Kolumne: Das Altpapier am 7. Dezember 2023 Quelle des Lichts
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07. Dezember 2023, 10:30 Uhr
Der "Tages-Anzeiger" liefert ein wohltuendes Gegengewicht zur Falschberichterstattung über die Pisa-Studie. Bei "Riffreporter" wissen sie, wie lang eine Doku-Rezension sein sollte. "Time" würdigt Taylor Swift für ihre Art der Kernfusion. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Das Märchen der Woche
Als ich am Dienstag nach dem DFB-Pokal die Aufzeichnung des "Heute-Journals" gesehen habe, war ich halbwegs froh, dass Marietta Slomka den Auftakt-Beitrag zu den Gründen für das Abschneiden Deutschlands in der neuen Pisa-Studie folgendermaßen anmoderierte:
"An den Corona-Schulschließungen allein kann es nicht liegen, so viel sei vorweg schon gesagt."
Das Wörtchen "allein" betonte sie dabei sehr.
Erfreulich war das insofern, als dass es vorher andernorts noch anders geklungen hatte. Bei Tagesschau 24 zum Beispiel. "Lässt sich aus der Studie denn auch ableiten, woran es liegen könnte?", fragte Moderator Michail Paweletz dort die aus Berlin zugeschaltete Anke Hahn. Und der fiel als erstes ein:
"Ein Grund könnte sein: die Pandemie (…) In Deutschland waren die Schulen sehr lange geschlossen."
Das NDR-Magazin "Hallo Niedersachsen" wiederum zitierte ohne jede Einordnung den Verband Niedersächsischer Lehrkräfte, der mitteilte, "vor allem die Schulschließungen während der Corona-Pandemie haben zweifelsohne das Absinken des Leistungsniveaus verstärkt beziehungsweise beschleunigt".
Nachdem ich mich ein bisschen eingelesen habe, muss ich sagen, dass Marietta Slomka mit dem von mir zunächst goutierten Satz "An den Corona-Schulschließungen allein kann es nicht liegen" auch daneben liegt. Richtig ist dagegen: Es gibt "absolut null Zusammenhang zwischen den Schulschließungstagen und der Verschlechterung der PISA-Leistung in %", wie es "Spiegel"-Redakteur Jonas Schaible bei Bluesky formuliert.
Schaible zieht dieses Fazit dank eines Artikels, der im "Tages-Anzeiger" und parallel in der "Berner Zeitung" erschienen ist. Marc Brupbacher, Alexandra Aregger und Patrick Vögeli betonen hier unter anderem,
"dass der Bildungsrückgang bei Schwedens Schülerinnen und Schülern noch stärker ist als im OECD-Durchschnitt, obwohl dort die Schulen immer offen blieben".
Und:
"Länder mit langen und strikten Corona-Massnahmen wie Irland oder Italien büssten (…) fast keine Pisa-Punkte ein. Ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen der Dauer von geschlossenen Schulen und Bildungsleistungen ist nicht zu erkennen."
Wer die Erkenntnisse des Artikels in kürzerer Form haben will: Es gibt von Co-Autor Brupbacher einen Thread. Wer es noch kürzer braucht: Diese Graphik, die Teil des Artikels und des Threads ist, ist recht eindrucksvoll. Man werfe zum Beispiel einen Blick auf Lettland.
Andererseits hätte es schon gereicht, wenn manche Journalisten und andere Debatten-Influencer die Pressemitteilung zur Pisa-Studie gelesen hätten. Darin heißt es:
"Die Auswertung der internationalen Daten zeigt (…), dass es keinen systematischen Zusammenhang zwischen der Dauer der Schulschließungen und Leistungsrückgängen zwischen 2018 und 2022 gibt. Es gibt sowohl Staaten mit relativ wenigen Schließtagen, die deutlich schlechtere Ergebnisse vorweisen als 2018, als auch Staaten mit relativ vielen Schließtagen, die nur geringfügig weniger oder sogar etwas mehr Punkte erreichen als 2018."
Handelt es sich zum Beispiel bei den oben erwähnten Lehrkräften aus Niedersachsen, die der NDR zitierte, also um Lehrkräfte mit Leseschwäche? Eine Springer-Journalistin mit Bundesregierungsvergangenheit sei in diesem Kontext zumindest am Rande erwähnt.
