Kolumne: Das Altpapier am 4. Januar 2024 Lehrbuchbeispiel für erfolgreichen Aktivismus
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04. Januar 2024, 12:45 Uhr
Warum Caren Miosga AfD-Leute einladen will. Wie eine Berliner Tageszeitung ihre Autorinnen behandelt. Wie ein US-amerikanischer Rechtsaußen-Stratege Mitte-Medien kaperte. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstatttung.
Inhalt des Artikels:
- Unkrasse Rechtsextremisten gesucht
- "Ohne Beispiel in der modernen Geschichte westlicher Demokratien"
- Was ist eigentlich beim "Tagesspiegel" los?
- Die Kampagne hinter dem Sturz der Harvard-Präsidentin
- Altpapierkorb (Vaunet fordert Abschaffung der Werbung im öffentlich-rechtlichen Hörfunk, "Daily Telegraph" könnte zum Manchester City der Zeitungsbranche werden, Judy Winter wird 80)
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Unkrasse Rechtsextremisten gesucht
Im letzten unserer sieben Jahrersrückblicke ging es Anfang dieser Woche um die Berichterstattung über die AfD, und in dem Text hat Annika Schneider unter anderem folgende Kritik formuliert:
"Im vergangenen Jahr ging es (…) immer noch viel zu oft um küchenpsychologische Analysen des 'typischen AfD-Wählers' (…) und das Bestaunen immer neuer Umfragerekorde."
Zu den Rekordbestaunerinnen gehört offenbar auch Caren Miosga, mit der der "Spiegel" anlässlich des baldigen Starts ihrer neuen Talkshow gesprochen hat. Dort sagt sie mit Blick auf Umfragen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg:
"In allen drei Bundesländern liegt die AfD vorn, also müssen wir sie einladen."
Miosga muss gar nichts. Ich frage mich: Was für ein journalistisches Selbstverständnis hat jemand, wenn er eine redaktionelle Entscheidung mit Wahlumfrageergebnissen begründet? Miosga sagt auch, dass "nicht jeder und jede aus dieser Partei" als Gast in Frage käme. Denn
"Nicht wenige von ihnen sind Meister im Errichten von Lügengebäuden. Da kommst du als Moderatorin im Überprüfen der Aussagen live nicht hinterher. Es würde ein bescheuertes Spiel werden: Nein, ja, stimmt nicht, stimmt doch. Und es gibt in dieser Partei jene, die so krass rechtsextrem sind, dass sie ebenfalls keine Einladung bekommen werden."
Da stellt sich natürlich die Frage, wer aus der AfD kein "Meister im Errichten von Lügengebäuden" ist. Wird jemand eingeladen, wenn sie oder er bloß Vizemeister ist? Müssen Miosgas Redakteurinnen und Redakteure jetzt nach Leuten aus der Partei fahnden, die keine Rechtsextremisten sind oder bloß "unkrasse" Rechtsextremisten? Na dann, viel Spaß, Leute!
Bemerkenswert auch noch Miosgas Antwort auf Alexander Kühns Frage, ob noch gelte, was sie "vor ein paar Jahren" gesagt habe, nämlich, dass sie "gern den russischen Präsidenten Wladimir Putin interviewen" würde. Miosga sagt dazu:
"Ich habe in der Schule Russisch gelernt und war als Studentin während des Putschversuchs 1991 in Moskau – der Anfang vom Ende der Sowjetunion. Damals konnte niemand ahnen, dass Putin das Rad auf brutalste Weise zurückdrehen würde. Ich möchte Putin heute nicht mehr interviewen. Er würde das lediglich dazu nutzen, um seine Lügen und Hasstiraden gegen den Westen zu verbreiten. Da säßen sich zwei Menschen gegenüber, die keine gemeinsame Gesprächsebene fänden."
Das spricht einerseits für Miosga. Anderseits kann man das so verstehen, dass es AfD-Leute gibt, mit denen sie durchaus eine "gemeinsame Gesprächsebene" finden könnte. Und man kann es auch widersprüchlich finden, dass sie mit AfD-Politikern, also Putins deutschen Wackeldackeln, reden will (jedenfalls einigen von ihnen), Putin selbst aber für einen inadäquaten Gesprächspartner hält.
