Kolumne: Das Altpapier am 23. Januar 2024 Der Nebel der begrifflichen Unklarheit
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23. Januar 2024, 09:43 Uhr
Ein Diskurs verschiebt sich gerade anders als Rechtsextreme es wollen. Ein Putin-Interview, das vor zwei Jahren knapp nicht ins Programm kam, zeigt, wie aufwändig die ARD sich selbst koordiniert. Zu Caren Miosgas Debüt-Talkshow gibt es recht unterschiedliche Ansichten. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Eine Recherche schlägt Wellen
Die correctiv.org-Recherche über das Rechtsextremen-Treffen bei Potsdam (Altpapier) schlägt weiter Wellen. "Ein tolles Stück investigativer Journalismus", lobt der DJV, um dann "Einschüchterungsversuche und verkappte Gewaltaufrufe ... gegen Journalistinnen und Journalisten" zu verurteilen.
An dieser Stelle könnte noch mal wieder erwähnt werden, dass correctiv.org sich seit Jahren für die Anerkennung von Journalismus als gemeinnützig einsetzt. Da im Grunde alle Regierungsparteien dafür oder zumindest nicht dagegen sind, spräche nichts gegen ein entsprechendes Gesetz. Das Vorhaben zählt zu denen, die die Ampelkoalition dennoch nicht hinbekommt. (Und dass correctiv.org durchaus als gemeinnützig anerkannt ist, aber über einen Umweg, ähnlich wie etwa netzpolitik.org, war in diesem Altpapier 2019 Thema).
Ebenfalls bereits Wellen schlägt eine Anschluss-Recherche von netzpolitik.org zu einem der Teilnehmer der Konferenz, der dort sein Projekt einer "Agentur für rechte Influencer" vorstellte, nämlich für "reichweitenstarke YouTuber ..., die von der Monetarisierung auf YouTube ausgeschlossen sind".
In der Folge der bemerkenswert großen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus kam es sogar zu einer Art Dialog zwischen den "Faktenfindern" der "Tagesschau", deren Faktenchecks ja oft bloß die Überzeugten weiter überzeugen, ohne weitere Wirkung zu erzielen, und Björn Höcke. Das zeigt ein hier auf tagesschau.de eingebundener Tweet/X-Post, in dem Höcke "Wo bleibt der Faktencheck?" fragte. Worauf die "Tagesschau"-Faktenchecker gerne anhand des "Perspektivunterschieds" (im streng wörtlichen Sinne) zeigen, dass die Demonstrationen wirklich so groß waren, wie die vielfach veröffentlichten Bilder zeigen. Die AfD bemüht "Krisen-PR", weil ihr die "Deutungshoheit" über solche Bilder und damit die anvisierten "Meinungsführerschaft" entgleite, bewertet das der Journalist Michael Kraske in "medias@res".
Eine "mediale Begriffskritik" zum Jahres-Unwort "Remigration" stellt dann noch Gabriel Yoran auf uebermedien.de (Abo) an. Zunächst sei die Negativ-Auszeichnung
"am rechten Rand mit Genugtuung aufgenommen [worden]. Dort ist man sich natürlich im Klaren darüber, dass es für den Zweck der Diskursverschiebung unerheblich ist, wie ein Begriff mediale Aufmerksamkeit bekommt. Ein nach allen Seiten offener Begriff für Maßnahmen mit dem Ziel, Menschen aus Deutschland zu entfernen, ist nun in der Welt. Und für eine Bewegung, die sich aus Systemfrust speist, ist ein vom System vergebener Antipreis ... die denkbar größte Auszeichnung."
Eigentlich hätten die Rechtsextremen vom "Nebel der begrifflichen Unklarheit" um den gesetzten Begriff profitieren wollen. Doch sei diese Diskursverschiebungs-Strategie in diesem Fall nicht aufgegangen. Vielmehr habe gerade "die absichtliche Schwammigkeit" zu "einer medialen Reaktion, die Menschen gegen Rechts mobilisierte wie selten zuvor", geführt. Auch wenn Yoran (der die Präsentation der correctiv.org-Recherche auch noch als Theaterstück übrigens als "unnötigen Kunstgriff" bezeichnet) arg oft "rechts" synonym mit "rechter Rand" und "rechtsextrem" verwendet, was nicht zu begrifflicher Klarheit beiträgt, ist seine Analyse lesenswert.
Frische Stimmen zu den Zukunftsrats-Ideen
Was auch weiter Wellen schägt, freilich in der Medienmediennische mehr als außerhalb: die Vorschläge des Zukunftsrats (Altpapier). Heute bringt die "FAZ" (Abo) ein fast ganzseitiges Interview mit den Ratsvorsitzenden Julia Jäkel und Peter M. Huber. Fragensteller Michael Hanfeld ist on fire, was dem Gespräch gut tut. Auf seine Frage "ARD, ZDF und Deutschlandradio sollen eine Plattformgesellschaft fürs Internet bilden. Was macht die? Mit eigenen Algorithmen Konkurrenz zu Amazon, Disney, Spotify und Netflix?" antwortet Jäkel:
"Das klingt bei Ihnen so ironisch. Aber genau darum geht es: nicht nur um den Inhalt, sondern auch um die User-Experience. Da müssen Sie technologisch mit den globalen Plattformen wenigstens halbwegs mithalten ..."
