Kolumne: Das Altpapier am 2. Mai 2024 Wo bleibt das Positive?
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02. Mai 2024, 09:36 Uhr
Weiß der Teufel: Wie Eskapismus sich in beschissenen Zeiten auf ganz unterschiedliche Weise medial Bahn bricht. Heute kommentiert Jenni Zylka die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Kegelrobbe mit Knopfaugen
Die Zeiten sind beschissen. Vielleicht darum widmete sich der rbb-Radiosender RadioEins (Disclaimer: für den ich auch frei arbeite) am gestrigen ersten Mai der "guten Nachricht", und gestaltete einen ganzen "Radioday" zum Thema Optimismus. Vom "Babyboom bei den Kegelrobben auf Helgoland", bei dem allein durch die Koppelung der kindchenschemaaffinen Substantive "Babyboom" und "Kegelrobbe" das Oxytocin zu fließen beginnt, bis zur freudigen Meldung, dass die Museen steigende Besucherzahlen verzeichnen, hatten die rbb-Hurratüten "alles Gute" zusammengetragen. Hoffentlich hilft’s. Der weise Erich Kästner hatte – in ebenfalls beschissenen Zeiten, 1930 – bereits Folgendes dazu gedichtet:
Und immer wieder schickt ihr mir Briefe,
in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt:
"Herr Kästner, wo bleibt das Positive?"
Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.
…
Ich will nicht schwindeln. Ich werde nicht schwindeln.
Die Zeit ist schwarz, ich mach euch nichts weis.
Es gibt genug Lieferanten von Windeln.
Und manche liefern zum Selbstkostenpreis.
Man könnte jetzt darüber streiten, ob es überhaupt Nachrichten gibt, die für alle Menschen gleichermaßen als positiv empfunden werden (vielleicht wohnt ja auf Helgoland ein hochsensibler Kegelrobbenallergiker, der jetzt um seine Zukunft fürchtet?). Ob das "Akzentuieren des Positiven" (s.u.) eher als Flucht oder als Energiequelle taugt. Und ob nicht die Auswahl der Nachrichten, selbst wenn sie alle schlecht sind, ohnehin schon eine schön- oder zumindest irgendwie gefärbte Auswahl darstellt. (Das Phänomen, es durch übermäßigen "bad news"-Konsum mit der Angst zu tun zu kriegen, nennt man übrigens in der Medienpsychologie "Scary World-Syndrom", hier eine kleine Definition davon.)
Opa erzählt vom Krieg
Und hin- und hergerissen zwischen dem Eskapismus, den eine solche Rosa (Radio-)Brille befördert, und dem Zweckpessimismus einer Journalistin, durfte ich bei der Medienbeobachtung zufällig etwas noch weitaus Eskapistischeres und Skurrileres entdecken. Der britische Digitalradiosender BHFR steht für British Home Front Radio, bietet "Music and News from 1930's,1940's and 1950's”, und ist natürlich kein echter "historischer" Kriegssender, aber bringt den Hörer:innen:
"historical sound bytes from content from any radio stations that could have been tuned into at that period in time.”
Opa erzählt also vom Krieg. Als ich einschaltete, saßen laut digitaler Quoteninfo immerhin noch 31 weitere "listeners" mit hochgedrehten Hörgeräten vor ihren Volksempfängern, und so Monty Python-mäßig die Idee auch ist, dass es durchschnittlich mindestens 31 kauzige britische Veteran:innen gibt, die sich in die gute alte Kriegszeit zurücksehnen, so berückend süßlich-eskapistisch ist bekanntlich der Sound dieser Zeiten. Schellack kratzt, Geigen schmelzen, Glocken läuten, Crooner croonen, Damen und Herren tanzen züchtig-sehnsüchtig cheek-to-cheek, und Nickelbrillenträger Henry Hall mit dem "BBC Dance Orchestra" singt den Slowfox "In the chapel in the moonlight” – auch das eine funktionable Ansammlung von hormontreibenden Substantiven. Textauszug gefällig?
"How I'd love to hear you whisper
In the chapel in the moonlight
That the lovelight in your eyes
Forever will shine”
Ach ja. Heiler kann die Welt nicht klingen. Der größte Hit von Henry Hall war übrigens das 1932 entstandene, fantastisch-obskure "The Teddy Bear’s Picnic", klarer Anspieltipp:
"If you go down in the woods today, you're sure of a big surprise
If you go down in the woods today, you'd better go in disguise
For every bear that ever there was
Will gather there for certain because
Today's the day the teddy bears have their picnic”
Zwischen dieser in pures Säuseln gegossener Musik-Nostalgie laufen bei BHFR alte Werbespots – der Sender faszinierte und alarmierte mich gleichzeitig. (Als letzten Musiktipp dazu passend noch dieser unfassbare, erfolgreiche Song, bezeichnenderweise aus dem Jahr 1944: "Ac-cent-tua-ate the positive" von Harold Arlen und Johnny Mercer, garantiert läuft der ebenfalls in der Heavy Rotation der BHFR…)
Aber das Zurückschauen, selbst auf schreckliche Zeiten, ist eben immer leichter, als schrecklichen Zeiten entgegenzuschauen - vor allem, weil man an der Zukunft ja eigentlich etwas ändern könnte.
