Kolumne: Das Altpapier am 17. April 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 5 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 17. April 2024 Die Angst der Lokalreporter

17. April 2024, 10:56 Uhr

In Sachsen fassen manche Journalisten bestimmte Themen gar nicht mehr an, weil sie Angst vor Rechtsextremen haben. Pro Woche eine "Weltspiegel"- und eine "Auslandsjournal"-Sendung im linearen Fernsehen sind zu wenig. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

"Ohne kritische Berichterstattung gelingt die rechtsextreme Raumnahme leichter"

Wer den Deutschland-Jahresbericht von Reporter ohne Grenzen erschütternd findet (siehe Altpapier von vergangenem Mittwoch), wird über die Studie, die am Dienstag das in Leipzig ansässige European Centre for Press and Media Freedom (ECPMF) veröffentlicht hat, noch alarmierender finden. Während Reporter ohne Grenzen "für das Kalenderjahr 2023 insgesamt 41 Angriffe auf Medienschaffende und Redaktionen dokumentiert und geprüft" hat, heißt es in der "in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV)" entstandenen ECPMF-Studie:

"Die Zahl der physischen Angriffe auf Journalist:innen stieg im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2022 wieder an. Nach 56 Fällen im Jahr 2022 verifizierte das ECPMF für 2023 69 Fälle von physischen Angriffen auf Journalist:innen."

Obwohl die "Nahaufnahme Deutschland" von Reporter ohne Grenzen zu "leicht abweichenden Ergebnissen gekommen" war, hebe auch letztere hervor, dass "die Gewaltbereitschaft (2023) weiterhin höher (war) als vor der Pandemie und (…) einen Schwerpunkt im rechten Milieu und in Sachsen", habe, schreibt die FAZ dazu.

Ein Thema der ECPMF-Studie, über die auch die Nachrichenagentur epd (siehe Texte in der taz und im "Tagesspiegel"), MDR aktuell und die "Tagesschau" berichten: "die Bedrohungslage des Lokaljournalismus". Dazu heißt es in der Zusammenfassung:

"Bereits in der letzten Studie wurde darauf hingewiesen, das fehlende Anonymität im Lokalen ein Sicherheitsproblem für Lokaljournalist:innen darstellen kann. In einer näheren Analyse des Bundeslandes Sachsen, welches seit 2015 insgesamt ein Drittel aller registrierten Fälle (117 von 390) auf sich vereint, zeigt sich zudem ein bisher unterbelichtetes Phänomen: Selbstzensur. Lokaljournalist:innen, die dort tätig sind, wo extrem rechte Raumaneignung im Lokalen erheblich fortgeschritten ist und in die sogenannte Mitte der Gesellschaft hineinreicht, berichten davon, dass gewisse Themen vor Ort aufgrund einer wahrgenommenen permanenten Bedrohungslage ausgespart würden."

Das müsse man "insbesondere vor den anstehenden Kommunal-, Landtags- und Europawahlen in diesem Jahr in Sachsen, bei denen zahlreiche Rechtsextreme antreten", im Blick haben, sagt Patrick Peltz, Co-Autor der Studie. Seine Kollegen und er schreiben dazu ausführlicher:

"Die Aussagen der interviewten Lokaljournalisten zeigen, dass zumindest in einigen Lokalredaktionen Sachsens die beschriebene Angst vor der Berichterstattung über rechtsextreme und verschwörungsideologische Akteur:innen und Bewegungen bereits Realität ist. Sie führt zu Selbstzensur und damit zu blinden Flecken in der Berichterstattung, die höchst problematisch sind. Wie die Befragten erklärt haben, fehlt es vor allem zunehmend an einer aufklärenden Berichterstattung über rechtsextreme Akteur:innen und deren Bewegungen. Viele dieser Akteur:innen geben sich Mühe, sich im lokalen Umfeld als fürsorgliche Nachbar:innen darzustellen und als solche auch in die lokalen Institutionen gewählt zu werden. Ohne kritische Berichterstattung gelingt die rechtsextreme Raumnahme leichter (…) Steigende Sicherheitsanforderungen und die Normalisierung von Pressefeindlichkeit führen dazu, dass Journalist:innen, besonders freie, häufiger auf lokale Berichterstattung verzichten, was ebenfalls blinde Flecken fördert."

