Das Altpapier am 18. Dezember 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 18. Dezember 2023 Die Affinität der Medien für Irrationales und Gefühlsfragen

18. Dezember 2023, 12:28 Uhr

Ein dpa-Journalist liefert wichtige Impulse für die Debatte zur Arbeit von Nachrichtenagenturen. Ein Politikwissenschaftler der Uni Princeton konstatiert, dass zu viele Journalisten die Gefahr durch "Rechtspopulisten" weiterhin "unterschätzen". Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

"Offizielle Kommunikation im Krieg ist immer taktisch"

Anne Will hat Anfang des Monats in einem der Interviews zum Ende ihrer Talkshow beschrieben, wann ihrer Meinung nach eine Sendung besonders gelungen war (siehe Altpapier):

"Wenn sich große Fragen ganz neu stellen (…) kann man (…) auch den geübtesten Gästen (…) beim Verfertigen der Gedanken zuhören und zusehen."

Nach meiner Wahrnehmung kann man das in Gesprächsformaten im Fernsehen eher selten. Auch bei geschriebenen Texten hat man nur selten den Eindruck, dass jemand sich noch während des Schreibens in einem Argumentationsprozess befindet. Insofern ist es nachvollziehbar, dass Stefan Niggemeier gerade in verschiedenen sozialen Medien (zum Beispiel hier) einen in der FAZ erschienen Gastartikel von dpa-Nachrichtenchef Froben Homburger mit folgenden Worten gelobt hat:

"Man merkt diesem Beitrag (…) das Ringen um Worte an, und ich finde, das ist ein Qualitätsmerkmal."

Homburger erläutert in diesem Text, warum Nachrichtenagenturen zu "Beginn großer Konfliktlagen" auf eine Weise berichten, die vielfach kritisiert wird (nicht nur von Otto Normalmedienverbraucher, sondern auch von Personen mit Presseausweis). Mit Bezug auf das Massaker am 7. Oktober schreibt Homburger:

"Der sachliche Schreibstil vieler dpa-Meldungen kann irritieren bei einem so monströsen Verbrechen, für dessen Schilderung Nachrichtensprache an ihre Grenzen stößt. Nachrichtenagenturen sind grundsätzlich zurückhaltend darin, Zuschreibungen zu verwenden, die ein Geschehen nicht nur einordnen, sondern bewerten. Das gilt besonders für den Beginn großer Konfliktlagen, wenn nüchterne Beschreibung mit neutralen Formulierungen im Fokus steht: Was ist bereits passiert? Was passiert gerade jetzt? Was könnte als Nächstes passieren? Was wissen wir sicher und was nicht? Wer sagt was? Deutung und Einordnung der Lage entwickeln sich aus dieser beschreibenden Berichterstattung heraus nach und nach."

Das sind allemal sehr instruktive Impulse für zukünftige Debatten. Ein weiterer Aspekt, den der dpa-Mann ausführlich abhandelt:

"Zu den immer wieder hinterfragten Agenturstandards in der Konfliktberichterstattung gehört (…) die Regel, nachprüfbare Fakten zum Kriegsgeschehen deutlich von bloßen Behauptungen der Konfliktparteien zu trennen. Wenn sich also eine Information zunächst nicht unabhängig bestätigen lässt, muss das transparent vermerkt werden, egal von welcher Konfliktpartei die Aussage stammt. Auf den ersten Blick wirkt diese Regel ebenso einfach wie sinnvoll. Tatsächlich aber ist sie häufig Gegenstand von Medienkritik – vor allem dann, wenn sich zu Beginn des Konflikts Täter und Opfer, Angreifer und Verteidiger und damit nach menschlichem Ermessen Gut und Böse zuordnen lassen."

Homburger greift die Argumentation dieser Kritiker dann auf, indem er fragt:

"Werden das Gute und das Böse nicht auf eine Stufe gehoben, wenn die Aussagen beider Seiten unter den gleichen Vorbehalt gestellt werden: 'Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen'? Oder schlimmer noch, wie es der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth, formulierte: 'Wie kann es nur sein, dass einer korrupten, undemokratischen Terrororganisation mehr geglaubt wird als einem demokratischen Rechtsstaat mit einer kritischen Zivilgesellschaft?'"

