Kolumne: Das Altpapier am 29. April 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 6 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 29. April 2024 Die Stenographen des geistigen Bürgerkriegs

29. April 2024, 12:24 Uhr

In den medialen Debatten um die AfD geht es zu wenig um das Ziel der Partei, die liberaldemokratische Ordnung der Bundesrepublik zu demontieren, kritisiert ein Politikwissenschaftler. Die Popularität der AfD bei jüngeren Wählern ist nicht so hoch, wie Journalisten zuletzt suggerierten. Heute kommentiert René Martens die Medienberichtererstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Was man über Krah wissen muss

Das "TV-Duell" zwischen Mario Voigt und Björn Höcke mag inzwischen etwas in Vergessenheit geraten sein. Für den Politikwissenschaftler Sascha Ruppert-Karakas ist es aber ein wichtiger Ausgangspunkt für einige instruktive Überlegungen, die er in der Mai-Ausgabe der "Blätter für deutsche und internationale Politik" anstellt:

"Das jüngste TV-Duell zwischen dem thüringischen AfD-Chef Björn Höcke und dem CDU-Spitzenkandidaten für die Landtagswahl in Thüringen, Mario Voigt, hat einmal mehr gezeigt: Im Zentrum der medialen Debatte über den sukzessiven Aufstieg der Alternative für Deutschland steht zumeist deren nationalchauvinistisches und rassistisches Profil."

Im Mittelpunkt müsste laut Ruppert-Karakas eher stehen, dass die "Protagonist:innen der Neuen Rechten (…) vorrangig das Ziel (haben), die liberaldemokratische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig zu schädigen und letztlich komplett zu demontieren".

Diese Kritik wirkt zwar in einer Hinsicht, als wäre sie von der Aktualität überholt worden, weil dieses Ziel der Schädigung und Demontage zumindest mittelbar zur Sprache kommt, wenn - unter anderem in Talkshows (siehe Altpapier von Donnerstag) - die Russland- und China-Nähe der AfD Thema ist.

In einer anderen Hinsicht ist der "Blätter" Beitrag aber aktueller denn je, weil er sich ausführlich mit der Weltsicht des gerade im Zentrum unzähliger Beiträge stehenden Europawahl-Spitzenkandidaten Maximilian Krah beschäftigt - beziehungsweise mit dessen 2023 erschienenem Buch "Politik von rechts: Ein Manifest". Der "Blätter"-Autor schreibt dazu:

"Ausgangspunkt von Krahs Angriff auf das ideologische Fundament des politischen Systems bildet die Kritik an der Herausforderung gelebter Freiheit des Individuums (…) Krah (verurteilt) die Selbstbestimmung in einer liberalen Ordnung als untragbare Last, die für die meisten Menschen verheerende individuelle und soziale Konsequenzen habe (…) Die im Liberalismus forcierte Reduktion von äußeren Zwängen produziere 'eine Generation', die (…) 'ihre Haltlosigkeit mit Freiheit verwechselt' (…) Diese vom 'Wokeismus' gepredigte Haltlosigkeit sei für die individuelle und damit langfristig auch für die gesellschaftliche Entwicklung existenzgefährdend."

Es handle sich um eine "Systemdiagnose, deren Adressatenkreis weit über das traditionelle rechte Publikum hinausgeht" und die das "Ziel" habe, "die Gesellschaft weg von der überwiegend sachlichen Deliberation des liberalen Politikstils hin zu stärker affektgeladenen Formen der Entscheidungsfindung zu lenken".

Die These, dass diese Entwicklung weg von der "sachlichen Deliberation" und "hin zu stärker affektgeladenen Formen der Entscheidungsfindung" bereits stattgefunden hat, ist ja nun alles andere als steil - wie viel auch immer Krah selbst nun zu dieser Entwicklung beigetragen hat.

Ruppert-Karakas konstatiert dann auch, dass es der AfD gelungen ist, "den politischen Betrieb im Sinne eines geistigen Bürgerkrieges zu gestalten". Dies manifestiere sich unter anderem "in den zunehmend antagonistischen Tendenzen zwischen den politischen Akteuren, die seit Jahrzehnten das politische Konsenssystem geprägt haben". In diesem Kontext nennt der Autor Beispiele dafür, dass "die konservative Opposition aus CDU/CSU ohne konkrete Gegenvisionen auf maximale Konfrontation setzt, um das schon von Beginn an konfliktgeplagte Ampelprojekt zum eigenen politischen Vorteil zu delegitimieren".

