Kolumne: Das Altpapier am 24. Januar 2024 Soziologen-Verzweiflung live
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24. Januar 2024, 12:13 Uhr
Am Montagabend nach den "Tagesthemen" dürften Björn Höckes Champagnervorräte zur Neige gegangen sein. Die US-Medien verbreiten Blödsinn über Trumps Vorwahl-Erfolge. Ukrainische Investigativjournalisten befinden sich in einem Zwiespalt. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- Die Interviewpause des Jahres
- Die dummen Schlagzeilen über Trumps Dominanz
- Seipel: Non, je ne regrette rien
- Ein etwas genauerer Blick auf die Ursachen der Medienkrise
- Das Dilemma regierungskritischer Journalisten in der Ukraine
- Altpapierkorb (noch mehr Berichterstattung zum Zukunftsratsbericht, gefährlicher Klienteljournalismus bei Zeit Online, kritikfähiger "Tagesspiegel")
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Die Interviewpause des Jahres
OIiver Nachtwey hat mit Caroline Amlinger den 2022 erschienenen Bestseller "Gekränkte Freiheit" geschrieben, er dürfte also ein Interview-Routinier sein, und möglicherweise hat er auch schon mal mit Journalistinnen und Journalisten zu tun gehabt, die in Gesprächen mit ihm nicht durch überbordende Fachkundigkeit aufgefallen sind. Jemanden wie Jessy Wellmer, die ihn am Montagabend für die "Tagesthemen" zu den Massenprotesten gegen Rechtsextremismus interviewte, dürfte er aber noch nicht erlebt haben.
Wer einen Eindruck davon bekommen will, wie sich Nachtwey die meiste Zeit gefühlt hat, sollte sich die vier Sekunden zwischen 3:59 und 4:03 anschauen. Hier schweigt Nachtwey, und er scheint zu überlegen, wie er das Interview noch retten kann. Nach der Schweigepause ist ein Geräusch leichten Entsetzens zu vernehmen, das in anderen Situationen wohl in einem deutlich wahrnehmbaren Aufstöhnen Ausdruck gefunden hätte. Wellmer hatte folgende Frage gestellt:
"Nun wächst aber auch bei einigen die Sorge, dass eben durch diese Proteste, die wir in den vergangenen Tagen beobachtet haben, das Auseinanderdriften der Gesellschaft vorangetrieben wird, weil sich jeder in seiner Blase mit der entsprechenden Weltanschauung verkriecht. Wie wahrscheinlich ist ein Auseinanderdriften?"
Der Fragesatz ist zwar von gequälter Lippengestik untermalt, so dass man darauf schließen könnte, dass Wellmer die Frage vielleicht gar nicht gut fand, sondern irgendein Eumel aus der "ARD aktuell"-Redaktion meinte, man müsse die unbedingt stellen. Aber das ändert natürlich nichts an den Fragen, die einem als Zuschauer in den Sinn kommen und die auch Nachtwey in dem Moment in den Sinn gekommen sein dürften: Inwiefern "verkriechen" sich mehr als eine Million Menschen, die auf die Straße gehen? Sorgt nach der von Wellmer in Anschlag gebrachten Logik nicht jede Demonstration für ein "Auseinanderdriften" der Gesellschaft? Wozu brauchen wir dann noch das Demonstrationsrecht? Wer sind eigentlich diese "einigen", und wie viele Nadeln anner Tanne hamse noch?
Es war Nachtwey bzw. seinen Augenbewegungen vorher schon anzumerken, dass es ihn einige Kraft kostete, seine Verzweiflung über die Fragen im Zaum zu halten. Denn: Der, wenn man denn so will, Höhepunkt des Interviews hatte nämlich schon vorher stattgefunden. Wellmer fragte:
"Werden die Wähler populistischer Parteien überhaupt erreicht, zumal einige, wie Thüringens AfD-Chef Höcke, nun behaupten, das seien gestellte Massen und nicht alle Bilder seien echt."
Die Champagnervorräte im Hause Höcke und bei seinen Spin-Doktoren dürften nach dieser Frage schnell zur Neige gegangen sein. Dass ein vor allem nach innen bzw. an die Allerkindsköpfigsten im eigenen Milieu gerichteter Gaga-Tweet durch eine "Tagesthemen"-Interviewfrage zu einem relevanten Debattenbeitrag geadelt wird - damit hatten sie nun wirklich nicht rechnen können.