Die Antworten auf die Fragen sind vielschichtig. Homburger:

"Der Äußerung des SPD-Politikers auf der Plattform X (…) liegt sehr viel Wahrheit, aber auch ein Irrtum zugrunde. Die Wahrheit ist, dass die Hamas nicht nur Täter, sondern auch eine undemokratische Terrororganisation ist und dass Israel nicht nur Opfer, sondern auch ein demokratischer Rechtsstaat ist. Der Irrtum ist, zu glauben, dass ein demokratischer Rechtsstaat in einer existenzbedrohenden Kriegssituation immer die Wahrheit spricht, sie im Konfliktfall sogar über das Kriegsziel zu stellen bereit ist. Aber natürlich ist kein demokratischer Staat auf dieser Welt bereit oder überhaupt in der Lage dazu, auch Israel nicht. Die Aufgabe der israelischen Streitkräfte ist es, mit allen Mitteln die Sicherheit und Existenz des Staates Israel und seiner Bevölkerung zu gewährleisten. Und offizielle Kommunikation im Krieg ist immer taktisch – und wahrheitsgetreu vor allem dann, wenn sie das Kriegsziel nicht gefährdet. Wer mag das in Abrede stellen oder gar Israel zum Vorwurf machen?"

Und "unabhängige Medien" hätten gar keine andere Wahl, als "genau das in ihrer Berichterstattung zu berücksichtigen (…) – auch wenn das womöglich als Zweifel an der Behauptung eines demokratischen Rechtsstaats ausgelegt werden kann."

Einblick in ein bemerkenswertes journalistisches Langzeitprojekt

2012 begann die US-Journalistin Andrea Elliott ein in einer Notunterkunft für Obdachlose in Brooklyn lebendes Mädchen und ihre Familie zu begleiten, und daraus entwickelte sich eine Langzeitbeobachtung, die im heutigen Journalismus selten geworden ist. Isabella Caldart erläutert bei "54 books" nun, warum es sich lohnt, sich die Geschichte über die zum Zeitpunkt des Beginn der Recherche elfjährige Dasan und ihre Mutter Chanel näher anzuschauen. Caldart schreibt:

"Ein Jahr lang begleitet Elliott Dasani, Chanel und ihre Familie und veröffentlicht im Dezember 2013 eine fünfteilige Serie auf den Titelseiten der New York Times. Doch der Autorin ist bewusst: Dasanis Geschichte ist noch nicht auserzählt. Am Ende sind es acht Jahre, die Andrea Elliott mit der Familie verbringt."

Das Ergebnis dieser Arbeit erscheint dann 2021 als Buch unter dem Title "Invisible Child". 2022 wird Elliott dafür mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, es ist bereits ihr zweiter. Anlass des Textes bei "54 books" ist nun das Erscheinen der deutschen Übersetzung Ende November. Caldart stellt in ihrer Besprechung unter anderem die selbstreflexiven Passagen des Buchs heraus:

"Ihre Rolle als teilnehmende Beobachterin bringt (Elliott) nicht selten in eine Zwickmühle. Denn sie will so sehr am Rande stehen und so wenig teilnehmen wie möglich, aber das funktioniert natürlich nicht immer. Gemäß ihrem journalistischen Berufsethos weigert sie sich etwa, der Familie Bargeld zu geben. Aber, wie sie zugibt, knickt sie manchmal doch ein, und sie kauft auch Essen, kutschiert die Familie durch die Gegend oder lässt sich wegen ihrer 'White girl'-Stimme von Chanel benutzen, um 'beim Stromanbieter[n] anrufen oder bei irgendeinem städtischen Beamten, der ihr Ärger macht – sofern ich über das Gespräch nichts schreibe'. Und dann ist da noch die Frage, wie sie damit umgehen soll, dass Dasani noch so jung ist."