"Ohne Beispiel in der modernen Geschichte westlicher Demokratien"
Für die "Zeit" blickt Holger Stark auf eine juristische Entscheidung voraus, von der er offenbar befürchtet, dass sie nicht die Aufmerksamkeit bekommen wird, die sie seiner Meinung nach verdient:
"In wenigen Wochen fällt eine Entscheidung, die viel darüber aussagen wird, wie es um die Demokratien in den USA und in Großbritannien bestellt ist. Für den 20. und 21. Februar hat der britische High Court, das höchste englische Gericht, eine finale Anhörung im Fall von Julian Assange angesetzt. Verhandelt wird, ob der WikiLeaks-Gründer in die Vereinigten Staaten ausgeliefert werden darf. Assange hat gegen eine vorangegangene Entscheidung Berufung eingelegt. Lehnen die Richter seine Beschwerde ab, kann es sein, dass Assange unmittelbar danach vom Hochsicherheitsgefängnis in Belmarsh bei London in ein Flugzeug nach Amerika verladen wird. Dort ist er nach dem Espionage Act angeklagt, einem jahrzehntelang vergessenen Gesetz, das einst im Ersten Weltkrieg gegen Landesverräter und Spione erlassen und nun wieder hervorgekramt wurde. Es wäre der traurige Höhepunkt einer mehr als zehnjährigen Verfolgung, die ohne Beispiel in der modernen Geschichte westlicher Demokratien ist. Woher kommt dieser Zerstörungswille? Und wo bleibt der öffentliche Aufschrei, der angesichts der brachialen Verfolgung angemessen wäre?"
Man könnte hier vielleicht einwerfen, dass "westliche Demokratien" grundsätzlich auch autoritäre Charaktereigenschaften haben, und zumindest insofern der beschriebene "Zerstörungswille" nicht überrascht. Stark schreibt weiter:
"Das Wesen einer Demokratie besteht darin, Kritik zuzulassen, auch dann, wenn sie wehtut. Sollten die amerikanischen Ankläger, assistiert von der britischen Justiz, mit ihrem Plan erfolgreich sein, Assange de facto lebendig zu begraben, wäre dies neben der persönlichen Tragödie eine massive Beschneidung der Pressefreiheit. Guter Journalismus besteht gerade darin, Zugang zu unautorisierten Informationen aus dem Inneren einer Regierung zu finden, aus dem Außenministerium oder auch der Armee. Nur so lässt sich die Politik kontrollieren. Journalismus, der auf autorisierte Informationen zurückgreifen muss, ist kein Journalismus, sondern PR."
Meint Stark damit, dass jeder politikjournalistische Beitrag, der auf "autorisierte Informationen zurückgreift", PR ist? Das wäre zumindest eine inspirierende These.
Was ist eigentlich beim "Tagesspiegel" los?
Im Herbst vergangenen Jahres bin ich für das "Medium Magazin" im Rahmen meiner Kolumne, die ich damals noch für die Zeitschrift schrieb, darauf eingegangen, wie der "Tagesspiegel" mit frei Mitarbeitenden umgeht. Newsroom.de hat diesen Teil der Kolumne seinerzeit republiziert. Ich schrieb:
"In den vergangenen Monaten hat der 'Tagesspiegel’ immer wieder frei Mitarbeitende vertröstet, die auf ausbleibende Honorare hinwiesen. Mal ging es um dreistellige Gesamtbeträge, mal um mehr. Eine Person aus dem Kreis der freien Mitarbeitenden sagt, sie habe vier Monate gebraucht, um drei ausstehende Honorare zu bekommen – und dafür rund ein Dutzend Mails an verschiedene Personen geschrieben."
Aus Gründen, die sich mit den beschriebenen zumindest überschneiden, hat die Buchautorin und freie Journalistin Jeannette Hagen ihre Arbeit für den Holtzbrinck-Schuppen eingestellt - und das in einem intensiv kommentierten Facebook-Beitrag folgendermaßen begründet:
"Mehr als einmal musste ich meinem Geld hinterherlaufen, was immer demütigend ist, weil man weiß, dass man seinen Teil der Vereinbarung erfüllt hat. Als freie*r Autor*in steckt man in einer Zwickmühle: Nervend will man nicht sein, den Auftraggeber will man nicht verlieren, aber es gibt Grenzen der Selbstausbeutung. Die sind im Übrigen auch dann erreicht, wenn man einen Artikel mit einer bestimmten Zeichenzahl abgibt, er exakt so, also ungekürzt online (meist hinter einer Bezahlschranke), erscheint, also abgenommen wird, später gekürzt im Print erscheint und der/die Autorin am Ende das gekürzte Printhonorar erhält."
