Kolumne: Das Altpapier am 31. Januar 2024 Auf TikTok wird’s still
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31. Januar 2024, 12:29 Uhr
Während bei den Schlagzeilenbastlern eifrig ge(k)lebt wird, bangt die TikTok-Community um ihre musikalische Untermalung. Die Rundfunkkommission könnte die für sie nervige Rechtslage bald einfach ignorieren. Die Medienthemen des Tages kommentiert Annika Schneider.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Niemand klebt ewig
Bei einer Radiomoderationsschulung bin ich einmal vor dem "ENE" gewarnt worden, vor dem "ersten naheliegenden Einfall". Das gleichnamige Prinzip besagt: Wer sich bei journalistischen Texten mit der erstbesten Idee zufriedengibt, klingt schnell langweilig und auswechselbar – meist ist das nämlich genau der Einstieg oder die Überschrift, auf die auch alle anderen gekommen sind. Es lohnt sich deshalb, bis zur zweiten oder dritten Idee weiterzudenken, bevor man lostextet.
Daran musste ich heute Morgen denken, als ich die Überschriften zur neuen Strategie der "Letzten Generation" las, die in Zukunft auf Straßenblockaden verzichten will:
"Kleben und kleben lassen" (SZ)
"Niemand klebt ewig" (taz)
"Das Kleben lassen" (FAZ)
"Klebe wohl!" (Spiegel online)
Das Wortspiel war wohl einfach zu verlockend, um es links liegen zu lassen – ENE hin oder her.
Sexismus per Klick
Auch sonst laden die Medienseiten heute zu eher oberflächlichen Betrachtungen ein: Die Niedersächsische Landesmedienanstalt hat beispielsweise entschieden, dass die Künstlerin, die beim "Supertalent" Blockflöte mit ihrer Vagina spielte, zwar möglicherweise "geschmacklos" war, aber kein Problem für den Jugendschutz darstellt. Für Jugendliche ab zwölf sei die Frau "keine (attraktive) Identifikationsfigur", heißt es unter anderem in der Begründung, über die Manuel Weis bei DWDL berichtet. Auch die SZ hat das Thema gestern aufgegriffen.
Amüsant ist auch die Erklärung (nicht aber der Fall an sich!) des australischen Fernsehsenders "9News Melbourne", der "aus Versehen" ein retuschiertes Foto einer Politikerin veröffentlicht hatte – mit größeren Brüsten und neuem bauchfreien Outfit. Laut "Tagesspiegel" entschuldigte sich der Senderchef damit, dass "die Automatisierung von Photoshop" das Bild kreiert habe. Dieser Software-Automatismus ist allerdings nicht nur mir, sondern auch dem dazu befragten Sprecher von Photoshop-Betreiber Adobe neu.
Drohende Stille auf TikTok
Auf TikTok haben sie derweil ganz andere Probleme: Diverse Videos auf der Plattform könnten spätestens morgen nackig dastehen, sprich: ohne Musik. Nachdem ein Lizenzdeal zwischen TikTok-Betreiber ByteDance und dem Musikkonzern Universal Music Group (UMG) geplatzt ist, dürfen Titel vieler Künstlerinnen und Künstler nicht mehr genutzt werden, darunter Superstars wie Lady Gaga, The Weeknd, Taylor Swift, Harry Styles, Ariana Grande, Coldplay, Justin Bieber, Elton John, Billie Eillish…
UMG ist der größte Musikkonzern der Welt und hat die gescheiterten Verhandlungen in einem offenen Brief begründet, der sich an die "Artist und Songwriter Community" richtet. Über drei Punkte waren sich beide Seiten demnach uneins: die Vergütung für die Nutzungsrechte, den Umgang mit KI-generierten Inhalten und das Vorgehen von TikTok gegen problematische Inhalte. In einem guten Überblicksstück beim ORF ist zu lesen:
"Trotz über einer Milliarde Nutzern und Nutzerinnen von TikTok machten die Einnahmen von der Plattform des chinesischen Unternehmens ByteDance nur rund ein Prozent der Gesamteinnahmen von UMG aus, sagte das Unternehmen [UMG]. Zudem warf es TikTok 'Mobbing' vor, berichtete die BBC."
Wer tiefer ins Thema einsteigen möchte, kann das unter anderem beim "Guardian" tun. Hintergrund ist, dass die bisherige Vereinbarung von Februar 2021 nun nach drei Jahren ausläuft. TikTok verwies in einer Stellungnahme darauf, dass es sich mit allen anderen Labels habe einigen können.
UMG wirft TikTok wiederum vor, es lasse zu, dass die Plattform mit KI-generierter Musik geflutet werde und entwickele sogar selbst Tools, um Musik mit KI zu erstellen. Mit der Art, wie Tantiemen in Zukunft verteilt werden sollen, trage die Plattform dazu bei, dass Künstlerinnen und Künstler von KI ersetzt würden.