Sollte Wellmer am nächsten Jahrestag der Mondlandung oder von 9/11 auf Sendung sein, wird sie ihre Gesprächspartner vermutlich fragen: Es gibt Leute, die sagen, die Mondlandung habe nicht stattgefunden. Was sagen Sie denen? Und sollte sie am Jahrestag von 9/11 ein Interview führen, muss man damit rechnen, dass sie fragt: Einige glauben, dass die USA selbst für die Anschläge verantwortlich sind. Wie erreicht man die?
Sarkasmus off: Indem Wellmer eine an Trollhaftigkeit nicht zu toppende Behauptung in einem Gespräch mit einem Experten in den Tagesthemen zu einer ernstzunehmenden Äußerung macht, erreicht sie ein nicht für möglich gehaltenes False-Balance-Level. Und das in Zeiten, in denen der ÖRR ständig neue False-Balance-Levels erreicht, siehe Baumann bei BaB (Altpapier) und im MoMa sowie Chrupalla bei Maischberger.
Die dummen Schlagzeilen über Trumps Dominanz
Dass Nachrichten- und Politikjournalisten nicht lernfähig sind, ist natürlich keine deutsche Besonderheit. In seinem Substack-Newsletter kritisiert der frühere US-amerikanische Arbeitsminister Robert Reich die Vorwahlberichterstattung der vergangenen Tage.
Die etablierten Medien seien "verblüfft über Trumps Erfolg bei den Vorwahlen in Iowa", schreibt Reich. Er zitiert in dem Zusammenhang CNN, das Trumps "Erdrutschsieg in Iowa" als "atemberaubende Demonstration der Stärke" bezeichnet. Und er zitiert er auch viele, viele andere. Seine Zusammenfassung:
"Schlagzeile um Schlagzeile liefert die gleiche atemlose, gebannte Geschichte: 'Trump dominiert'. 'Diszipliniert, rücksichtslos.' 'Äußerst effektiv.' 'Erstaunlich.' 'Mächtig.'"
Das sei "gefährlicher Blödsinn", und zwar unter anderem deshalb:
"Trumps Erfolg bei den Vorwahlen in Iowa letzte Woche war keine 'beeindruckende Demonstration von Stärke'. Es war eine Demonstration von bemerkenswerter Schwäche. Er erhielt nur 56.260 Stimmen. Hallo? Es gibt 2.083.979 registrierte Wähler in Iowa. Weniger als 3 Prozent der Iowaner haben für ihn gestimmt."
Und nicht zuletzt:
"Was den Medien entgangen zu sein scheint, ist, dass Trump vier Jahre lang Präsident war (...) Ehemalige Präsidenten haben bei den Vorwahlen ihrer Partei einen großen Vorteil, weil sie den Parteiapparat kontrollieren. Präsidenten, die nur eine Amtszeit absolviert haben und sich um die Nominierung für eine weitere Amtszeit bemühen, werden von ihrer Partei immer wieder nominiert, so auch Trump im Jahr 2020 - und vermutlich auch wieder im Jahr 2024."
Seipel: Non, je ne regrette rien
Diese Woche ist auch eine Hubert-Seipel-Woche bzw. sie wird eine werden, denn am morgigen Donnerstag will der NDR auf einer Pressekonferenz vorstellen, welche Ergebnisse die "Prüfung" der "Vorgänge um die Beauftragung und Umsetzung der Filme" ergeben hat, die Seipel für den Sender "realisiert hat". Einige der Fragen, die der Prüfbericht beantworten müsste, hat das NDR-Medienmagazin "Zapp" in diesem Beitrag im Dezember aufgeworfen. Zugespitzt gefragt: Gibt es Konsequenzen für Redakteure?
Zur Erinnerung: Für die bei Hoffmann und Campe erschienenen Bücher "Putin. Innenansichten der Macht" und "Putins Macht. Warum Europa Russland braucht" hatte Seipel Hunderttausende Euro aus dem direkten Umfeld Putins bekommen. Dies deckte im November ein Rechercheverbund auf, an dem der "Spiegel" und "Frontal" beteiligt waren.