Vorgänge, wie sie Hagen hier beschreibt, sind ja stets auch Symptome dafür, dass sich eine Zeitung grundsätzlich in eine ungute Richtung entwickelt. Mit anderen Worten: Eine ausführliche "Tagesspiegel"-Inhaltsanalyse könnte lohnenswert sein.
Die Kampagne hinter dem Sturz der Harvard-Präsidentin
Nein, man muss Claudine Gay nicht verteidigen. Die kurzzeitige und nun als Harvard-Präsidentin zurückgetretene Politikwissenschaftlerin ist zuletzt durch unangemessene Äußerungen zum Thema Antisemitismus aufgefallen, was aus aktuellem Anlass zum Beispiel die FAZ und das ND aufgreifen. Ihr Rücktritt ist nun allerdings das Resultat einer rechten Kampagne, in der es, vordergründig, um Plagiatsvorwürfe geht. Dazu Bernd Pickert in der taz:
"In die Öffentlichkeit getragen wurden (diese) Plagiatsvorwürfe zuerst von Christopher Rufo – einem Rechtsaußen-Aktivisten gegen 'Wokeness', der als Berater von Floridas Gouverneur Ron DeSantis dafür gesorgt hatte, den Kampf gegen das Aufnehmen der Critical Race Theory in die Lehrpläne zur nationalen konservativen Sache zu machen. Am 19. Dezember schrieb Rufo auf X, vormals Twitter: 'Wir haben die Plagiatsgeschichte von rechts initiiert. Der nächste Schritt ist, sie in den linken Medienapparat einzuschmuggeln, also das Narrativ für linksliberale Akteure legitim zu machen, die die Macht haben, sie zu stürzen. Dann zuziehen.’ Gays Rücktritt zwei Wochen später suggeriert: Das hat geklappt."
Warum das "geklappt" hat, beschreibt dieser "Rechtsaußen-Aktivist" nun stolz wie Bolle in einem Interview mit Springers "Politico" und in einem Kommentar für Murdochs "Wall Street Journal". Und ein gewisser Stolz schwingt auch bei jenen mit, die seine Geschichte nun verbreiten (Politico: "We Sat Down With the Conservative Mastermind Behind Claudine Gay’s Ouster"). Die Headline im "Wall Street Journal" lautet übrigens: "How We Squeezed Harvard to Push Claudine Gay Out" ("Wie wir Harvard unter Druck setzten, um Claudine Gay zu vertreiben"). Das ist ungefähr so, als würde Götz Kubitschek in der "Welt" oder der NZZ einen Kommentar über einen Kulturkampferfolg der Rechten in der "Wir"-Perspektive schreiben. Gegenüber Politico sagt Rufo:
"Es ist wirklich ein Lehrbuchbeispiel für erfolgreichen konservativen Aktivismus, und die Strategie ist recht einfach. Christopher Brunet und ich haben die Geschichte von Claudines Plagiat am 10. Dezember veröffentlicht. Sie wurde auf Twitter mehr als 100 Millionen Mal aufgerufen und war dann einige Wochen lang die Top-Story in konservativen und rechtsgerichteten Medien. Aber ich wusste, dass wir, um mein Ziel zu erreichen, die Geschichte in die linken Medien bringen mussten. Aber die Linken ignorierten die Geschichte 10 Tage lang und versuchten, sie zu begraben, so dass ich eine Art durchdachte und substanzielle Kampagne startete, um meine Kollegen auf der Linken zu beschämen und einzuschüchtern, damit sie die Geschichte des größten akademischen Korruptionsskandals in der Geschichte von Harvard ernst nehmen."