Dazu passt es, dass Universal gemeinsam mit diversen anderen Akteuren der Musikbranche gerade erst an die Bundesregierung appelliert hat, am Freitag dem "AI-Act" der EU zuzustimmen. Benjamin Fischer schreibt dazu in der heutigen FAZ:
"Diverse Vertreter aus der vielschichtigen Musikbranche gehörten zu den Unterzeichnern: der Bundesverband Musikindustrie (BVMI), in dem allen voran die großen Drei, Universal, Warner und Sony Music vertreten sind, der "Verband unabhängiger Musikunternehmer*innen" (VUT) der kleineren Labels oder der Verband für freie Musiker, Pro Musik sowie die Verwertungsgesellschaften Gema und GVL. Auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) oder der Deutsche Drehbuchverband standen hinter dem Appell."
Es geht vor allem um die Frage, wann Inhalte genutzt werden dürfen, um KI-Modelle zu trainieren – und wie diese Nutzung vergütet werden soll. Eine aktuelle Mitgliederbefragung von Verwertungsgesellschaften in Deutschland und Frankreich zeigt demnach:
"Das größte Risiko, von komplett KI-generierten Inhalten ersetzt zu werden, besteht den Studienautoren zufolge im Bereich Produktionsmusik fürs Fernsehen oder auch soziale Medien sowie grundsätzlich Hintergrundmusik. Es gehe, die diversen Felder der Musiknutzung zusammengenommen, für Frankreich und Deutschland insgesamt um mögliche Verluste von mehreren Hundert Millionen Euro bis 2028, prognostiziert die Studie."
Gut möglich also, dass TikTok in Kürze gar keine menschengemachte Musik mehr braucht. Für Künstlerinnen und Künstler, die noch keinen Superstarstatus haben, würde damit allerdings eine wichtige Möglichkeit wegfallen, bekannt zu werden.
Ohren zu und durch bei der Beitragsdebatte?
Zu guter Letzt kommen auch Fans der Rundfunkbeitragsdebatte heute auf ihre Kosten: In der FAZ zeigt Helmut Hartung einen neuen Weg auf, wie die Länder doch noch verhindern könnten, dass der Beitrag steigt. Wir erinnern uns: Eine ganze Reihe von Bundesländern hatte vollmundig angekündigt, die Zustimmung zu einer Erhöhung zu verweigern. Unklar war bis jetzt, wie das gehen soll – dass die Länder zu einem Vorschlag der zuständigen Finanzkommission KEF einfach "nö" sagen, gibt das Rundfunkrecht nämlich nicht her.
Über einen möglichen Ausweg hat Hartung mit dem Rundfunkrechtler Dieter Dörr gesprochen: Die Länder könnten den KEF-Bericht, der Ende Februar veröffentlicht wird, einfach ignorieren. Wenn sie daraus nämlich keinen neuen Finanzierungsstaatsvertrag basteln, können sie den auch nicht unterschreiben bzw. darüber abstimmen. Wer genau diese Idee in die Welt gesetzt hat und ob sich die Länder tatsächlich dafür entscheiden könnten, bleibt in dem Text leider unklar.
Die Lösung klingt ein bisschen nach Kindergarten, also nach Ohren zuhalten und so tun, als habe man nicht gehört, dass man jetzt bitte mit dem Aufräumen anfangen soll. Der vermeintliche Ausweg hat außerdem den großen Haken, dass die Sender sich dagegen vor Gericht wehren könnten – auch die letzte Erhöhung musste ja das Bundesverfassungsgericht durchsetzen. Hartung schreibt:
"Bei einem Treffen am 7. Februar will die Rundfunkkommission die Intendanten der Sender davon überzeugen, nicht zu klagen. Denn die öffentliche Kritik an der zögerlichen Reformbereitschaft und am mangelnden Sparwillen ist nach wie vor groß, und eine erneute Anrufung des Verfassungsgerichts würde das lädierte Image weiter verschlechtern."
Es kann allerdings gut sein, dass die Intendantinnen und Intendanten gar keine Alternative zu einer Klage sehen: Schließlich ist es ihre Verantwortung sicherzustellen, dass sie ihr Programm betreiben können.
Für mich klingt das alles sehr dubios: Die Länder würden einen Weg wählen, von dem sie von vorneherein wissen, dass er vor Gericht keinen Bestand hat. Das wäre dann die Entscheidung, sich einfach nicht mehr an die Regeln zu halten, weil man zu faul/unfähig/uneins ist, um neue zu entwerfen. Den Beitragszahlenden lässt sich das kaum erklären, aber gut verkaufen.
Altpapierkorb
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Das Altpapier morgen schreibt Ralf Heimann für Sie.