Ein aktuelles Beispiel für die "zunehmend antagonistischen Tendenzen zwischen den politischen Akteuren" ließe sich an dieser Stelle auch noch einfügen: Das Anspringen "vieler demokratischer Politiker aus der FDP oder Union" ("Volksverpetzer") auf einen "rechten Pseudo-Skandal" bzw. "einen Skandal, der keiner ist" ("Frankfurter Rundschau"). Die Rede ist hier von den sog. AKW-Files.

So wichtig eine Berichterstattung über den direkten Einfluss Chinas und Russlands auf die AfD ist: Es wäre mindestens ebenso wichtig aufzuarbeiten, inwieweit es der AfD bereits gelungen ist, zumindest die Debatten-Ordnung "der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig zu schädigen und letztlich komplett zu demontieren" (um Ruppert-Karakas noch einmal aufzugreifen). Das würde aber bedeuten, dass Journalistinnen und Journalisten ihre eigene Rolle in diesem "geistigen Bürgerkrieg" reflektieren müssten. Zu viele von ihnen verstehen sich ja als Stenographen dieses Kriegs. Sie erwecken jedenfalls nicht den Eindruck, dass sie interessiert daran sind, dass der Krieg endet.

Ebenfalls einen Blick aufs Talken mit der AfD wirft - vor allem anlässlich der aktuellen "Maybrit Illner"-Sendung - Christian Geyer in einem Kommentar im FAZ-Feuilleton. Er kritisiert ein "Ausblenden der politischen Tiefengrammatik von Krah, Bystron & Co." in besagter Sendung. Ich bin mir nicht sicher, ob Christian Geyer damit dasselbe kritisiert wie Sascha Ruppert-Karakas, aber "politische Tiefengrammatik" ist natürlich eine hübsche Formulierung, zu deren Verbreitung ich hier gern beitrage.

Ungenaue Berichte über "Jugend in Deutschland"-Studie

Das soll heute aber noch nicht alles gewesen sein in Sachen Krah, auch Leo Fischer beschäftigt sich in seiner Kolumne fürs "ND am Wochenende" mit ihm:

"Während (…) Krah wegen seiner Spionageaffäre die analoge Öffentlichkeit meidet, stampft seine Social-Media-Maschinerie munter Video um Video aus der Erde. Auf Tiktok tritt er als Freund der Jugend auf, wendet sich an verunsicherte junge Männer, die keine Freundin finden: Väterlich erklärt er ihnen, dass das an der Regierung liege, die traditionelle Männlichkeit bestrafe. Er gibt Tipps, wie man sich gegen 'linke Lehrer' wehrt, und gibt sich überhaupt als 'Kümmerer'. Die Strategie der 90er-NPD, wegbrechende Sozialsysteme und Gemeinschaften zu kompensieren, wird hier konsequent digital gedacht."

Wer väterlich erklärt bekommt, warum er keine Freundin findet, dem ist möglicherweise auch egal, ob eine Generalstaatsanwaltschaft gegen den väterlichen Erklärer wegen möglicher Zahlungen aus ausländischen Quellen Vorermittlungen einleitet (worüber der MDR zuerst berichtete).

Um bei den Jungen zu bleiben: Vielerorts Bestürzung löste in der vergangenen Woche die "Jugend in Deutschland"-Studie aus, aus der vermeintlich "eine stark gestiegene Zustimmung für die AfD" herauszulesen sei. "22 Prozent der Befragten würden ihr derzeit bei einer Bundestagswahl ihre Stimme geben", berichtete der "Tagesspiegel". Gar eine Erklärung dafür, "warum 22 Prozent der jungen Menschen in Deutschland AfD wählen wollen", versprach das Redaktionsnetzwerk Deutschland seinem Publikum.

Die Deutschlandfunk-Redakteurin Kathrin Kühn hat nun allerdings herausgefunden, dass die vielzitierte Prozentangabe fragwürdig ist. In einem Thread schreibt sie:

"Addiert man alle Antworten aus dem Fragenbereich - inkl. weiß nicht oder gehe nicht wählen, kommt man auf mehr als 130 %. Die 22% beziehen sich also offenbar nur auf diejenigen, die eine Partei angegeben haben. Es können nicht 22 % 'der Befragten' sein."

