Kolumne: Das Altpapier am 27. Februar 2024 Wenn Terror plötzlich Eindruck macht
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27. Februar 2024, 11:56 Uhr
Ist mit einer angemessenen Berichterstattung über die Berlinale in der "Tagesschau" nicht zu rechnen, weil die ARD mit dem Filmfestival verbandelt ist? Was kritisieren Linksliberale in den USA an der Trump-Berichterstattung der "New York Times"? Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Totalausfall in Hamburg
Der Regisseur Ben Russell dürfte seinen künftigen Bekanntheitsgrad in Deutschland nicht seiner künstlerischen Arbeit zu verdanken haben, sondern einer unsäglichen Einordnung der israelischen Angriffe auf Gaza. In seiner Dankesrede bei der Abschlussgala der Berlinale, wo er für den Dokumentarfilm "Direct Action" ausgezeichnet wurde, sagte er die seit Sonntag vielfach aufgegriffenen Sätze:
"Natürlich stehen wir hier auch auf für das Leben. Waffenstillstand jetzt! Natürlich sind wir gegen den Genozid. Wir stehen in Solidarität mit all unseren Kameraden."
In der "Süddeutschen Zeitung" befassen sich Aurelie von Blazekovic, Laura Hertreiter, Marlene Knobloch und Susan Vahabzadeh mit verschiedenen (Nicht-)Reaktionen auf diese und ähnliche Abschlussgala-Äußerungen. Unter anderem schreiben sie:
"Absolut unbeeindruckt war man von den Entgleisungen bei der ARD. In der 'Tagesschau' am Sonntagabend beschränkte man sich aufs Vermelden der Gewinner Mati Diop (dass die französisch-senegalesische Dokumentarfilmerin ihre Danksagung auf der Bühne mit dem Ausruf 'I stand with Palestine' beendet hatte, wurde unterschlagen) und Matthias Glasner. Auch, dass die Begriffe 'Genozid' und 'Apartheid' fielen, wurde verschwiegen - Wie kam es zu diesem Totalausfall bei Deutschlands wichtigster Nachrichtensendung?
Die Position der ARD:
"(Sie) teilt mit, aufgrund der Nachrichtenlage sei lediglich Platz für eine 26-sekündige Meldung gewesen. Und die 'Vorfälle in ihrer Komplexität' auf so kurzer Strecke darzustellen, 'ist nicht möglich, dafür wäre ein Reporterbericht nötig gewesen'."
Richtig ist, dass der 25. Februar ein für einen Sonntag außergewöhnlich nachrichtenintensiver Tag war. Und wenn man sich die 20-Uhr-Ausgabe jetzt noch einmal anschaut, stellt man fest, dass die Gewichtung weitgehend nachvollziehbar war. Das trifft allerdings nicht zu für die in geradezu epischer Länge abgehandelten "Bauernproteste in Polen". Hier hätte es keinen "Reporterbericht" geben müssen, eine Meldung hätte gereicht - und es wäre Platz gewesen für Hintergründiges zur Berlinale-Abschlussgala. Stattdessen: ein Beitrag, in dem gleich zwei polnische Landwirte zur Prime Time ihre Partikularinteressen performen dürfen.
Warum nun der "Totalausfall"? Die SZ meint:
"Zur Wahrheit gehört, dass die ARD und die Berlinale in einer Beziehung sind, die enger ist als so manche im Berliner Abgeordnetenhaus."
Die SZ-Kolleginnen erwähnen in dem Zusammenhang unter anderem die traditionelle Suffsause "Blue Hour".
Jedenfalls:
"Die 'Tagesschau’ am Sonntagabend wird (…) als die in die Fernsehgeschichte eingehen, die zeigt, dass mit einer angemessenen Berichterstattung über die Berlinale bei der ARD nicht zu rechnen ist."
Dieser Abschnitt des SZ-Artikels endet dann mit einer verhältnismäßig empörten Antwort einer ARD-Sprecherin:
"Die Frage nach einer möglichen Befangenheit stellt indirekt die journalistische Unabhängigkeit unserer Redaktionen in Frage, das weisen wir in aller Deutlichkeit zurück."
Auch wenn die Kritik der SZ-Autorinnen an der fehlenden ausführlichen Berichterstattung am Sonntag - am Montag kam in der 20-Uhr-Sendung dann der Beitrag, der so ähnlich schon tags zuvor hätte kommen können - berechtigt ist: Die Idee, dass hier geschäftliche Verbindungen zwischen Senderverbund und Filmfestival eine Rolle spielen könnten, finde ich nicht naheliegend. Ich würde eher von einer ganz gewöhnlichen redaktionellen Fehlentscheidung bei "ARD aktuell" sprechen (die im konkreten Fall auch einer Obsession für "Bauernproteste" geschuldet sein könnte).