Die aktuelle Berichterstattung begann mit einem "Spiegel"-Artikel über einen 2022 verhinderten Seipel-Film (Altpapier von Dienstag). Ein weiterer Text des Magazins kritisiert nun den sehr defensiven Umgang des Verlags Hoffmann und Campe mit der Seipel-Sache.
Dass Seipel erstmals "ausgepackt" hat - nämlich gegenüber Zeit Online -, ist auch zu vermelden. Ob "noch etwas von dem russischen Geld übrig" sei, will "Zeit"-Redakteur Götz Hamann unter anderem von Seipel wissen. Die Antwort lautet zusammengefasst: Nein.
Am aufschlussreichsten scheint mir folgender Wortwechsel zu sein:
"Sie gelten heute in aller Augen als korrupt. Was denken Sie darüber?" - "Damit muss ich leben. Korrupt ist immer nur der politische Gegner. Der Vorwurf ist so alt wie der politische Kampf."
Seipel versucht hier also offenbar den Eindruck zu erwecken, es gehe in der Kritik an ihm gar nicht um journalistische Ethik, sondern darum, dass er im "politischen Kampf" auf der nach Meinung seiner Kritiker falschen Seite stehe. Tja.
Ob er Reue empfinde, fragt Hamann dann auch noch. Seipel:
"Nein. Es war spannend und hat mir viele Erkenntnisse gebracht, die ich sonst nicht gewonnen hätte."
Ein etwas genauerer Blick auf die Ursachen der Medienkrise
Seit ja nun auch schon ungefähr zwei Jahrzehnten reden wir über die Medienkrise, und während viele Erklärungen immer wieder zu hören und zu lesen sind, bekommen andere nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Einige instruktive Gedanken zu dem, was wir Medienkrise nennen, hat nun Phillip Longman in einem Essay für die Januar/Februar/März-Ausgabe von "Washington Monthly" niedergeschrieben. Erst einmal bietet es sich an dieser Stelle an, vorwegzuschicken, dass die Krise in den USA ganz anders ausgeprägt ist als in Deutschland. Longman:
"In mehr als der Hälfte aller US-Countys haben die Menschen entweder keinen Zugang zu lokalen Nachrichten aus irgendeiner Quelle oder müssen sich auf ein einziges überlebendes Medienunternehmen verlassen, in der Regel eine Wochenzeitung."
Die Kernthese seines Beitrags:
"Der Zusammenbruch der Nachrichtenindustrie ist keine unvermeidliche Folge der Technologie oder der Marktkräfte. Er ist das Ergebnis politischer Fehler der letzten 40 Jahre, die die Regierung Biden bereits zu korrigieren versucht."
Konkreter: Sie sei das direkte Ergebnis "spezifischer, dummer politischer Entscheidungen", die Politiker sowohl der Republikaner und der Demokraten getroffen hätten. Unter anderem betont der Autor:
"Vor fast 20 Jahren begann Google mit einer Reihe von Übernahmen, die von den Aufsichtsbehörden blockiert worden wären, wenn nicht die damals geltenden laxen kartellrechtlichen Durchsetzungsstandards gegolten hätten, und schaffte es, die Kontrolle über wichtige digitale Werbemarktplätze zu erlangen, auf denen Publikationen und Vermarkter zueinander finden."
Im Folgenden geht es um Googles marktbeherrschende Stellung "in every layer of the so-called ad tech auction market" in Großbritannien. Ein Markt, auf dem Verlage "digitale Werbeflächen verkaufen und Vermarkter diese kaufen". Longman weiter:
"Laut einer Kartellklage des US-Justizministeriums und der Generalstaatsanwälte von acht Bundesstaaten, die voraussichtlich in diesem Frühjahr vor Gericht verhandelt wird, hat Google dieses Monopol auch in den Vereinigten Staaten durch eine breite Palette wettbewerbswidriger, illegaler Praktiken aufgebaut und aufrechterhalten."
Ein paar knackige Zahlen finden sich dann unter anderem in folgender Passage:
"Google gibt selbst zu, dass es von jedem Dollar, der zwischen Werbetreibenden und Publishern über seine Ad-Tech-Börsen fließt, durchschnittlich mehr als 30 Cent an Gebühren abschöpft. Im Jahr 2022 hat Google mindestens 32 Milliarden Dollar durch Anzeigen auf Websites Dritter eingenommen. Dieses Geld könnte und sollte in die Unterstützung von Verlagen und Journalisten fließen, denn schließlich sind es deren Fähigkeiten und Bemühungen, die die Leser und Zuschauer anziehen, die die Werbetreibenden erreichen wollen. Stattdessen fließt das ganze Geld dank der Kontrolle der Ad-Tech-Märkte direkt in die Kassen von Google."
