Kolumne: Das Altpapier am 7. Februar 2024 Der Schwung wird bleiben
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07. Februar 2024, 13:38 Uhr
Die rechtsextreme Illustrierte "Compact" verliert mehrere hundert Verkaufsstellen. Der HR macht vor, wie man über die größte Massenbewegung der bundesrepublikanischen Geschichte berichtet. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- Entbräunter Bahnhofsbuchhandel
- Vorbild Wallonien (Reloaded)
- Vorbild "Hessenschau extra"
- Post-autokratisches Fernsehen in Polen
- Normaltemperatur bei der SZ noch nicht abzusehen
- Altpapierkorb (arbeitgeberfreundliche Journalisten, zehn Jahre "Die Anstalt", unabhängiger russischer Journalismus, "TikTok-Intifada", Bluesky für alle)
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Entbräunter Bahnhofsbuchhandel
Der Firmenname Valora dürfte nur wenigen unserer Leserinnen und Leser geläufig sein, und das ist vielleicht nicht gerecht, denn die Entscheider des Unternehmens, das hinter der Bahnhofsladenkette Press & Books steht, haben weitaus mehr Ahnung von Demokratie als namhafte Mitarbeitende des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, die 1:1-Interviews mit Rechtsextremisten führen oder sie in Talkshows einladen.
"Wir wollen (…) denjenigen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung Deutschlands – und damit auch die Presse- und Meinungsfreiheit – verächtlich machen und darauf abzielen, sie zu überwinden, keine Plattform bieten."
So begründet die Firma, dass sie in ihren 157 Filialen die rechtsextreme Illustrierte "Compact" ab sofort nicht mehr verkaufen wird. Gefordert hatten das beispielsweise die Unterzeichner eines auf der Petitionsplattform We Act! unter der Überschrift "Stoppt Compact - Keine rechte Hetze im Bahnhofsbuchhandel!" veröffentlichten Aufrufs. Der richtet sich allerdings auch an die Geschäftsführer von drei weiteren in diesem Geschäftsfeld tätigen Unternehmen. [Nachtrag, 13.03 Uhr: Die Unternehmensgruppe Dr. Eckert GmbH nimmt "Compact" ebenfalls aus dem Sortiment.]
Im Text von Correctiv, das zuerst über die Entscheidung Valoras berichtete, fehlt natürlich nicht der Hinweis darauf, dass bei "Compact" "auch zwei zentrale Akteure (publizieren), die am Geheimtreffen bei Potsdam im November 2023 teilnahmen".
Vorbild Wallonien (Reloaded)
Immer noch poppt in den Social-Media-Timelines gelegentlich ein Hinweis auf einen Anfang des Jahres beim Magazin "Good Impact" erschienenen Text über den medialen Umgang mit Rechtsextremen in Wallonien auf. Wir haben ihn vor etwas mehr als zwei Wochen hier verlinkt, aber da er mit jedem Tag an Aktualität gewinnt, sei hier noch mal eine entscheidende, geradezu manual-reife Passage zitiert:
"In Wallonien (…) haben schon in den 1990er-Jahren alle Rundfunkanstalten einen Pakt geschlossen, den 'cordon sanitaire médiatique': Menschen, die rassistischen, demokratiefeindlichen Gruppen nahestehen, bekommen keine Plattform; Einladungen zu Live-Interviews und Talkshows sind tabu."
Als ergänzende Hörlektüre zu empfehlen: ein aktueller Beitrag aus der Deutschlandfunk-Sendung "Europa heute", in der Nils Schniederjann beschreibt, welchen Anteil die Medien daran haben, dass Rechtsextremisten im strukturschwachen Wallonien keinen Fuß fassen - anders als in Flandern, also im nördlichen Landesteil Belgiens.
Während es in Wallonien "neue extremistische Parteien schwer haben, in die Medien zu kommen" und die 2019 gegründete Partei Chez nous "nicht über zwei Prozent hinaus kommt", werden laut Roger Pint, Redaktionsleiter des Belgischen Rundfunk der Deutschsprachigen Gemeinschaft, in Flandern Rechtsextreme auch schon mal in Quiz- oder Spielshows eingeladen.
