Das Altpapier am 3. Januar 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 4 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 3. Januar 2024 Aktuelle und kommende Katastrophen

03. Januar 2024, 12:33 Uhr

Das Thema Hochwasser ist zu Recht omnipräsent, aber die Berichterstattung über die Ursachen nimmt einen zu kleinen Raum ein. Ein großer Teil der Wirtschaftsjournalisten hat ein irrationales Faible für die Schuldenbremse. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Der meistdiskutierte Text der vergangenen Wochen

In der ersten Ausgabe des neuen Jahres lässt es sich der CNN-Mediennewsletter "Reliable Sources" natürlich nicht nehmen, einen Blick "auf einige der dringlichsten und folgenreichsten Fragen zu werfen, mit denen die Medienbranche und ihre Führungskräfte im kommenden Jahr konfrontiert" sein werden.

Die allererste, die Newsletter-Autor Oliver Darcy stellt, lautet: Werden Medien "die Öffentlichkeit mit essenzieller und kompromissloser Berichterstattung über antidemokratische Kandidaten wie Donald Trump versorgen"? Oder wird "der Drang, 'beide Seiten' zu befriedigen" [im Original "to pacify"; es könnte auch "beschwichtigen" gemeint sein - Anm. der Red.] die Berichterstattung im Vorfeld der "once-in-a-lifetime election" "trüben"?

Dass diese Frage am Anfang steht, ist wenig überraschend. Dass in den folgenden Fragen der Begriff "Klimawandel" kein einziges Mal auftaucht, ist dagegen mindestens befremdlich.

Aber zum Thema Klimajournalismus später mehr. Bleiben wir erst einmal bei Donald Trump: 14 Druckseiten lang ist in der Januar-Ausgabe der "Blätter für deutsche und internationale Politik" jener Text, der "zuletzt international derart für Aufsehen gesorgt hat" wie "wohl kaum ein anderer", wie die Redaktion schreibt. Die Rede ist von der "Intervention" des früheren Ronald-Reagan-Beraters Robert Kagan, die bereits am 30. November unter dem Titel "A Trump dictatorship is increasingly inevitable. We should stop pretending" in der "Washington Post" erschienen ist. Die "Blätter" haben nun eine mit "Amerika vor der Trump-Diktatur" überschriebene Übersetzung veröffentlicht.

"Aus Urheberrechtsgründen", wie die "Blätter" anmerken, gibt es die deutschsprachige Fassung nur gedruckt, vermutlich will die "Washington Post" die Reichweite des Original-Beitrags nicht schmälern. Wer die Übersetzung lesen will, sollte also elf Euro bei einem gut sortierten Zeitschriftenhändler ausgeben.

Ein Großteil von Kagans Text lässt sich unter implizier Medienkritik subsumieren. Uns interessieren an dieser Stelle die Passagen, in denen es direkt um die Rolle der Medien geht:

"Schon jetzt versuchen große Medien, darunter die 'Washington Post' und NBC News, gemeinsam mit Trumps Anwälten durchzusetzen, dass sein Strafverfahren vor dem Bundesgericht in Washington im Fernsehen übertragen wird. Trump will das Verfahren dazu nutzen, seine Kandidatur anzukurbeln und das US-Justizsystem als korrupt zu diskutieren - und die Medien, die ihre eigenen Interessen verfolgen, helfen ihm dabei."

Wie die Medien in der Diktatur agieren werden - das beschreibt Kagan in seinem Szenario folgendermaßen:

"In einem Regime, in dem der Herrscher erklärt hat, dass Medien 'Feinde des Staates' sind, wird sich die Presse unter erheblichem und konstantem Druck befinden. Eigentümer von Medienunternehmen werden herausfinden, dass ihnen ein feindseliger und hemmungsloser Präsident das Leben schwermachen kann. Wer wird überhaupt für jemanden eintreten, der im öffentlichen Raum angeklagt wird, jenseits von Anwälten? (…) Wie viele werden ihre Karriere riskieren, um andere zu verteidigen?"

Diese Frage dürfte sich ähnlich auch hier zu Lande stellen, sollten Faschisten Ministerpräsidenten werden.