Look back in anger
Als Beweis dafür mag das Schicksal der vierten Staffel der – bis dato – historischen Krankenhausserie "Charité" dienen, deren Quoten, wie mehrere Medien berichteten, dramatisch einbrachen. Die Staffel spielt im Jahr 2049. Die Durchschnittstemperatur beträgt 40-50 Grad, schmelzende Permafrostböden legen ein tödliches "Päleo-Bakterium" frei, die Mikroplastikvergiftung ist eine ernstzunehmende Krankheit, illegale Klima- bzw. Waldbrandflüchtlinge haben Probleme bei ihrer nötigen medizinischen Versorgung, weil sie aus dem "Raster" fallen und das Gesundheitsministerium eine starke Eigenverantwortung ihrer Patient:innen beschlossen hat – wer etwa unter Typ 2 Diabetes leidet, wird nicht behandelt. Es gibt zwar auch aus meiner Sicht schöne Entwicklungen, wie die Selbstverständlichkeit, mit der sogar der Staatsschutz gendert (hihi) und die vielen, unrealistisch-harmonischen polyamourösen Beziehungen. Aber den Zuschauer:innen hat’s nicht gefallen – und das kann nicht an der zuweilen hölzernen Inszenierung, der unterschiedlichen schauspielerischen Qualität oder der kitschigen Musik liegen, ähnliche Schwächen hatten bei den anderen Staffeln nämlich auch wenig gestört. Der Stern analysiert jedenfalls dazu wie folgt:
"Viele Menschen lehnen Zukunftsvisionen ab, nicht wenn sie unrealistisch sind, sondern dann, wenn sie heutige Ereignisse und Probleme mit aller Vehemenz weiterspinnen und zu Ergebnissen kommen, die sie als zu realistisch und damit bedrohlich empfinden. Forscher kennen diese Angst vor zu viel Realismus aus der Robotik: Wird ein neuer humanoider Roboter dem Menschen zu ähnlich, dann fürchten wir uns vor ihm."
Über den Realitätsgehalt der vielen Dystopien und Utopien heißt es weiter:
"Leichter haben es da natürlich Science-Fiction-Serien, die räumlich und inhaltlich so absurd weit von der Realität entfernt sind, dass wir sie als "ungefährlich" wahrnehmen."
Die drei vorherigen Staffeln spielten übrigens im 19. Jahrhundert, im ausgehenden zweiten Weltkrieg und zu Zeiten des Mauerbaus in Berlin – rosig war das also wahrlich alles nicht. Außerdem: Beides, das "period piece" und das Science-Fiction-Narrativ bedienen sich als Motiv stark der Spekulation - je länger das Erzählte zurückliegt und je weniger Informationen daher vorhanden sind, desto größer wird sie. Anstatt jedoch die Zukunft in die Hand zu nehmen, und uns tüchtig sensibilisieren und alarmieren zu lassen, schauen wir anscheinend lieber zurück im Zorn, und akzeptieren, was wir nicht ändern können. Oder was bei diesen AA-Treffen immer gemurmelt wird.
Neues von den Streaming-Kriegen
Ein letztes Aspektchen zum Thema Eskapismus durch Medien sei noch erwähnt: In diesem Artikel in der Vanity Fair geht es um glorreiche Rückkehr der Streaming Portale, das Beispiel ist Netflix, und den, nach einem drastischen Abo-Erdrutsch-Einbruch, großen Erfolg des Streamingdienstes u.a. mit "Squid Game" (talking of futuristic dystopia):
"If you ever wonder how serious Netflix is about winning the global streaming wars, keep in mind that it transformed a brutal South Korean critique of capitalism into a capitalist blockbuster with many tentacles. It had its squid and ate it too.”
Es folgt eine Analyse der verschiedenen Methoden, mit denen Netflix angeblich die Zuschauer:innen zurückgewinnen konnte – u.a. mit dem Aufbau der "unscripted TV-Division", beispielweise Hinter-den-Kulissen-Sportreportagen anstatt der teuren Live-Sportereignisse selbst, und überhaupt der Expansion der Nicht-Medien-Formate, des "Megaverse" bzw. Franchise:
"Netflix is exploring even more ways to turn its shows into a Disney-style universe, whether through in-person events, an ever-expanding menu of video games, or a reported string of physical stores.”
Man wird sehen, ob’s klappt. Dystopien, Utopien und den darin enthaltenden Eskapismus wird es jedenfalls dort weiterhin geben – bei der Weltlage kein Wunder. Ich bin gespannt, wann sich der Spruch "Oma erzählt vom Frieden" etabliert.
Altpapierkorb
- Der hier bereits im Altpapier thematisierte Beef zwischen Jan Böhmermann und Til Schweiger hört irgendwie auch gar nicht auf… hier wird er von der Welt erklärt.
- Viele Kolleg:innen (hier die SZ, und Altpapier-Kollege Klaus Raab hier im Spiegel €,) haben die "Hart aber fair"-Sendung mit Sarah Wagenknecht zum Thema Konservativismus analysiert, die FAZ war gar nicht begeistert und schreibt: "Die Frage, ob man über den Konservatismus stundenlang oder überhaupt nicht diskutieren kann, bleibt auch nach dieser Sendung unbeantwortet – was anscheinend vor allem daran liegt, dass man Leute, die den Begriff mit Inhalt füllen können, lange suchen muss und diesmal leider nicht gefunden hat. Nicht in der Redaktion von "Hart aber fair" und auch nicht unter den Gästen."
- Die taz weist hier auf einen neuen Podcast mit Anne Will hin, und endet mit den ambivalenten Worten: "Die Moderatorin bleibt bei ihrer stoischen Art, die ihr zuvor schon so viel Erfolg bescherte." Hmmm…
Am Freitag schreibt Ralf Heimann das Altpapier.