Ach, dann haben wir es ja in Deutschland noch gut. Ein Nazi als Mitspieler bei "Wer weiß denn so was?" oder "Frag doch mal die Maus" - das ist zumindest derzeit noch nicht vorstellbar.
Vorbild "Hessenschau extra"
Am Dienstag kursierte bei Mastodon und Bluesky eine seltsame Antwort aus der Zuschauerredaktion der ARD-Programmdirektion. Es ging um die Weigerung der ARD, den historisch einmaligen Protesten gegen den Rechtsextremismus gerecht zu werden. Die Antwort findet sich unter anderem in dieser Reaktion der Publizistin Marina Weisband.
Die Absendende aus der Programmdirektion ist vermutlich nicht davon ausgegangen, dass ihre Antwort veröffentlicht wird. Sie schrieb Folgendes:
"Wir halten (…) eine kontinuierliche Berichterstattung für sinnvoller als punktuelle 'Brennpunkte'."
Das ist natürlich Unfug. Als ob das eine das andere ausschlösse. Wenn es einen "Brennpunkt" zu einer Erdbebenkatastrophe gibt, heißt das ja nicht, dass es keine "kontinuierliche Berichterstattung" zu diesem Erdbeben gibt.
Am Ende des Schreibens heißt es dann:
"Im übrigen erfahren wir starke Kritik daran, dass die ARD diesen Demonstrationen aus der Sicht vieler Menschen in Deutschland zu viel Raum in ihren Programmen einräumt."
Wenn man den Umgang der eigenen Berichterstattung rechtfertigen will, kann man doch nicht als mindestens indirektes Argument Zuschauerzuschriften nennen. Ja, Anti-Antifaschisten finden es nicht gut, dass über antifaschistische Demos berichtet wird. So what?
Oder, um die bereits erwähnte Marina Weisband zu zitieren:
"Rechte schreiben immer Briefe. Immer. Darum haben Politiker auch das Gefühl, sie müssten Abschiebeoffensiven machen, um bei der Mehrheit anzukommen."
Einer unserer Stammlesenden, bei Bluesky als "Drella" unterwegs, schreibt:
"Verblüffend ist die Abwesenheit einer konsistenten Argumentation. Es wird doch redaktionelle Kriterien für einen Brennpunkt geben, auf die sie sich berufen könnte (oder nicht?). Und der völlig unspezifische Verweis auf Kritik am Schluss steht in keinem sinnvollen Verhältnis zu den Aussagen davor."
Fragwürdig ist die Antwort aus der Programmdirektion auch wegen folgender Passage:
"Die neue gesellschaftliche Bewegung ist auch Thema in unseren politischen Magazinen und Gesprächssendungen."
In den politischen Magazinen im Ersten waren die Proteste, wenn man Erwähnungen am Rande mal außen verlässt, bisher erst einmal Thema (bei "Report München"). Das ist aber auch nachvollziehbar: Die Politikmagazine im Ersten haben einen langen Planungsvorlauf, und sie laufen auch nur alle drei Wochen. Am gestrigen Dienstag fiel der Politikmagazintermin um 21.45 Uhr übrigens mal wieder DFB-Pokal-bedingt aus.
Das Magazin, das bisher am besten reagiert hat, war "ttt", eine Sendung, die unter der notorischen Geringschätzung der ARD-Programmdirektion zu leiden hat (Altpapier). Gemeint sind dieser Beitrag vom 28. Januar und dieser vom vergangenen Sonntag.
Wie auch immer: Man muss davon ausgehen, dass es in der ARD-Programmdirektion Leute gibt, die die Dimension der Proteste nicht einschätzen können oder wollen. Anders scheint das beim HR zu sein, der am Montag um 20.15 Uhr bei "Hessenschau Extra" 25 Minuten zeigte, "warum die Hessen jetzt auf die Straße gehen".
Von dem Regionalpatriotismus im Titel mal abgesehen, war das Regionalfernsehen, wie es sein soll. Akteure und Betroffene, vor allem in kleineren Orten, wurden in den Mittelpunkt gestellt; die Protagonisten waren sehr gut ausgewählt, etwa der Vorsitzende eines Sportclubs oder eine 90-jährige, die davon erzählt, wie die Nazis 1942 und 1943 ihre jüdischen Großeltern und ihre Mutter deportierten. Und die Expertenauswahl was auch gelungen.