Wenn man die Antworten der Nichtwählenden und Unentschlossene berücksichtige, komme man auf "'nur' noch rund 14 %".

Auf weitere Ungenauigkeiten in der Berichterstattung geht Kühn auch noch ein.

Aus welchen Gründen auch immer die meisten Berichterstattenden nicht genau hingesehen haben: Von der falschen Prozentangabe profitiert die AfD, weil jene, die die Partei tatsächlich wählen wollen (oder wählen würden, wenn sie das entsprechende Alter erreicht haben), sich dadurch stärker fühlen, als sie sind, und jene, die sich nicht sicher sind, ob sie die AfD wählen wollen, eher darin bestärkt fühlen, es zu tun.

Der Propagandaerfolg der Fossilindustrie

Im Rahmen von Veranstaltungen, unter anderem zu seinem Buch "Männer, die die Welt verbrennen", hat "Spiegel"-Kolumnist Christian Stöcker in den vergangenen sechs Wochen "300 bis 400 an der Energietransformation interessierten Menschen", die "gewissermaßen Teil der Klima-Informationselite sind", drei für den energiepolitischen Diskurs essenzielle Fragen gestellt. Was dabei herausgekommen ist, beschreibt er in seiner aktuellen Kolumne.

"Wie viel Gewinn – nicht Umsatz – in US-Dollar wird seit 1970 im Durchschnitt pro Tag mit Öl und Gas gemacht?", lautete eine Frage (Antwort: Drei Milliarden Dollar, sie findet sich auch in dieser Studie, veröffentlicht im "International Journal of Sustainable Energy Planning and Management"). Eine andere: "Wie viele Subventionen flossen laut dem Internationalen Währungsfonds 2022 weltweit in fossile Brennstoffe?" (Antwort: 1,3 Billionen Dollar explizite und 5,7 Billionen Dollar implizite Subventionen)

Bemerkenswert laut Stöcker: Dass die Klima-Informationselite nur schlecht Bescheid wusste ("Weniger als eine Handvoll aus der gesamten Stichprobe kannte alle Antworten"). Er schreibt daher:

"Branchen, die eine Billion Dollar Gewinn im Jahr machen, bekommen dafür 1,3 Billionen Dollar explizite Subventionen (…) Diese Verzerrung ist aberwitzig. Dass sie selbst gut informierten Leuten unbekannt ist, ist ein erstaunlicher Propagandaerfolg der Fossilindustrie und ihrer Handlanger in Politik und Medien."

Sein grundsätzliches Fazit:

"Die Debatte über die gigantische Energietransformation, die auf diesem Planeten längst in vollem Gange ist, mit exponentieller Beschleunigung, unentwegt, wird (nicht nur) hierzulande auf Basis eines kapitalen Informationsmangels geführt. Fossile Propaganda ist nicht nur erfolgreich in so absurden Debatten wie der, ob wir nicht doch noch länger Verbrennungsmotoren bauen sollten (…) Sie ist auch bemerkenswert erfolgreich dabei, Informationen, die für sie selbst peinlich oder unangenehm sind, die ihre Narrative stören könnten, aus dem öffentlichen Diskurs und damit den Köpfen der Wählerinnen und Wähler herauszuhalten."

Stöckers Stichworte "fossile Propaganda" und "Verbrenner" ließen sich noch durch eine aktuelle Äußerung illustrieren, die Helmut Holzafpel, Leiter des Zentrums für Mobilitäts­kultur, in einem Interview mit klimareporter.de gemacht hat:

"Es gibt diverse Lobbygruppen, die dem Verbrenner weiter anhängen. Die mächtigste ist die Ölindustrie, ihr Einfluss auf die Politik ist gewaltig. Sie steuert eine völlig abseitige Propaganda gegen Elektroautos."

Der medienpolitische Populismus der Landespolitiker

Claudia Tieschky benennt in einem einigermaßen wütenden Meinungsbeitrag für die SZ einen zentralen Makel der medienpolitischen Debatte:

"Teile des politischen Personals (geben sich) gerade erstaunlich enthemmt einer anti-öffentlich-rechtlichen Stimmung hin (…) Landespolitiker quer durch die Parteien tun jedenfalls im Landtagswahljahr 2024 gern so, als hätten sie - als Gesetzgeber, der theoretisch im Konsens sofort vier der neun ARD-Anstalten abschaffen könnte zum Beispiel - mit der Höhe dieses Beitrags und mit dem Zustand dieses bösen Rundfunks nichts zu tun (…) Die Länder docken damit entsetzlicherweise genau an einen ignoranten Zerstörungsimpuls an, den man schon kennt: So stimulieren Populisten gern das vermeintliche Bauchgefühl vermeintlicher Wähler."

