der Protestierenden nicht eben als Nahostexpert:innen auffallen, ist klar. Jene vielen studentischen Stimmen, die zumeist versuchen einzuordnen oder zu relativieren, werden indes nicht gehört. Warum auch, hat man doch Jahrzehnte damit verbracht, den Amerikanern anzuerziehen, dass jeder von ihnen besser beurteilen kann, was auf dem Universitätsgelände passiert, als die jungen Leute, die tatsächlich dort leben."
Daub konstatiert des Weiteren, "dass im Rahmen dieser Proteste (…) auch Falsches, Gefährliches, Ahndungswürdiges gesagt werden kann und wurde". Aber:
"Der Punkt ist, dass das, was hier passiert, dynamisch ist, dass die Nuancen, die amerikanische Medien mit schöner Regelmäßigkeit entdecken, wenn es darum geht, Elon Musk nicht einen Antisemiten nennen zu müssen, hier wohl bewusst vorenthalten werden."
Daubs Schlussthese:
"Deutsche Redaktionen (starren) derzeit so auf den amerikanischen Campus (…), (u)m nicht auf Gaza starren zu müssen. Hier scheinen den Menschen die Fragen noch lösbar, die Schuld klar verteilt: bei den jungen Menschen, die diese Welt gerade erst betreten. Und nicht bei uns, die wir sie gemacht haben."
Was noch in diesen Kontext passt: die Spitze, dass die "taz (…) ungefähr mit dem Differenzierungsgrad von Fox News" über die Proteste berichte (Michael Seemann in einem Rant in seinem Newsletter "Krasse Links").
Kostensenkungen klingt besser als Programmkürzungen
Dass unser MDR plant, bis 2028 pro Jahr 40 Millionen Euro einzusparen, stand hier schon am Montag. Heute berichtet die FAZ über das Vorhaben. Helmut Hartung zitiert den Intendanten Ralf Ludwig unter anderem so:
"Angesichts veränderter finanzieller Rahmenbedingungen gilt für den MDR: Mehr regional als national."
Die FAZ-Medienseite spart sonst ja nicht mit Kritik an öffentlich-rechtlichen Würdenträgern. Auf den Protest gegen die Kürzungen bei "Exakt", "Exakt - die Story" und "Exactly" (der im erwähnten Altpapier Thema war) geht Hartung aber nicht konkret ein, sondern nur, indem er Ludwigs Haltung dazu wiedergibt. An der Stelle ist die Rede von "Kostensenkungen, die in der Belegschaft teilweise mit Unverständnis aufgenommen worden seien". Subtext: Wer kein "Verständnis" für "Kostensenkungen" hat´, kann nicht rechnen.
Wer wissen will, was aktuell auf den Sendeplätzen passiert, die von den "Kostensenkungen" betroffen sind: Heute laufen eine neue Ausgabe von "Exakt" und bei "Exakt - die Story" ein Film, der bei "Exactly" bereits seit zwei Wochen zu sehen ist. Die Doppelverwertung zeigt: Gespart wird hier schon längst.
Altpapierkorb ("Ukraine - Als der Krieg in die Redaktion kam", "SpiegeI"-Ombudsstelle, "Politico"-Newsletter)
+++ Zu den herausragenden dokumentarischen Produktionen derzeit gehört die bei Arte online only gezeigte Doku-Serie "Ukraine - Als der Krieg in die Redaktion kam". Sie stammt von Dominik Wessely, 2021 für "Love Parade - Die Verhandlung" mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Altpapier-Autor Christian Bartels hat die die Serie für "epd medien" besprochen: "Wessely zeigt die Kiewer Investigativredaktion 'Schemes’ des aus den USA finanzierten Radio Free Europe/Radio Liberty (…) (D)ie Arbeit der Reporter (ist) einerseits (…) enorm schwierig, andererseits mit der nochmals erheblich schlimmeren Situation vieler Landsleute im Kriegsgebiet kaum zu vergleichen. Hierfür findet 'Als der Krieg in die Redaktion kam‘ eindrückliche Bilder." Die Serie werfe "bemerkenswert existenzielle Fragen nicht nur, aber besonders auch zum Journalismus auf".
+++ Matthias Meisner schreibt in der aktuellen Ausgabe des "journalist" (Seite 42 bis 46) über eigene Erfahrungen mit der Ombudsstelle des "Spiegel". Hintergrund: "Im April 2023 habe ich einen Text über einen Sorgerechtsstreit veröffentlicht. Ich schrieb über einen Fall in Königshain bei Görlitz, wo Polizist:innen im Oktober 2022 einer gerade stillenden Mutter ihren fünf Wochen alten Säugling gewaltsam genommen haben, weil sie das Sorgerecht verloren hatte. Eine Aktivistin und Sozialarbeiterin, die ihr geholfen und Unterschlupf gewährt hatte, geriet anschließend in die Kritik. Der Vater des Kindes, der 2023 die Berichterstattung des Spiegels zu dem Fall verhindern wollte, hatte sich mit Einwänden an die Ombudsstelle gewandt." Beim Lesen des Textes drängt sich der Eindruck auf, dass dieser Vater alle Zeit der Welt für juristisches Heckmeck hat. Auch der MDR war, wie Meisner schreibt, davon tangiert (siehe in diesem Interview die Anmerkung zur Antwort auf die vierte Frage). Bei der "Spiegel"-Ombudsstelle haben die Interventionen offenbar Wirkung hinterlassen: "Im Gespräch, das phasenweise Verhörcharakter annahm, gab es unter anderem folgende Fragen: Könnte ich womöglich befangen sein, weil in meinem Umfeld jemand lebte, der von häuslicher Gewalt betroffen war? Warum habe ich die Sozialarbeiterin aus Görlitz im Verlauf meiner Recherche geduzt, sei sie womöglich eine alte Bekannte von mir?" Letztere Frage ist ja nun wirklich bemerkenswert weltfremd.
+++ Wodurch zeichnet sich das "Berlin Playbook", der Newsletter des deutschen "Politico"-Ablegers, aus? Unter anderem durch eine "buchhalterische Art, Ereignislosigkeit festzuhalten", meint Stefan Niggemeier bei "Übermedien". Und: "Manche der aufgeregten Mini-Anekdoten, die im 'Berlin Playbook' erzählt werden, sind so eigenartig, dass man sie sich in keinem anderen Medium vorstellen könnte, was man als Kompliment verstehen kann, aber nicht muss."
Das Altpapier nach dem Feiertag schreibt Ralf Heimann.