Die Doku-Rezension der Woche
Ich schreibe regelmäßig für "epd medien" und sehr gelegentlich für den KNA-Mediendienst, und ich schicke das mal vorweg, bevor ich beide Fachdienste dafür lobe, dass dort noch in nennenswerter Zahl Rezensionen zu Dokumentarfilmen und Dokumentationen in angemessener Länge möglich sind. Dokumentarische Produktionen werden ansonsten derart vernachlässigt, dass es immer wieder vorkommt, dass wichtige Filme gar nicht rezensiert werden.
Den "Tagesspiegel" kann man zumindest dafür würdigen, dass er mehr Rezensionen zu dokumentarischen Produktionen veröffentlicht als andere General-Interest-Medien. Leider sind diese aber lächerlich kurz. Um zwei aktuelle Beispiele aufzugreifen: Diese ist etwas mehr als 1.700 Zeichen lang und diese hat etwas mehr als 1.800 Zeichen. Eine produktive Auseinandersetzung mit einem Film oder einer mehrteiligen Produktion ist da kaum möglich.
Umso erfreulicher dagegen Christopher Schraders Rezension zu der am Montag in der ARD gezeigten Doku "Drama Klimaschutz - Warum Wissenschaft und Proteste scheitern", die zuerst bei "Riffreporter" und dann bei klimafakten.de erschienen ist. Dort scheint man sich noch der Tatsache bewusst zu sein, dass es im Internet an Platz nicht mangelt. Der Text ist nämlich 11.000 Zeichen lang.
Eine tragende Figur des Films ist der Klimaforscher Mojib Latif, und über ihn schreibt Schrader unter anderem:
"Ganz am Anfang zieht der Forscher eine ernüchternde Bilanz: 'Ich arbeite seit Jahrzehnten in der Forschung, ich kommuniziere die wissenschaftlichen Ergebnisse', sagt Latif. 'Wenn ich es mal objektiv bewerte, kann ich nicht sagen, ich habe es richtig gemacht, sonst wären die Emissionen, zumindest die globalen Emissionen ja deutlich gesunken.' Das bereitet die Bühne für eine Analyse der vielfältigen Ansätze, tatsächlich vom Wissen zum Handeln zu kommen. Doch schon die darauf folgende Vermutung seines Protagonisten, man müsse vielleicht 'emotionaler kommunizieren', ignoriert der Film wie später noch einige andere Spuren."
Eine weitere Kritik:
"Für eine Dokumentation, die doch eigentlich nach Lösungen sucht, verbringt der Beitrag zudem erstaunlich viel Zeit mit Problemen (…) Vermutlich ist das nötig, damit das Publikum die gestellten Fragen richtig einordnen kann. Aber die Gewichtung stimmt dann nicht, und es fehlt die Zeit, genügend Facetten der Antworten zu finden."
Schraders Fazit:
"Die ARD-Dokumentation (bleibt) letztlich hinter ihren Möglichkeiten zurück. Die Analyse ist korrekt, aber die Folgerungen daraus sind unvollständig. Der Film beschreibt zwar einen wichtigen Schritt, nämlich Maßnahmen zum Klimaschutz aus den verbreiteten Verzichts-Diskursen zu lösen, sie als nutzbringend und attraktiv für die Bürger auszugestalten und auch so zu präsentieren. Aber dann verpasst er die Chance, tiefer einzutauchen."
Inwiefern ich Schrader zustimme, kann ich erst sagen, wenn ich den Film komplett gesehen habe. Bisher kenne ich nur Ausschnitte. Aber, auch auf die Gefahr, dass ich mich wiederhole: Der Umfang und die Tiefe des Textes sind hervorhebenswert, zumal angesichts der hochrelevanten Thematik.
Die Person des Jahres
Der erste Altpapier-Jahresrückblick erscheint erst am 27. Dezember, aber ansonsten ist vielerorts natürlich schon Rückblicks-Zeit. Zum Beispiel beim Magazin "Time", das gerade die "Person des Jahres" auszeichnete. Titelträgerin dieses Mal: Taylor Swift.
Das inspiriert zu einigen Fragen: Spricht es für das Magazin, dass es ein Signal für die Bedeutung von Kultur gesetzt und sich also für eine Künstlerin entschieden hat und nicht für eine Politikerin oder einen Politiker? Gab es überhaupt eine Politikerin oder einen Politiker, die oder der es verdient gehabt hätte, als "Person of the year" ausgezeichnet zu werden?