Auffällig ist, dass der Begriff "Aktivismus" für Rufo positiv besetzt ist (anders als für seine deutschen Gesinnungsgenossen). Dass die Medien, die er als "linke Medien" bezeichnet, gar nicht links sind, sei an dieser Stelle kurz eingeworfen. Wie auch immer: Auf gewisse (gruselige) Weise ist es faszinierend, wie es Rufo gelungen ist, seine eigentlichen Gegner einzuspannen (siehe dazu auch die kurzen Kommentare der Historiker Thomas Zimmer und Kevin M. Kruse bei Bluesky). Rufo beschreibt es im Politico-Interview konkret so:
"Schließlich brach das Narrativ innerhalb von 24 Stunden nach meiner Ankündigung, das Narrativ in die linken Medien zu schmuggeln, durch. Sie sehen diesen Dominoeffekt: CNN, BBC, die New York Times, die Washington Post und andere Publikationen begannen damit, Gays Plagiat aufzudecken, und dann sah man diese wunderbare Blüte von Meinungsbeiträgen all dieser Publikationen, die Gay zum Rücktritt aufforderten. Als meine Position - die auf der rechten Seite begann - zur vorherrschenden Position in der linken Mitte wurde, wusste ich, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis wir erfolgreich sein würden."
Altpapierkorb (Vaunet fordert Abschaffung der Werbung im öffentlich-rechtlichen Hörfunk, "Daily Telegraph" könnte zum Manchester City der Zeitungsbranche werden, Judy Winter wird 80)
+++ Keine Werbung mehr im öffentlich-rechtlichen Hörfunk! Dies fordert der Privatsenderverband Vaunet. Zumindest "perspektivisch", wie der Verbandvorsitzende Claus Grewenig im Interview mit "epd medien" sagt. Beziehungsweise: "Die werbefreien ARD-Radiowellen sind ein formuliertes perspektivisches Ziel unseres Fachbereichs Radio und Audiodienste. Wie der Weg dahin aussieht, muss man mit der Politik diskutieren. Wir wissen, dass Forderungen, die zu einer Hebung des Beitrags beitragen könnten, politisch nicht leicht durchzusetzen sind. Aber zum Beispiel durch Stufenpläne oder durch ein "Phasing Out" könnte man es so gestalten, dass es gattungsverträglich wäre und der öffentlich-rechtliche Rundfunk sich darauf einstellen kann. Hier geht es uns um einen Einstieg in den Ausstieg." Die FAZ hat das Interview aufgegriffen.
+++ Dass Unternehmen, die im Besitz von Golfstaaten sind oder unter deren Kontrolle stehen, englische Fußballclubs übernehmen, ist längst nicht mehr ungewöhnlich. Englische Zeitungen haben diese Investoren bisher aber noch nicht im Portfolio. Das könnte sich angesichts der finanziellen Malaise beim "Daily Telegraph" nun ändern, so die taz: "Die Familie Barclay, in deren Besitz die konservativ bis rechts positionierte Zeitung gemeinsam mit dem rechten Politmagazin The Spectator seit 2004 ist, verlor im Juni ihre Kontrolle darüber. Grund ist ein Schuldenberg in Höhe von umgerechnet 1,4 Milliarden Euro. Versuchen, finanzielle Unterstützung bei anderen britischen Medienbesitzern zu finden, kam ein besseres Angebot zuvor. Das Investmentunternehmen RedBird will den Schuldenberg übernehmen. Hinter RedBird verbirgt sich der Vizepräsident der Vereinigten Arabischen Emirate: Abu Dhabis Scheich Mansour bin Zayed Al-Nahyan. Mansour ist bekannt als Besitzer des Fußballvereins Manchester City."
+++ Die Schauspielerin Judy Winter wird heute 80 Jahre alt, und aus diesem Grund würdigt Claudius Seidl sie im Feuilleton der FAZ: "Der sogenannte junge deutsche Film übersah sie, was auch sein Pech war. Und wenn sie im Fernsehen die Frau aus den besseren Kreisen spielte, offenbarte sich der Klassenunterschied immer auch darin, dass Fernsehschauspieler die Fernsehpolizisten spielten. Während sie, die am Theater groß geworden ist, die Hochkultur verkörperte (…) Es gibt eine Folge der Serie "Derrick", da spielt Judy Winter an der Seite von Will Quadflieg, und die Spannung speist sich auch daraus, dass der nüchterne Kommissar hier der Welt von Gründgens und Zadek gegenübersteht."
Das Altpapier am Freitag schreibt Ralf Heimann.