Was passieren muss, damit sich was ändert, steht in dem Text übrigens auch.
Das Dilemma regierungskritischer Journalisten in der Ukraine
Mit der Belästigung und Überwachung von Journalisten, die in der Ukraine beispielsweise über Korruption berichten, beschäftigt sich das "Columbia Journalism Review" (CJR) - unter anderem unter Rückgriff auf einen Film des Senders France 24 und Äußerungen des Investigativjournalisten Yuriy Nikolov, der in dem TV-Beitrag zu Wort kommt.
In dem CJR-Text geht es auch um das Dilemma, in dem sich regierungskritische Journalistinnen und Journalisten in der Ukraine seit nunmehr fast zwei Jahren befinden:
"Angesichts der Gefahr, dass die ausländische Hilfe für die Kriegsanstrengungen - nicht zuletzt aus den USA - ins Stocken gerät, stehen vor allem investigative Journalisten vor der Wahl: Entweder sie ziehen ihre Regierung zur Rechenschaft und riskieren damit negative Schlagzeilen in den Geberländern, oder sie halten Informationen zurück und riskieren damit die Aushöhlung der Demokratie, für die sich die westliche Welt bisher so stark eingesetzt hat. (…) Nikolov (…) sagte gegenüber France 24, dass die Aufdeckung von Korruption den Fluss der Hilfe nicht behindern sollte. 'Die Ukraine braucht Waffen', sagte er. 'Wenn wir besetzt werden, kann ich die Korruption gar nicht mehr bekämpfen.’"
Altpapierkorb (noch mehr Berichterstattung zum Zukunftsratsbericht, gefährlicher Klienteljournalismus bei Zeit Online, kritikfähiger "Tagesspiegel")
+++ An weiterem Material für die Beschäftigung mit den Ergebnissen des Zukunftsrats für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (siehe zuletzt Altpapier von Dienstag) mangelt es nicht. Die taz hat mit Ex-Bundesverfassungsrichter Peter Huber gesprochen (der stellvertretender Vorsitzender des Zukunftsrats war), der "Medieninsider" bringt eine Analyse in seinem aktuellen Newsletter, und die ARD-Gremienvorsitzendenkonferenz (GVK) hat ein in 110-prozentigem GVK-Duktus verfasstes Statement rausgehauen.
+++ Mareice Kaiser kritisiert für "Übermedien" das Mitte 2023 bei Zeit Online eingeführte Geld-Ressort: "Hier geht es um die Probleme von Menschen mit Geld, und zwar nur um ihre. Zu einer Zeit, in der die Vermögensungleichheit zwischen Arm und Reich immer größer wird und sich immer mehr Menschen von Medien abwenden, ist diese Art von Klienteljournalismus nicht nur langweilig, sondern sogar gefährlich."
+++ Anfang Januar hatten wir darüber berichtet, dass die freie Journalistin Jeannette Hagen öffentlich angekündigt hatte, nicht mehr für den "Tagesspiegel" zu schreiben. Ihr Kritikpunkt: die Honorarpolitik des Hauses. "Mehr als einmal musste ich meinem Geld hinterherlaufen", schrieb Hagen seinerzeit. Nun ist sie allerdings wieder bereit, für den "Tagesspiegel" zu schreiben, wie sie in einem Facebook-Post ausführt. Der Grund: "Es gab ein Treffen mit zwei Redakteuren und Lorenz Maroldt, dem Chefredakteur des Tagesspiegels. Grundsätzlich heißt es ja unter Freien: Bloß nicht aufmucken, sonst bekommst du keinen Auftrag mehr. Das kann ich an der Stelle nicht bestätigen. Im Gegenteil. Was ich erlebt habe, war ernsthaftes Bemühen und Interesse an einer Lösung. Und Einsicht in eigene Fehler und auch darin, dass sich an einigen Stellen wirklich etwas ändern muss."
Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ralf Heimann.