Wobei man an dieser Stelle betonen muss, dass die "Time"-Redaktion, wie Chefredakteur Sam Jacobs erläutert, jene Person auszeichnet, "die in den letzten 12 Monaten die Schlagzeilen am meisten geprägt hat, sei es im Guten oder im Schlechten". Es hätte also auch Putin werden können (der tatsächlich unter den Nominierten war, siehe etwa dpa/Zeit Online)
Jacobs’ Begründung für die Entscheidung:
"While her popularity has grown across the decades, this is the year that Swift, 33, achieved a kind of nuclear fusion:shooting art and commerce together to release an energy of historic force."
Das würde ich durchaus unterschreiben.
Jacobs weiter:
"In a divided world, where too many institutions are failing, Taylor Swift found a way to transcend borders and be a source of light. No one else on the planet today can move so many people so well."
Eine Quelle des Lichts? Das wiederum klingt mir dann doch ein bisschen zu religiös.
Altpapierkorb (palästinensische Medienschaffende, "Predictions for Journalism 2024", Raab, Schnieder, Bahnhöfe)
+++ Reporter ohne Grenzen melden sich in Sorge um palästinensische Medienschaffende zu Wort. In einer aktuellen Pressemitteilung heißt es: "(Sie) sind im Gazastreifen buchstäblich eingesperrt und können ihn nicht verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Aus Sicht von RSF ist das ein Verstoß gegen die Resolution 2222 des UN-Sicherheitsrats, welche die Mitgliedsstaaten verpflichtet, Journalistinnen und Journalisten wie andere Zivilistinnen und Zivilisten zu schützen."
+++ Das Stichwort "Rückblick" fiel heute oben schon. Eine kleine Serviceleistung in Sachen "Vorausblick" haben wir auch noch parat: Das "Nieman Lab" hat die ersten 13 Folgen der "Predictions for Journalism 2024" veröffentlicht. Die Sammlung wird bis zum 21. Dezember ergänzt. Wir werden bis dahin sicherlich auf ausgewählte Texte näher eingehen.
+++ Um den "Fall Raab" aka "Briefkopfaffäre" (Altpapier) ging es am Dienstag im rheinland-pfälzischen Landtag - also um unter anderem folgende Frage: "Versuchte Heike Raab als Teil der SPD-Landesregierung und mächtige Medienpolitikerin, die journalistische Berichterstattung des SWR zu beeinflussen?" So formuliert es die "Süddeutsche", die zudem dem CDU-Fraktionschef Gordon Schnieder mit den Worten zitierte, es handle sich um "ein großangelegtes Einschüchterungsvorhaben". Indes: Auch der Christdemokrat "hat mal einen Brief geschrieben, das kommt im Parlament zur Sprache. An den ZDF-Intendanten, mit der Bitte auf eine weitere publizistische Beschäftigung Jan Böhmermanns zu verzichten, 'bis zu einer Klärung der offenbar unklaren Haltung von Herrn Böhmermann dazu, was 'Nazis' ausmacht'." Die ebenfalls aus dem Landtag berichtende FAZ zitiert dazu die SPD-Fraktionsvorsitzende Sabine Bätzing-Lichtenthäler. "Das war daneben. Ich kann mich an keinen Politiker erinnern, der sich so schnell in die Kunst- und Medienfreiheit eingemischt hat", sagte sie zu Schnieders Schreiben.
+++ Die Kritik am "Spiegel", die Sebastian Wilken in einem Thread übte, weil das Magazin eine lächerliche Studie zur Qualität deutscher Bahnhöfe verbreitete (Altpapier von Dienstag), hat er nun zu einem Artikel für "Übermedien" ausgebaut. Wilken schreibt hier: "Was Bahnhöfe wirklich auszeichnet, etwa die Aufenthaltsqualität oder die Wegführung, insbesondere beim Umsteigen, spielt (in der Studie) keine Rolle (…) Besonders absurd ist, dass ein Bahnhof besser bewertet wird, wenn er 'mehr Fahrkarten und Ticketpakete zur Auswahl' hat. Heißt: Je komplizierter das Ticketsystem, desto mehr Punkte gibt es. Punkte gibt es auch, wenn 'Kunden Apps wie Uber, Bolt und Lyft für die Fahrt zum und vom Bahnhof nutzen können.' Was allerdings wenig mit dem Bahnhof zu tun hat, sondern vor allem damit, ob es das entsprechende Angebot an dem Ort überhaupt gibt."
Das Altpapier am Freitag schreibt Johanna Bernklau.