Man kann sich ja vorstellen, dass in den Medien in den nächsten Wochen der eine oder andere Hühnerdieb um die Ecke kommen wird mit Statements mit dem Tenor "Ätschibätsch, es demonstrieren ja jetzt viel weniger Leute". Prophylaktisch sei daher schon mal zitiert, was Tina Dürr vom Demokratiezentrum Marburg im "Hessenschau extra"-Film sagt:
"Diese Demonstrationen werden irgendwann abebben, aber der Schwung daraus wird bleiben: Dass man mit neuer Energie in die kommunalpolitische Arbeit geht, in die Initiativen, in denen man tätig ist."
Post-autokratisches Fernsehen in Polen
Da die Medienpolitik der vormaligen polnischen Regierungspartei PIS offenbar der AfD als Vorbild dient (Altpapier), ist es erfreulich, dass sich hiesige Medien ausführlich mit der Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens im Nachbarland beschäftigen:
"Nachdem die von Jarosław Kaczyński geführte PiS 2015 die Wahl gewonnen hatte, begann sie Stück für Stück die bis dahin unabhängigen öffentlichen Medien in ein Propagandasprachrohr der Regierung zu verwandeln. Politiker der Opposition wurden als Verräter und deutsche Agenten verunglimpft, manchmal wurde ihnen auch vorgeworfen, für Deutschland und Russland gleichzeitig zu arbeiten."
Unter anderem mit diesen Worten blickt der "Spiegel" zurück auf die Übernahme des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Polen durch die Autokraten. Wie die Nachfolgeregierung nun bei der "Demontage" dieser "Propagandamaschine" vorgeht, beschreibt der Text auch.
Darüber berichtete in der vergangenen Woche bereits Zeit Online. Und auch darüber, dass die bisherige PIS-Propaganda-Kompanie "mit einem Teil der Zuschauer zu TV Republika gezogen ist, das Kaczyński zu einer Art polnischem Fox News aufbauen will", berichtete Zeit Online in der vergangenen Woche. Zu letzterem Aspekt siehe des weiteren einen SZ-Artikel, der einen Tag später erschienen ist.
Normaltemperatur bei der SZ noch nicht abzusehen
Was gibt es Neues vom aktuellen FC Hollywood der Medienbranche, also der "Süddeutschen Zeitung"? Die sieht sich derzeit bekanntlich "enormer Kritik" (tagesschau.de) ausgesetzt, es geht um Plagiatsvorwürfe gegen die stellvertretende Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid und die Überprüfung der IP-Adressen der Redaktion (siehe zuletzt Altpapier von Dienstag).
Über Letzteres hat "Die Welt" mit SZ-Betriebsrat Franz Kotteder gesprochen. Der sagt:
"Aus heutiger Sicht würden wir von so einer Überprüfung abraten, weil sie zu vielen möglichen Missinterpretationen unterliegt, wie man derzeit ja erleben kann. Aber im Nachhinein ist jeder schlau."
Dass es in der SZ-Redaktion "etwas dauern (dürfte), bis das Betriebsklima (…) wieder auf Normaltemperatur ist", lautet eine Prophezeiung am Ende des Artikels.
Zur Rechtmäßigkeit der Weitergabe von SZ-Redaktionskonferenzinterna an den "Medieninsider" äußert sich der TV-Produzent Marcus Lindemann bei Threads:
"Das Verfassungsgericht hat schon im Fall Wallraff geurteilt, dass die Redaktionskonferenz ein besonders geschützter Raum ist, aus der Wallraff nicht berichten durfte. D.h. der Schutz der Redaktionskonferenz ist höher zu bewerten als die Recherchefreiheit des Medieninsiders."
Für die etwas jüngeren Leserinnen und Leser sei das Schlagwort "Fall Wallraff" noch kurz erläutert: Vor 40 Jahren siegte Günter Wallraff gegen Springer in Karlsruhe mit "drei zu eins", wie es der "Spiegel" damals formulierte. Seine Undercover-Recherchen bei der "Bild"-Zeitung seien rechtmäßig gewesen, urteilte das Bundesverfassungsgericht, nur halt die Wiedergabe von "Inhalt und Ablauf einer Redaktionskonferenz" nicht.