Zum in der Studienzusammenfassung genannten Stichwort "unterbelichtetes Phänomen": Der Medienjournalismus beschäftigt sich grundsätzlich zu wenig mit Lokaljournalismus und deshalb ist die Aufmerksamkeit für das von den Studienmachern hier als "Selbstzensur" beschriebene Phänomen eher gering. Es wären aber auch Kolleginnen und Kollegen anderer Ressorts gefordert, sich mit Lokaljournalismus zu beschäftigen: Gesellschaftsreporter und Politikberichterstattende. Möglicherweise kann man sich von der künftigen Berichterstattung der taz diesbezüglich etwas erhoffen:

"Für die Kommunal- und Europawahlen zieht jeweils ein*e taz Redakteur*in für einen Monat nach Brandenburg, Sachsen und Thüringen (und wird) von vor Ort (…) in den Räumen lokaler Medien arbeiten: u.a. beim Freien Wort in Ilmenau und bei Radio Zett in Zitta",

kündigte die Zeitung am Dienstag in ihrem Hausblog an (siehe auch "epd Medien").

Das Pressefreiheitsverständnis der "Freien Sachsen"

Wie man in gebührender Form über jene berichtet, die das ECPMF unter anderen meint, wenn es von "zahlreichen Rechtsextremen" spricht, die in Sachsen antreten, beschreibt Antonie Rietzschel von der "Leipziger Volkszeitung" im neuen "Demokratie Radar"-Newsletter des RND. Es geht um die "Freien Sachsen" und deren Pressefreiheitsverständnis. Rietzschel schreibt:

Am 9. Juni tritt die Partei in Sachsen flächendeckend bei den Kommunalwahlen an, in Hochburgen wie dem Erzgebirge sogar mit 62 Kandidaten. Der Leipziger Soziologe Johannes Kiess (…) hält (…) Zustimmungswerte von bis zu 15 Prozent für möglich. Nur was haben die ‚Freien Sachsen‘, die eigentlich das politische System ablehnen und ein Königreich installieren möchten, in Kreis- und Stadträten vor? Anfang April haben wir uns für eine Reportage unter die etwa 100 Menschen gemischt, die sich in einem Gasthof nahe Bautzen treffen (…) Organisiert hat die Veranstaltung ein bekannter "Reichsbürger", über Wochen wurde sie in verschiedenen Telegram-Gruppen beworben. Den genauen Veranstaltungsort erfuhr nur, wer einer bestimmten Gruppe in dem Netzwerk beitrat. Die Presse ist nicht gern gesehen, man bleibt lieber unter sich. Redaktionen werden explizit ausgeladen, wenn sie von solchen Treffen berichten wollen – dabei ist das, was bei solchen Gelegenheiten besprochen wird, von großer öffentlicher Relevanz im Wahljahr 2024. An diesem Abend soll es laut Ankündigung um eine brisante Frage gehen: "Was folgt nach dem BRD-System?" Kohlmann findet (…): Anträge schreiben, Mehrheiten suchen – das macht keinen Sinn. Es gehe darum, Politiker zu provozieren, sie mit Anfragen zu beschäftigen, angebliche Skandale aufzudecken."

Wobei Politiker, die ihre Hauptaufgabe darin sehen, andere Politiker zu provozieren, ja längst nicht mehr nur im rechtsextremen Milieu zu Hause sind.

Schon wieder ein Skandalurteil zu rechtsextremistischen Angriffen auf Journalisten

Ist Laubegast das neue Fretterode? Letzterer Ortsname steht in der Berichterstattung gewissermaßen als Synonym für ein mildes Urteil gegen Neonazis, die auf brutale Art Journalisten angegriffen haben (siehe u.v.a. dieses Altpapier).

Die oben bereits erwähnten Reporter ohne Grenzen kritisierten am Dienstag nun eine ähnlich unverständliche Entscheidung des Amtsgerichts Dresden (über die am Wochenende die "Sächsische Zeitung" berichtete). Es stellte das Verfahren gegen einen Angeklagten, der 2022 bei einer Demo in Dresden-Laubegast mit einer größeren Gruppe Journalisten attackierte hatte, gegen eine Geldauflage ein. Ein Teil der Angriffe ist in der vor einem Jahr ausgestrahlten Phoenix-Kurzdokumentation "Protest. Gewalt. Pressefreiheit" dokumentiert (ab 7:06)

Reporter ohne Grenzen schreibt:

"Während der Berichterstattung von der Veranstaltung mussten sechs Fotoreporter ihre Arbeit abbrechen, da sie wütend beschimpft, bedroht und weggejagt wurden: Einige der Angreifer, von denen mehrere nach Aussage der lokalen Reporter bekannte und langjährig aktive Neonazis sind, verfolgten die Fotojournalisten fast einen Kilometer durch den Stadtteil (…) Im Verfahren gegen die Angreifer erhob die Staatsanwaltschaft Dresden schließlich gegen vier der mehr als zehn Tatbeteiligten Anklage (…) Einer (von ihnen), der einen Begleitschützer mehrmals getreten hatte, (…) behauptete vor der Richterin (…), zum ersten Mal auf so einer Versammlung gewesen zu sein. Nach Berichten der Sächsischen Zeitung war er jedoch bereits spätestens im Oktober 2021 als Redner auf einer Querdenker-Bühne vor dem Kulturpalast aufgetreten."

Da noch weitere Verfahren zu den Angriffen von Laubegast anstehen, fordert Reporter ohne Grenzen das Amtsgericht Dresden nun auf, dabei

"die Gefährdung für und die Auswirkungen auf die Pressefreiheit angemessen zu berücksichtigen. Taten wie die hier angeklagten müssen als Angriffe auf das Recht auf Information gesehen werden. Ein Urteil oder Freispruch hat nicht nur Folgen für die Betroffenen, sondern auch eine Signalwirkung über den Einzelfall hinaus."

Die in der aktuellen ECPMF-Studie dokumentierte Angst, über Rechtsextremisten zu berichten, hat schließlich nicht nur mit befürchteten Attacken zu tun. Sondern auch damit, dass dann, wenn es zu Angriffen kommt, dies für die Rechtsextremisten möglicherweise keine nennenswerten rechtlichen Konsequenzen hat.

Wie der ÖRR "auf die Gefährdung unserer Demokratie reagieren sollte"

Der Initiativkreis öffentlich-rechtlicher Rundfunk Köln (IÖR) gehört zu den medienpolitischen Stakeholdern, die zumindest meiner Wahrnehmung nach nicht mit übergroßer Aufmerksamkeit gesegnet sind, obwohl der Verein nun auch schon 30 Jahre auf dem Buckel hat. Der laut "epd Medien" aus "ehemaligen Mitgliedern öffentlich-rechtlicher Gremien und ehemaligen Mitarbeitern im Ruhestand (…) (sowie) ehemaligen politischen Mandatsträgern" bestehende Verein hat nun eine entsprechend lebenserfahrungsgesättigte "Stellungnahme" veröffentlicht, die sich mit "der aktuellen Medienpolitik der Länder" beschäftigt - und damit, "wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk auf die Gefährdung unserer Demokratie reagieren sollte". Der eben genannte Mediendienst dokumentiert diese Stellungnahme, die fünf "Überlegungen und Anregungen" enthält. Unter "Demokratie und ihre Funktion erläutern und das Demokratieverständnis fördern" heißt es:

"Wir ermutigen (…), immer wieder - auch in der Hauptabendsendezeit im Ersten und Zweiten - in verschiedenen Formaten und Genres darüber aufzuklären, was Demokratie bedeutet, wie sie funktioniert und welche Werte sie auszeichnen; eben nicht Schnellschüsse und Rechthaberei, sondern konstruktiver Diskurs und Kompromisse."

Ist natürlich eine ehrenwerte und auch sachlich nachvollziehbare "Ermutigung", aber fraglich ist, wie wirklichkeitsnah sie angesichts der Haltung in manchen Redaktionen ist. Wenn zum Beispiel die Redaktion des "Presseclubs" das liest, lacht die sich doch einen Ast. Am Wochenende hat sie mit einer rassistischen Narrativen folgenden Sendungstitel-Frage bewiesen, wie viel (oder wenig) sie von einem "konstruktiven Diskurs" hält.

Das Format "Demokratie verstehen" bei ARD alpha gehöre "in die Hauptprogramme", findet der Verein außerdem. Nee, sorry, Leute, also das nun wirklich nicht. "Demokratie verstehen" ist ein eher trutschiges Format, dessen, sagen wir mal: kostengünstige Produktionsweise einen geradezu anspringt.