Hannah Pilarczyk für den "Spiegel" und Julia Lorenz für Zeit Online kritisieren die (medialen) Reaktionen auf die Gala bzw. die (erwartbaren) Berichterstattungsdynamiken. Pilarczyk schreibt:
"Alle Statements des Abends pauschal als Hetze zu verunglimpfen, ist nicht die Korrektur von Einseitigkeit, sondern ihr exakter Spiegel."
Die "Spiegel"-Redakteurin meint des Weiteren, dass jene, die kritisch aufgriffen, worüber bei der Gala "geschwiegen" wurde, mit zweierlei Maß messen würden:
"Je häufiger ein Waffenstillstand gefordert und die Solidarität mit Palästina bekundet wurde, desto lauter wurde das Schweigen zu anderen Gewalttaten und deren Opfern. Das galt besonders für die israelischen Opfer der Hamas-Massaker vom 7. Oktober und für die vielen israelischen Geiseln (…) Es galt aber auch für die Toten des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Am zweiten Jahrestag der Vollinvasion durch Russland, der auf den Tag der Preisverleihung fiel, war diese Ignoranz ebenfalls erschreckend."
Einige, sagen wir mal: symptomatische Ungenauigkeiten benennt Pilarczyk auch noch:
"Bärengewinnerin Diop hat ihre Solidaritätsadresse an Palästina (…) nicht, wie es die 'Süddeutsche Zeitung' schrieb, in den Saal gebrüllt (auf YouTube lässt sich das gut nachvollziehen). Und es war auch nicht der deutsche Kulturbetrieb, der am Samstag so lauten Applaus für die Israelkritik gespendet hat, wie der israelische Botschafter Ron Prosor behauptete. Das Publikum war durch die vielen anwesenden Filmteams sehr international – was eben für eine andere, in Teilen befremdliche und kritikwürdige Reaktion gesorgt hat."
Und Julia Lorenz kritisiert:
"Einen Genozid seitens Israel auf der Berlinale-Bühne (…) als Tatsache darzustellen, ist unangemessen und falsch. Jede Debatte darüber abwürgen zu wollen, ob der israelische Militäreinsatz im Gazastreifen in seiner Form und seinem Ausmaß verhältnismäßig ist, hilft jedoch auch nicht."
Terror in Brüssel
Stefan Beutelsbacher, EU-Korrespondent der "Welt", hat am Montag in einer Schalte bei Welt TV einen sehr treffenden Satz gesagt: Die Bilder, die Krawallpersonen aus dem landwirtschaftlichen Milieu in Brüssel schufen (siehe dazu auch ein von taz-Redakteur Ingwar Perowanowitsch gepostetes Video) erinnerten "an eine Lage nach einem Terrorangriff".
Auffällig war aber, dass in der gesamten Schalte vorher an diesen Bildern gewissermaßen vorbeigeredet wurde, Beutelsbacher sprach verständnisvoll vom "Unmut" der Bauern, die Moderatorin von "eindrucksvollen Live-Bildern". Eine Springer-Journalistin, die Terror "eindrucksvoll" findet? What a time to be alive!
Bei Zeit Online kriegt es Ulrich Ladurner sogar hin, gar nicht von Terror zu sprechen (nur in der Bildunterschrift ist von "gewaltsamen Zusammenstößen" die Rede). Stattdessen kritisiert er, die EU mache den Landwirten "hölzerne Angebote". Als ob es in der derzeitigen Situation noch irgendeine Rolle spielen würde, welche "Angebote" die EU macht.
Generell war eher eine Zurückhaltung bei der Beschreibung der Ereignisse zu beobachten. Die vom "Kölner Stadt-Anzeiger" formulierte Ober-Überschrift "Landwirte? Nennen wir sie Kriminelle", entnommen einem Post eines Politikberaters, war in ihrer Deutlichkeit meiner Wahrnehmung nach die Ausnahme.
Faschismus als Unterhaltung
Aus leider immer wieder neuen Anlässen poppt regelmäßig Kritik auf am Umgang hiesiger Medien mit rechtsextremen Politikern und Positionen. Ließe sich für "unsere" Debatten etwas lernen aus zumindest entfernt vergleichbaren Auseinandersetzungen, die derzeit in den USA stattfinden?
Dort haben linksliberale Journalistinnen und Journalisten in den vergangenen Wochen zum Beispiel verstärkt Kritik an der "New York Times" formuliert.