Claudius Seidl schrieb in der FAZ kurz vorm Jahreswechsel unter der Überschrift "Der Untergang der amerikanischen Republik" über Kagans Beitrag:

"Bei (ihm) liest es sich so, als gäbe es einen sehr smarten und präzisen Plan zur Abschaffung der Demokratie in Amerika. Beim Betrachten von Trumps Reden und Auftritten, beim Lesen seiner Posts denkt man, dass noch der beste Plan an Trumps Charakter scheitern wird: weil Trump zu sprunghaft ist, zu verrückt und längst von altersbedingter Konzentrationsschwäche geplagt. Womöglich werden sich aber der Plan seiner Leute und Trumps Planlosigkeit ergänzen. Dass er herrschen will, ungebremst von allen Institutionen, und dass er seine Gegner vernichten will: das sagt Trump selbst. Dass ihm das gelingen könnte, wird womöglich auch daran liegen, dass kaum jemand das wirklich wahrhaben wird: weil selbst seine Gegner sich nur auf die böse, unberechenbare, empörende semifiktionale Show Donald Trumps konzentrieren werden. Und nicht auf die Tatsachen, die im Hintergrund seine Leute schaffen."

Mit anderen Worten: Journalistinnen und Journalisten sollten sich auf Trumps faschistische Positionen konzentrieren, nicht auf sein Kasperletheater.

Das Märchen von der Naturkatastrophe

Für riffreporter.de hat Christiane Schulzki-Haddouti eine in der Zeitschrift "Global Environmental Change" erschienene Studie ausgewertet, die den Titel "The climate change research that makes the front page: Is it fit to engage societal action?" trägt. Die Forschenden hätten "mehr als 50.000 wissenschaftliche Artikel aus knapp 5.800 Fachzeitschriften, die im Jahr 2020 zum Thema Klimawandel veröffentlicht wurden" ausgewertet, und "analysiert, ob sie von Nachrichtenmedien aufgegriffen wurden".

Ein Kritikpunkt der Forschenden, so Schulzki-Haddouti:

"(Sie) weisen (…) darauf hin, dass der übliche Fokus der Berichterstattung auf die globalen Folgen des Klimawandels die 'periphere Informationsverarbeitung' zusätzlich verstärkt, da sie den Klimawandel 'als weit entfernt im Raum und Zeit' darstellen. Dies schaffe eine emotionale und psychologische Distanz. Demgegenüber wäre es wichtiger, über die lokalen Folgen des Klimawandels zu berichten, der die Menschen direkter betrifft und daher auch mehr beunruhigt."

Wo die "lokalen Folgen des Klimawandels" derzeit zu besichtigen sind: in den Hochwassergebieten in Niedersachsen und in Teilen anderer Bundesländer. Und obwohl sich hier also die Gelegenheit aufdrängt, über den Klimawandel zu berichten, ohne "eine emotionale und psychologische Distanz" zu schaffen, passiert dies nur in einem unzureichenden Maße. Dazu Bernhard Pötter in der taz:

"Auf den Websites der niedersächsischen Regierung stehen all die Gutachten, in den Archiven der Medien finden sich die Berichte über die einschlägigen Reports – und in allen Klimaprojektionen zu Deutschland im Klimawandel steht es auch: Wärmere Atmosphäre bedeutet mehr Feuchtigkeit in der Luft, die Winter werden wärmer und nasser, mehr Extremwetter wie Starkregen und Dürre stehen ins Haus. Oder besser: Sie stehen schon kniehoch im Haus, nämlich im Keller (…) Und überall in den Medien sehe ich: lange Berichte über die Wassermassen, die Maßnahmen, die Hilfsbereitschaft. Kaum etwas zu möglichen Ursachen. Vornehme publizistische Zurückhaltung, die wir sonst gar nicht kennen (…) Nichts tut das politische Berlin lieber, als faktenarm über Motivation und Entscheidungen von Regierung und Opposition zu schwadronieren. Aber ein faktenbasierter Hintergrund dazu, was und warum da jetzt so alles vom Himmel hoch runterkommt – und dass das keineswegs eine Naturkatastrophe ist? Eher nicht."