Und davon sind Öffentlich-Rechtlichen, selbst wenn sich inzwischen in der ZDF-Mediathek außer ZDF-Krimis auch ARD-Krimis finden lassen (und umgekehrt), zum Beispiel bei der lausigen Suchfunktion meilenweit entfernt. Außerdem sagt ebenfalls Jäkel etwa noch:
"Der Verwaltungsrat ist ein Profi-Gremium. Ein kleiner Kreis von Menschen, die ausgewiesene Managementerfahrung haben, und drei oder vier sogenannte 'Weise', die das Gemeinwohl besonders im Blick haben ..."
Damit antwortet sie sozusagen auf einen Aspekt der (gestern hier schon erwähnten) Kritik Leonhard Dobuschs. Das amtierende Mitglied des ZDF-Verwaltungsrats hatte sich auf netzpolitik.org "auch vor dem Hintergrund des Aufsichtsversagens gerade des Verwaltungsrats im RBB" gewundert, warum laut Zukunftsrats-Vorschlägen "gerade die Verwaltungsräte so stark aufgewertet werden sollen". Noch 'ne Hanfeld-Frage heute lautet etwa: "Warum streichen Sie das ZDF nicht? Oder lassen das Erste weg. Dann hätten wir das ZDF und die ARD-Sender regional. Dann müsste die ARD nicht mehr den ganzen Tag sich selbst koordinieren."
Da passt eine Nachricht, die der "Spiegel" vielleicht deshalb hat, weil sein Ex-Chefredakteur Steffen Klusmann die NDR-Untersuchungskommission zu Seipel-Putin-Fragen (Altpapier) leitet, die demnächst ihren Bericht vorlegen wird. Vor knapp zwei Jahren, also unmittelbar vor Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, sei ein Putin-Interview nur knapp nicht im ARD-Programm gelandet:
"[WDR-]Chefredakteurin [Ellen] Ehni schrieb am 9. Februar per WhatsApp an den ARD-Chefredakteur Oliver Köhr: 'Hubert Seipel wird in zwei Tagen Putin im Kreml treffen und hat der Vorsitzanstalt (dem RBB – Red.) ein Interview angeboten.' Und dann führt sie aus, warum sie gegen ein solches Interview ist: 'Erstens war es schon 2014 ein Desaster (unkritisch, unterwürfig), zweitens trat Seipel 2016 auf der Buchmesse mit Putin auf.'"
Ehni vom WDR wandte sich also an den beim MDR angestellten ARD-Chefredakteur, weil sie sich schon 2012 und 2014 über die Seipel-Filme geärgert hatte, die damals der NDR ins ARD-Programm gehoben hatte, obwohl der WDR das Moskauer ARD-Studio betreibt. Die seinerzeit beim NDR zuständige Programmbereichsleiterin Patricia Schlesinger war unterdessen zur RBB-Intendantin und dann auch zur ARD-Vorsitzenden gewählt worden, sodass Ehni und Köhr allerhand Hebel in Bewegung setzten, um zu "verhindern, dass das Ganze auf anderen Wegen bei uns im System auftaucht", wie der "Spiegel" aus noch einer Ehni-Nachricht zitiert. Mit wieviel Aufwand die ARD sich selbst koordiniert, wird also deutlich – wobei es in diesem Fall ja erfolgreich funktionierte ...
Zu den Kritikpunkten am schön kompakten Zukunftsrats-Papier zählt, dass es zwar Ideen zur Vereinfachung der komplexen, teuren ARD-Strukturen enthält, aber keine, um die historisch, womöglich aber nicht mehr aktuell begründete Anzahl der Anstalten zu reduzieren. Da setzt Otfried Jarren an. Bei den "Bitburger Gesprächen" (Altpapierkorb), also noch vor Veröffentlichung des Zukunftsrats-Berichts, hatte der Medienwissenschaftler "Ein öffentliches Medienhaus" gefordert. Vielleicht klingt das eher nach der Stadtbibliotheks-Abteilung, in der man auch Filme auf Scheiben ausleihen kann. Doch gemeint ist eine Zusammenlegung von ARD, ZDF und Deutschlandradio, um den Öffentlich-Rechtlichen zu der "Strategiefähigkeit" zu verhelfen, die der Zukunftsrat mit Recht ebenfalls für "dringend notwendig" hält:
"Das öffentliche Medienhaus muss sich von einer auf die Herstellung und Distribution von Programmen ausgerichteten zu einer auf geprüfte Informationen und zuverlässiges Wissen über alle Kanäle bereitstellenden sowie netzwerk- und interaktionsfähigen Organisation entwickeln."
Wer mal wieder einen Text lesen möchte, in dem es statt von unmittelbaren Trend-Anglizismen von Wörtern wie "Kontingenz", "Emergenz" und "Inkrementalismus" wimmelt, sollte sich Jarrens Beitrag bei "epd medien" nicht entgehen lassen.