Zum gestern hier schon erwähnten Popcorn-Faktor, dass ein in dem Spiel mitmischender Plagiats-"Gutachter" von "Nius" beauftragt wurde (siehe "Spiegel"), steuert ORF-Moderator Armin Wolf Erhellendes bei (siehe einen X-Post, den "Der Standard" eingebettet hat).
Bemerkenswert ist im Übrigen die ausgesuchte Höflichkeit, mit der die Kollegen "Nius" als "rechtspopulistisches Portal" ("Spiegel") bzw. "rechtspopulistisches Medium" (taz) bezeichnen. Der natürlich nicht minder höfliche Armin Wolf spricht dagegen von einem "rechten Agitprop-Portal", und die Formulierung trifft’s dann schon ein bisschen besser.
Altpapierkorb (arbeitgeberfreundliche Journalisten, zehn Jahre "Die Anstalt", unabhängiger russischer Journalismus, "TikTok-Intifada", Bluesky für alle)
+++ "Gerade zu Streikzeiten werden (wir) haargenau (darüber) informiert, wie gut es die deutschen Arbeitnehmer hätten, und dass diese nun endlich einmal ihre Interessen zurückstellen sollten." Mit unter anderem diesen Worten kritisiert Ole Nymoen im Magazin "Jacobin" die allzu arbeitgeberfreundliche Haltung von Journalisten, die man sowohl beim "Spiegel" als auch bei FAZ und "Focus" finde.
+++ Die Wochenzeitung "Kontext" würdigt "Die Anstalt" anlässlich ihres zehnjährigen Bestehens. Zum Jubiläum schauen dort "die Drehbuch-Autoren Max Uthoff, Claus von Wagner und Dietrich Krauß zurück auf das, was sie alles nicht erreicht haben". Von Wagner zum Beispiel "grämt es (…) schon ein wenig, dass jede Talkshow in den großen Zeitungen nacherzählt wird, doch Rezensionen zu ihrem Format eher Ausnahmefälle sind".
+++ Das "European Journalism Observatory" hat mit Zhanna Nemtsova, die früher Journalistin war heute Journalisten ausbildet, über die Lage des unabhängigen russischen Journalismus gesprochen. Sie sagt: "Die meisten unabhängigen russischen Journalist:innen (sind) jetzt im Exil. Die Mehrheit der unabhängigen Medienunternehmen haben ihre Teams ins Ausland verlagert – das ist sozusagen Offshore-Journalismus. Dennoch haben viele russische Medien, die aus dem Exil arbeiten, immer noch freiberufliche Journalist:innen im Land. Natürlich müssen sie sehr vorsichtig sein und die Sicherheitsprotokolle ernst nehmen. Diese Umstände machen eine unabhängige journalistische Arbeit enorm schwierig." Hinzu komme: "Nach dem Einmarsch in die Ukraine wurden viele Medien und Social-Media-Plattformen blockiert und können nur noch über einen VPN erreicht werden. Aber das Informationsministerium macht diese VPNs konsequent zunichte, sodass man neue VPNs benutzen muss. Die Regierung versucht, unabhängige journalistische Medien von ihrem Publikum im Land abzuschneiden, um ihren Einfluss zu verringern. Und das funktioniert. Die Menschen sind es leid, sich diese zusätzliche Mühe zu machen, und sie nutzen gesperrte Plattformen viel weniger als früher."
+++ Auf die von der Bildungsstätte Anne Frank veröffentlichte Studie "Die TikTok-Intifada – Der 7. Oktober & die Folgen im Netz" gehen die FAZ und die "Frankfurter Rundschau" ein.
+++ Bluesky hat seine Invitation-only-politik beendet und ist jetzt offen für alle. Darüber berichten beispielsweise der "Spiegel", "Techcrunch" und "Platformer News". Für jene, die sich jetzt entschließen, sich dort anzumelden: Das Altpapier ist dort unter @altpapier.bsky.social zu finden.
Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ralf Heimann.