Pötters Text ist zwei Tage nach Weihnachten erschienen, aber an Aktualität hat er danach nicht eingebüßt. Die Nachrichtenagentur AFP etwa benutzte Silvester den irrwitzigen Begriff "Naturkatastrophe" (siehe etwa FAZ), und der SPD-Bundestagsabgeordnete Andreas Schwarz toppte dies gerade, als er gegenüber dem "Spiegel" sagte, wir hätten es mit einer "unvorhersehbaren Naturkatastrophe" zu tun.

Das ist nun nicht die allerfeinste Art, davon abzulenken, dass es sich um eine menschengemachte Katastrophe handelt, mit der wir es derzeit auch deshalb zu tun haben, weil Schwarz’ Partei, die seit einem Vierteljahrhundert fast ununterbrochen Teil der Bundesregierung ist, in dieser Zeit nichts Nennenswertes zum Stopp der Erderwärmung beigetragen hat.

Noch drolliger: Silvester zitierte der "Tagesspiegel" den SPD-Bundevorsitzenden Lars Klingbeil "exklusiv" mit den Worten "der Katastrophenschutz und die Hochwasserprävention" müssten "massiv ausgebaut werden". Und: Das Technische Hilfswerk, Zivilschutz, Feuerwehren und andere freiwillige Hilfsorganisationen bräuchten "die beste und modernste Ausrüstung, um das Land zu schützen".

In meinem Jahresrückblick habe ich gerade begründet, warum es wichtig ist, irreführende Aussagen von Politikerinnen und Politikern sofort einzuordnen und nicht erst später in einem separaten Text.

Aber: Die Einordnung, dass in Sachen Katastrophenschutz jemand einen "massiven Ausbau" fordert, dessen Partei gerade erst den massiven Abbau mitbeschlossen hat, folgte im "Tagesspiegel" erst am Dienstag:

"Die Ampel-Koalition (plant), in diesem Jahr deutlich weniger Geld für den Katastrophenschutz bereitzustellen: Laut Haushaltsplan werden die Mittel für das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) um 49 Millionen Euro gekürzt – ein Minus von 20 Prozent gegenüber dem Jahr 2023."

Das Märchen, dass Schuldenmachen falsch sei

Dass "die Qualität der wirtschaftsjournalistischen Berichterstattung seit Jahren zu Auseinandersetzungen und Kontroversen führt", konstatierte die Otto-Brenner-Stiftung vor zweieinhalb Jahren anlässlich der Veröffentlichung einer Studie. Zumindest heute führt "die Qualität der wirtschaftsjournalistischen Berichterstattung" meiner Wahrnehmung eher viel zu selten zu "Auseinandersetzungen". Das gilt aktuell unter anderem für die Berichterstattung über die Schuldenbremse. Wenn man bedenkt, wie präsent dieses Thema ist, fällt auf, dass sich damit kaum jemand medienkritisch beschäftigt. Umso erfreulicher, dass es Matthias Ubl für "Übermedien" tut. Er konstatiert dort:

"(Der Wirtschaftsjournalismus muss) über die eigene Wortwahl (…) genau reflektieren. 'Schulden' hören sich gemeinhin negativ an, doch sie können gleichzeitig wichtige Investitionen bedeuten. Und was etwa für den Alltagsverstand gut klingt, etwa eine 'Begrenzung der Schulden', kann makroökonomisch fatal sein".

Weiterhin führt er aus:

"In den Wirtschaftswissenschaften gibt es seit Jahren nicht nur unter dem Stichwort Modern Monetary Theory intensive Diskussionen über Geldschöpfung und die Bedeutung von Staatsschulden und öffentlichen Ausgaben. Die Frage, wie Staaten sich eigentlich finanzieren und welche Rolle Schulden dabei spielen, ist alles andere als banal – und mit der Antwort 'Steuern' längst nicht hinreichend erklärt. Zuletzt zeigte etwa der Wirtschaftssoziologe Aaron Sahr in seinem Buch 'Die monetäre Maschine', dass das Geldsystem aus einer komplexen Struktur bilanzieller Verflechtungen zwischen Zentralbanken und Kreditbanken besteht. Sahr zeigt, dass staatliche Schulden nicht einfach etwas Negatives – sondern ein zentraler Bestandteil unseres Geldsystems sind. Über diese komplexe Fragen braucht es auch in der Wirtschaftsberichterstattung heute mehr Aufklärung."