Unter der Überschrift "programmliche Veränderungen vornehmen" findet sich dann zum Beispiel noch der Vorschlag, "mehr Information und Berichterstattung über (…) den Globalen Süden" zu bringen. Die öffentlich-rechtliche Vernachlässigung dieses Weltgebiets kritisiert der Historiker und Medienforscher Ladislaus Ludescher ja schon seit Jahren, zuletzt im Februar (Altpapier, "European Journalism Observatory")

Was der Initiativkreis außerdem will:

"Das Auslandskorrespondentennetz von ARD und ZDF könnte viel besser genutzt werden durch häufigere Sendungen im linearen Programm. Nur ein ‚Weltspiegel‘ und ein ‚Auslandsjournal‘ pro Woche sind für öffentlich-rechtliche Sender, die immer wieder ihren Informationsanteil herausstellen, zu wenig."

Auch wenn man in diesem Zusammenhang vielleicht nicht unterschlagen sollte, dass der "Weltspiegel" non-linear einiges auf der Pfanne hat: Diese Forderung unterschreibe ich sofort.


Altpapierkorb (Radio Dreyeckland, Mathias Döpfner, Klaus Brinkbäumer, Franz Beckenbauer)

+++ Am morgigen Donnerstag beginnt vor dem Landgericht Karlsruhe der Prozess gegen einen Mitarbeitenden von Radio Dreyeckland. Mit anderen Worten: Es geht um einen "Fall", der bereits Thema in zahlreichen Altpapier-Kolumnen war, etwa dieser und dieser. Die "Evangelische Zeitung" und newsroom.de veröffentlichen nun einen KNA-Text, der auf dieses wichtige Verfahren vorausblickt. Angela Furmaniak, die Anwältin des Journalisten, wird wie folgt zitiert: "Das Bundesverfassungsgericht sagt, das Grundrecht der Meinungs- und Pressefreiheit erwächst aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik. Das bedeutet, dass der Presse die Möglichkeit eingeräumt werden muss, staatliche Organe zu kontrollieren, zu kritisieren und staatliches Handeln auf den Prüfstand zu stellen. Wenn man die Pressefreiheit ernst nimmt und wenn man die Aufgabe der Presse, Machtkritik zu betreiben, ernst nimmt, kann meines Erachtens nur ein Freispruch herauskommen."

+++ Rätsel des Tages: Warum lässt die FAZ ihren Feuilleton-Aufmacher von einem Autor schreiben, der einem Mischkonzern vorsteht, zu dem auch mit der FAZ konkurrierende Medien gehören? Die Rede ist von Mathias Döpfner, der also einige quasi eigene Foren zur Verfügung hat, wo er seine Visionen feilbieten kann und auch hätte verklickern können, "warum wir Google nicht mehr fürchten" (um die Headline des FAZ-Gastbeitrags zu zitieren). Außerdem: Sollte man von einer im hiesigen Meinungsspektrum nicht gerade unnamhaften Stimme wie der FAZ nicht erwarten, dass sie eine Gegenposition zum Döpfnerismus auf Lager hat?

+++ Ein Prominenter, den wir nun doch nicht im erlauchten Kreis der MDR-Freien begrüßen dürfen: Klaus Brinkbäumer. In der vergangenen Woche haben wir erwähnt, dass er ab Mai seinen Posten als MDR-Programmdirektor abgeben und für den Sender fortan verschiedene Autoren- und Moderationstätigkeiten wahrnehmen wird. Aber: Letzteres wird er im Rahmen seines bisherigen Vertrags tun, berichtet Ex-Altpapier Autorin Annika Schneider für "Übermedien". Mit anderen Worten: Brinkbäumer ist bald zwar nicht mehr Programmdirektor, "behält" aber seinen Direktorenvertrag. "Ob das Direktorengehalt an die neuen Tätigkeiten angepasst wird", habe Intendant Ralf Ludwig "in einer internen Mitarbeiterversammlung am Freitagvormittag (…) nicht sagen" wollen, heißt es in dem Artikel weiter.

+++ Holger Gertz würdigt in der "Süddeutschen Zeitung" die für zehn Euro am Kiosk zu habende Beckenbauer-Hagiographie "Franz - das Magazin". Hinter dem Heft steht der "Selfmade-Verleger" (Gertz) und Bundesverdienstkreuzträger Oliver Wurm.

Das Altpapier am Donnerstag schreibt Johanna Bernklau.

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