Mehr Stimmen zu Miosgas Talkshow
Außer über mehr Zuschauer "als jede Ausgabe von 'Anne Will' im vergangenen Jahr" (dwdl.de) kann sich Caren Miosga auch über jede Menge Medienecho auf die erste Ausgabe ihrer Talkshow freuen. Wobei sich die Freude über viele Kritiken in Grenzen halten dürfte. René fand die Sendung gestern hier schlecht. Ich fand die Sendung wegen ihrer Unaufgeregtheit und des erfolgreichen Bemühens, gemeinsame Nenner zu finden, statt den Streit zu suchen, der natürlich auch möglich gewesen wäre und in Talkshows in überschaubarem Spektrum oft genug aufgeführt wird, ganz gut. In den üblichen Polit-Talkshows werden die Gästerunden ja "inzwischen so berechnend gecastet ..., dass im Vorhinein schon klar ist, wer was sagen wird und jegliche Überraschung ausbleibt – von Erkenntnisgewinn ganz zu schweigen", schrieb Sandra Kegel bei faz.net – allerdings ohne Miosgas Start dann grandios zu finden.
Die vielleicht schönste Besprechung, die auch Kamerafahrten und der Talkshow-Bildregie Beachtung schenkt, schrieb Doris Akrap für die "taz" ("Ständig müssen beide", Miosga und Friedrich Merz, "schmunzeln, lachen und freudig mit ihren Augenbrauen tanzen. Die Moderatorin ist sehr charmant, der Gast dann auch"). Der österreichische "Standard" fand's zu "kuschelig". Die schweizerische "NZZ", die Merz gewiss sicher weniger fern steht als die "taz", fand's auch nicht toll ("An irgendeiner Stelle weiss Merz, dass ihm die Runde nichts mehr anhaben kann. Vielleicht auch schon seit der Schreibtischlampe"). Das zumindest, der performative Einsatz eines Requisits, war ein guter Trick der Miosga-Redaktion. Keine Besprechung lässt die schwarze Schreibtischlampe, die einst in Merz' Heimat Sauerland produziert wurde, unerwähnt.
Besser fanden die Debütsendung Thomas Gehringer bei "epd medien" ("Das Logo ... besteht aus den stilisierten Initialen der Gastgeberin. Aus dem C wird ein Kreis, aus dem M ein Quadrat. Die Botschaft lautet also: Miosga und ihre Redaktion versuchen am Sonntagabend in der ARD die Quadratur des Kreises") und Timo Niemeier bei dwdl.de ("... wirkt dynamischer und weniger starr als 'Anne Will'"). Geht man von der Faustregel aus, dass Inhalte, zu denen kontroverse Ansichten bestehen, interessanter scheinen als das, wozu alle das gleiche meinen und schreiben, war es also ein ganz vielversprechender Start.
Altpapierkorb (Eingekerkerte Investigativjournalisten, "Oxi" online, Presserats-missbilligte "SZ")
+++ "Elf Investigativjournalisten in Untersuchungshaft", seit einer "Festnahmewelle" vor einer Woche in Kirgistan: Das melden die Reporter ohne Grenzen. So sollten "zwei unbequeme Medien endgültig zum Verstummen gebracht werden", sagt ROG/RSF-Vorstandssprecherin Katja Gloger. +++
+++ An schon länger bzw nahezu ewig eingekerkerte Investigativjournalisten erinnerte gerade die "taz": Erstens sitzt José Rubén Zamora, "Guatemalas Ikone des investigativen Journalismus", seit 18 Monaten in einer "rund acht Quadratmeter großen Isolationszelle" ohne elektronische Medien in Untersuchungshaft. Sein Medium, das als gedruckte Zeitung und online gut funktioniert hatte, ist bereits verstummt. Für Julian Assange, den die USA ausgeliefert haben wollen, auch wenn sie mit seinen Folter-ähnlichen Haftbedingungen in London sicher auch zufrieden sind, macht sich, zweitens, inzwischen auch der ehemalige Brexit-Minister David Davis stark ("Es hört sich alles so an, als würde eine imperiale Macht einer Kolonie Befehle erteilen").+++
+++ "Einiges ist passiert auf oxiblog.de, wofür wir unseren Autor:innen sehr danken, denn die schreiben entweder unentgeltlich oder für ein sehr schmales Honorar": Das meldet die 2023 eingestellte, online inzwischen weiter publizierende Zeitung "Oxi". +++
+++ Stefan Niggemeier freut sich nicht so sehr, dass "Missbilligungen durch den Presserat ausnahmsweise Schlagzeilen machen" (uebermedien.de): "Der eine Fall betrifft einen Bildtext, in dem die SZ schrieb, Flüchtlinge kämen 'manchmal' ohne Pass an. Der Beschwerdeausschuss des Presserates urteilte, das erzeuge einen falschen Eindruck, weil es laut offizieller Statistiken tatsächlich bei mehr als 50 Prozent der Flüchtlinge der Fall ist. In dem anderen Fall geht um Angriffe mit Messern und die Frage, wer sie begeht ..." +++
Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch René Martens.