Ubls Fazit:

"Bei der Einführung der Schuldenbremse ignorierte der Wirtschaftsjournalismus die Kritik der Wissenschaft weitestgehend. Heute sollte dieser Fehler nicht wiederholt werden."

Ein Buch, das man an diesem Zusammenhang auch noch nennen könnte: "Der Defizit-Mythos" von Stephanie Kelton, die eine Zeitlang Bernie Sanders’ Chefökonomin war. Mit Kelton über Staatsschulden und die Modern Monetary Theory gesprochen hat wiederum Lukas Scholle für die Winter-Ausgabe des Magazins "Jacobin".

Altpapierkorb (ein "Blutbad" auf dem US-amerikanischen Medienmarkt, die schwierige Rückkehr zu einem unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Polen, die neuen "Tagesthemen"-Kommentatoren-Charts)

+++ Noch ein paar griffige Zahlen zum Themen Medienkrise gefällig? In den USA sind 2023 mehr als 130 Zeitungen, also 2,5 pro Woche, eingestellt oder mit anderen zusammengelegt worden. Das berichtet das Poynter Institute. Mit Blick auf die Zahl der Entlassungen in der gesamten US-amerikanischen Journalismusbranche spricht das Institut sogar von einem "Blutbad". Bis November (der Dezember ist noch nicht erfasst) seien 20.324 Jobs verloren gegangen.

+++ "Es ist ein Dilemma, in dem sich die neue Regierung Tusk noch bei vielen weiteren Reformen wiederfinden wird: Wie lassen sich undemokratische Entwicklungen mit rechtmäßigen Mitteln zurückdrehen?" Das schreibt Michał Kokot bei Zeit Online über die Bemühungen der besagten polnischen Regierung, die Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien wieder herzustellen, die ihre autokratischen Vorgänger als Propagandainstrument missbraucht hatten. Die taz prophezeite kurz nach Weihnachten diesbezüglich: "Zum Abschluss kommen wird der Reformprozess erst Mitte 2025." Kokot wiederum beschreibt in seinem Text unter anderem, unter welchen Bedingungen derzeit die Hauptnachrichtensendung des Senders TVP1 produziert wird: "Derzeit werden die Nachrichten in kleinen Räumen der Sportredaktion gedreht, geschnitten und ausgestrahlt. Denn die großen Hightechstudios, in denen sie sonst produziert wurden, werden von alten Propagandajournalisten und PiS-Abgeordneten besetzt gehalten. Sie lassen niemanden aus dem neuen Team herein. Die neue Leitung erkennen sie nicht an." 

+++ Welche Journalistinnen und Journalisten sprechen am häufigsten den Kommentar in den "Tagesthemen" (der in der Sendung seit 2020 als "Meinung" rubriziert wird)? Welche Landesrundfunkanstalten sind hier am besten vertreten? Lange erstellte die "Medienkorrespondenz" eine entsprechende Jahresstatistik, und seit dem vergangenen Jahr (siehe Altpapier) tut das der frühere MK-Redakteur Volker Nünning für den "Medieninsider". Wie sieht nun das Ranking für das abgelaufene Jahr aus? "2023 teilen sich zwei Korrespondentinnen aus dem ARD-Hauptstadtstudio in Berlin den ersten Platz: Nadine Bader vom Bayerischen Rundfunk (BR) und Sarah Frühauf vom (…) MDR. Beide sprachen im vorigen Jahr jeweils acht Kommentare." Am häufigsten am Start in der Rubrik "Meinung" waren Kommentierende des BR: 18 Kolleginnen und Kollegen aus der viertgrößten ARD-Anstalt sprachen insgesamt 44 Kommentare.

Das Altpapier am Donnerstag kommt wieder vom Autor der heutigen Kolumne.

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