"Is The New York Times pro-Trump and anti-Biden?"
fragte die für einen Radiosender in Chicago arbeitende Medienkritikerin Jennifer Schulze vor drei Wochen. Aktuell kritisiert sie in einem Threads-Post nun die Vorwahl-Berichterstattung der Times, sie spricht von einem "Anti-Biden/Pro-Trump bias". Dieser "bias" ist auch Thema eines Posts, den der frühere US-Arbeitsminister Robert Reich in verschiedenen sozialen Medien verbreitete:
"Zwei Vorwahlen, zwei sehr unterschiedliche Einschätzungen. Als Biden in (South Carolina) mit 96 % gewann, sagte die NYT, dies sei 'ein unsicheres Maß für die allgemeine Begeisterung' für ihn. Aber als Trump mit weitaus weniger als 60 % gewann, nannte die NYT dies 'einen vernichtenden Schlag', der ihn 'auf die Nominierung zusteuern' ließ. Sehen Sie das Problem?"
Ein generelles bzw. weitreichenderes "Problem" benennt der freie Journalist und Buchautor Mark Jacob in seinem Newsletter "Stop the presses":
"Die meisten Amerikaner nehmen unsere politische Krise nicht ernst genug - weil unsere Medien es nicht tun. Zu viele Journalisten berichten über den Aufstieg des republikanischen Faschismus, als ob es sich um eine Streaming-Serie auf Hulu handeln würde, obwohl sie darüber berichten sollten, als ob es sich um einen Hurrikan der Kategorie 5 oder eine Epidemie handelt (...) Die Medien müssen erkennen, dass die Republikaner uns zu Tode zu unterhalten drohen. Wenn Medien-Outlets Bösewichte aus dem wirklichen Leben als bunte Schurken darstellen, verwandeln sie den politischen Prozess in eine Zeichentrickserie."
Altpapierkorb (Kreml-Leaks, Reformstaatsvertrag, Bonn Institute, kein Verfahren gegen "Recherche Nord"-Fotograf, Theaterkritiker-Unwissen)
+++ Mehrere internationale Medienhäuser haben die "Kreml-Leaks" ausgewertet, insgesamt "30 Unterlagen und Papiere" ("Spiegel"), die Aufschluss geben über den nicht zuletzt finanziellen Umfang von Russlands "Infokrieg gegen die eigene Bevölkerung" ("Der Standard"). Zu weiteren Ergebnissen der Auswertungen siehe zum Beispiel diesen Thread von Paper Trail Media.
+++ "Das Szenario zu einer Art Konfliktbefriedung wäre ein Reformstaatsvertrag im Herbst, wie er in der Medienpolitik seit einigen Monaten schon (besser: 'schon') diskutiert wird", hieß es gestern an dieser Stelle im Überblick zur Berichterstattung über den Rundfunkbeitragserhöhungs-Vorschlag der KEF. Zu diesem "Reformstaatsvertrag" äußert sich nun die rheinland-pfälzische Medienstaatssekretärin Heike Raab im FAZ-Interview.
+++ Die Staatsanwaltschaft Meiningen hat das skandalöse Verfahren gegen André Aden, der für das Portal "Recherche Nord" Konzerte rechtsextremistischer Bands fotografiert hatte (Altpapier), eingestellt. Unter anderem die FAZ und unsere Kollegen von MDR Thüringen berichten darüber.
+++ Die "Süddeutsche" stellt die Arbeit des gemeinnützigen Bonn Institute vor, das sich die "Verbreitung und Implementierung" des konstruktiven Journalismus auf die Fahnen geschrieben hat.
+++ Dass bei vielen Kritikern ein eher geringes Wissen über die Arbeitsprozesse bei Theaterstücken und Fernsehfilmen vorherrscht, konstatiert der Schauspieler Tristan Seith bei "Übermedien": "Dem Schauspieler (wird) jede x-beliebige Regieentscheidung zugeschrieben, gegen die man sich nicht zu wehren wusste. 'Heide Hebel legt ihre Desdemona ganz banal als zartes Pflänzlein an.' Nein. Der Regisseur wollte das so, und Heide konnte ihn in den paar Wochen nicht vom Gegenteil überzeugen. (Man) schiebt (…) selbst Drehbuchideen auf den Spielenden (ich wurde mal dafür kritisiert, dass ich in einem 'Tatort' ein Gewehr zur Hand habe) und traut ihm damit eine Macht zu, die er gar nicht hat."
Das Altpapier am Mittwoch schreibt Christian Bartels.