Dazu schreibt Elliott selbst:

"Würde (Dasani) es irgendwann bereuen? Worin bestand meine ethische Verpflichtung einem Kind gegenüber, im Vergleich zu einem Erwachsenen, der aufgrund seiner Lebenserfahrung in der Lage ist, wohlüberlegte Entscheidungen zu treff­en?"

Inwiefern es sich hier um ein außergewöhnliches Journalistenbuch handelt, macht möglicherweise auch folgende Passage deutlich:

"Allein der Umfang gibt einen Hinweis darauf, wie groß Elliotts Unterfangen war, die Familie und ihre Situation angemessen darzustellen: 'Kind im Schatten' umfasst 750 Seiten, 70 davon sind Anhang und Quellen, und neben hunderten Stunden von Interviews hat die Autorin auch 14.000 Seiten offizielle Dokumente durchforstet."

Kulturkampfrhetorik als Droge

Die US-Wochenzeitschrift "The Nation" hat vor rund einem Monat betont, dass der "sture Widerstand" etablierter Medien dagegen, Donald Trump als Faschisten zu bezeichnen, nicht mehr haltbar sei. Immerhin: In den USA ist es möglich, dass im Fernsehen eine Expertin zu Wort kommt, die - aus dem soundsovielten aktuellen Anlass - über Trumps "faschistische Rhetorik" spricht. Ruth Ben-Ghiat tut es in diesem CNN-Gespräch. Solche Expertinnen sähe ich auch gern mal bei ARD oder ZDF. Oder beim "Spiegel", wo Jan-Werner Müller, Politikwissenschaftler an der Universität Princeton, Trump in einem Interview einmal als "Populisten" und einmal als "Rechtspopulisten" bezeichnet.

Das von Nadfia Pantel geführte Interview lohnt trotzdem die Lektüre. Am Ende geht es um die (vermeintliche) "Ideenarmut" der "konservativen Parteien". Müller sagt:

"Das (dadurch) verursachte Vakuum wird mit Kulturkampfrhetorik gefüllt. Das sieht man auch bei Teilen der CDU (…) Es wird dann behauptet, dass man nichts mehr sagen dürfe, es wird sich über Genderpolitik oder Veganer ereifert. Für bürgerliche Kreise werden solche Themen zur Einstiegsdroge in den Rechtspopulismus (…) Das Problem ist, dass Akteure in den Medien und in der Politik, die es eigentlich besser wissen sollten, die Gefahr, die von den Rechtspopulisten ausgeht, im Zweifelsfalle immer noch unterschätzen."

Nach meinem Verständnis ist das ein halbwegs optimistischer Interviewausklang, denn Müller scheint zumindest nicht auszuschließen, dass es möglich ist, dass "Akteure in den Medien" ihre "Populisten"-Unterschätzungsphase noch überwinden können.

Markus 'ahl formuliert in einem "persönlichen" Jahresrückblick bei netzpolitik.org eine ähnliche Kritik wie Müller:

"Die viel beschworene Brandmauer erweist sich als eine Wand aus Stroh. Befördert wird dieser Rechtsruck durch irrationale Kulturkämpfe, die die Medien befördern, und in denen Gefühlsfragen wie das Gendern wichtiger erscheinen als Fragen der Daseinsvorsorge. Es ist kein Funfact: Rund vier von fünf Leser:innenbriefe, die ich in den vergangenen Jahren bekommen habe, drehten sich um die Forderung, dass ich gefälligst mit dem Gendern aufhören soll. Natürlich waren sie fast immer von Männern geschrieben."

Die maßgebliche Frage, die sich aus dem von Müller und 'ahl Gesagtem ableiten lässt, lautet: Verkaufen Journalistinnen und Journalisten die "Einstiegsdroge" (Müller) bloß oder sind sie selbst Konsument? Wenn sie in dem beschriebenen Sinne nur Dealer sind, besteht Hoffnung.