Fazit: Same procedure as anywhere else. Denn: Dass man Dinge kritisiert, für die man selbst verantwortlich ist, weil man den Eindruck erwecken will, es wären andere verantwortlich - das gehört in der Politik ja zum Einmaleins der Irreführung von Medien und Wählern.

Ihr zentrales Argument wiederholt Tieschky dann noch einmal, und dieser Satz müsste so oder ähnlich eigentlich immer dann, wenn irgendeine Krawallschachtel aus dem Politikbetrieb mal wieder tönt, es gebe zu viele Programme, werde zu vieles von diesem oder jenem gesendet und haste nicht gesehen, am Schluss jeder Meldung stehen:

"Niemand anderer als die Länder legt in den Mediengesetzen fest, was der öffentlich-rechtliche Auftrag ist und wie viele Sender es gibt."


Altpapierkorb (Grimme-Preisträgerin Anna Dushime über strukturellen Rassismus, Zukunft des GOA, gelungenes Dokudrama zu einem historischen bedeutenden Streik, "westzentrierte" ARD-Dokumentation zur "Merz-Strategie")

+++ Die WDR-5-Sendung "Töne, Texte, Bilder" geht darauf ein, dass Anna Dushime, die für eine Pilotfolge der Talkshow "Der letzte Drink mit Anna Dushime" einen Grimme-Preis in der Kategorie Unterhaltung gewann, noch nicht weiß, ob es - Preis hin, Preis her - mit dem Format weiter geht. Bei der Preisverleihung am Freitagabend in Marl sagt Dushime: "Als Schwarze Frau in Deutschland ist es auch etwas schwerer als für andere. Ich meine das überhaupt nicht bitter oder weinerlich, sondern möchte der Realität einfach ins Auge zu blicken. Es ist schwer, strukturelle Benachteiligungen mit individuellem Einsatz ausgleichen zu wollen."

+++ Ein weiterer Bericht zur Preisverleihung geht auf die Zukunft des Grimme Online Award ein (siehe zuletzt Altpapier von Freitag): Der "Kölner Stadt-Anzeiger" zitiert Peter Wenzel, Dezernent für Kinder, Jugend, Familie und Soziales in Marls Nachbarstadt Datteln und nun Interims-Direktor des Grimme-Instituts: "Rein haushalterisch sei der Award in diesem Jahr aktuell nicht möglich, sagte Wenzel der dpa. Er werde aber trotzdem nach neuen Möglichkeiten und Chancen suchen. Auch aus dem Institut ist zu hören, dass alles getan werden soll, um zu verhindern, dass der Preis ausfällt."

+++ Seit Sonntag in der ARD-Mediathek abrufbar: das Dokudrama "Die Mutigen 56", das einen arbeitskampfhistorisch bedeutenden Streik von schleswig-holsteinischen Werftarbeitern und anderen Beschäftigten der Metallbranche in den Jahren 1956 und 1957 zum Thema hat. Melanie Mühl lobt in der FAZ die gelungene Verzahnung zwischen fiktionalem und dokumentarischen Teil. Außerdem schreibt sie, "die heutige Arbeitswelt mit ihren gesetzlich geregelten Absicherungen" sei auch dem "Durchhaltewillen und vor allem Mut" der damals Streikenden zu verdanken".

+++ Über die heute zur Prime Time im Ersten laufende Dokumentation "Die Merz-Strategie – Wohin steuert die CDU?" schreibt Steffen Grimberg in der taz: "Der Osten und die AfD kommen eher mal am Rande vor. Für diesen irre wichtigen Komplex ist in der 'Merz-Strategie' Johannes Fiol­ka, CDU-Vorsitzender des sächsischen Stadtverbandes Großenhain, zuständig. Fiolka darf dann auch drei ziemlich wertkonservative Sätze sagen, das war’s dann schon. Mit dieser westzentrierten Sicht liegen die Doku wie die CDU kurz vor der Europawahl und wenige Monate vor den noch entscheidenderen Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen seltsam schräg."

Das Altpapier am Dienstag schreibt Christian Bartels.

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