Altpapierkorb ("Notruf" von "Katapult", Lücke im Etat bei netzpolitik.org, Kathrin Hollmer zur Lage des fiktionalen Fernsehens, Grimme-Direktorin geht, "Sächsische Zeitung" über fragwürdigen MDR-"Umschau"-Beitrag)

+++ Gerade erst vor einer Woche meldete der Branchendienst "New Businss", dass "Katapult" rund ein Vierteljahr nach der knapp abgewendeten Insolvenz "wieder schwarze Zahlen schreibt", und dennoch hat Herausgeber Benjamin Friedrich am Sonntag einen "Notruf" abgesetzt. Um Geld geht es dieses Mal allerdings nicht. Friedrich schreibt: "Dass wir bei der Demo-Berichterstattung verfolgt und bedroht werden, ist mittlerweile Normalität. Dass wir unsere Autos dabei weiter weg parken, ist Normalität. Dass unsere Mitarbeitenden ihre Identität verschleiern müssen, ist Normalität, und wenn man das alles so zusammengefasst liest, dann merkt man, das alles darf KEINE NORMALITÄT sein. Das alles ist demokratiefeindlich – es ist der Versuch, Journalismus zu verhindern (…) Besonders betroffen von den Einschüchterungsversuchen ist unsere Lokalzeitung ’Katapult MV’ (…) Wie nie zuvor merken wir derzeit, dass die Rechten stärker und selbstbewusster werden, dass sie uns einschüchtern wollen – und es tatsächlich auch klappt (…) Ich will das nicht hinnehmen."

+++ Definitiv ums Geld geht es allerdings im netzpolitik.org-Wochenrückblick von Markus Reuter: "Es fehlen noch sehr viele Spenden, damit wir im nächsten Jahr so weitermachen können wie bisher. Genau genommen sind es mehr als 308.000 Euro, die in den kommenden zwei Wochen reinkommen müssen. Vielerorts riecht es nach gebrannten Mandeln und Glühwein. Wir schauen derweil nervös auf unser Vereinskonto. Von Besinnlichkeit und Festtagslaune kann bei uns noch keine Rede sein."

+++ Einen Blick auf das fiktionale Fernsehjahr 2023 bzw. auf die grundsätzliche Lage des fiktionalen Fernsehens wirft Kathrin Hollmer, die aktuelle Vorsitzende der für dieses Genre zuständigen Grimme-Preis-Nominierungskommission, im "Übermedien"-Podcast "Holger ruft an": "Was ich sehr positiv finde ist, dass es selbstverständlicher geworden ist, Diversität zu erzählen, das wäre vor zehn Jahren noch nicht so gewesen, das war auch vor zwei, drei Jahren noch nicht so." Aber: "Es gibt Sachen, bei denen wir uns in der Kommission auch fragen: Hätte man das nicht vor 20 Jahren auch schon so gemacht?" Letzeres wiederum gelte für die vielen Krimi-Reihen - "da entwickelt sich das Fernsehen extrem langsam weiter". Offenlegung: Ich bin Vorsitzender einer anderen Grimme-Preis-Nominierungskommission.

+++ Dass Frauke Gerlach, die Direktorin jenes Instituts, das die Grimme-Preise verleiht, ihren Posten "im kommenden Frühjahr" verlässt, meldete am Wochenende u.v.a. die FAZ. Zuerst hatte das bereits am Donnerstag die KNA gemeldet. Die schrieb darüber hinaus: "Wer den Job übernehmen könnte, ist (…) noch nicht absehbar."

+++ Auf die "fragwürdigen und teils klar falschen Informationen", die ein Beitrag der MDR-"Umschau" zum Thema Impfstoffe verbreitete' geht die "Sächsische Zeitung" ein - und greift dabei auch unsere Kritik auf: "Die deutsche Impfgegner-Szene hat ihr Weihnachtsgeschenk schon bekommen', kommentiert die MDR-eigene Medienkolumne 'Altpapier' (...) Das ist für öffentliche, aber immerhin hausinterne (Selbst-)Kritik ungewöhnlich drastisch."

Das Altpapier am Dienstag schreibt Christian Bartels.

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