Kolumne: Das Altpapier am 5. Dezember 2023 Falsch verstandener Proporz
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05. Dezember 2023, 12:36 Uhr
Warum begeht ein Investigativjournalist kalkulierten Rechtsbruch? Inwiefern trägt der NDR "zur gefährlichen Normalisierung rechtsextremen Gedankenguts in unserer Gesellschaft bei"? Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- Eine Straftat für die Pressefreiheit
- "Faktenfinder"-Text ohne Ross und Reiter
- Auschwitz-Komitee ruft zu Protest gegen den NDR auf
- "Spiegel" fällt auf Bullshit-Studie zu Bahnhöfen herein
- Altpapierkorb (überlebende Opfer des Hamas-Pogroms erzählen ihre Geschichten, Sophie von der Tann wehrt sich gegen das Etikett "jung", spanische Verlage verklagen Meta, taz berichtet über Rettungsoptionen für Torial)
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Eine Straftat für die Pressefreiheit
Dass ein Journalist mit einer Veröffentlichung eines Beitrags wissentlich eine Straftat begeht, dürfte eher nicht die Regel sein. Arne Semsrott, Chefredakteur von fragdenstaat.de, hat es jedoch getan. Er hat, wie die "Süddeutsche" schreibt, "im August eine Art kalkulierten Rechtsbruch begangen: Er stellte insgesamt drei Beschlüsse des Amtsgerichts München vom Oktober 2022 und Mai 2023 online, zudem einen Beschluss des Landgerichts Karlsruhe vom Mai 2023".
In diesen Beschlüssen geht es um jene fundamentalen Angriffe auf die Pressefreiheit, die am vergangenen Mittwoch hier Thema waren: die Fälle "Letzte Generation" und Radio Dreyeckland. Ziel des "kalkuliererten Rechtsbruchs" ist es, etwas pathetisch formuliert, den § 353 des Strafgesetzbuchs zu Fall zu bringen. Die SZ zitiert Semsrott dazu u.a. folgendermaßen:
"'Durch die strikte Anwendung von 353d können Journalisten nicht so frei berichten, wie das für unsere Demokratie gut wäre.' Etwa bei der durchaus umstrittenen Entscheidung, einen Anfangsverdacht zur Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen Klimaaktivisten zu bejahen und in der Folge sogar deren Pressetelefon bei Gesprächen mit Journalisten abzuhören, bestehe aus seiner Sicht ein hohes Interesse der Öffentlichkeit, die Hintergründe zu kennen. Und so kam Semsrott auf die 'Idee, diese Frage zu Klärung nun endlich einmal durch die Instanzen zu tragen.'"
Aus seiner Sicht "und der der ihn unterstützenden Gesellschaft für Freiheitsrechte" (GFF) gebe es "gute Gründe, die Verfassungsmäßigkeit des Paragrafen anzuzweifeln:
"Er lasse keine Möglichkeit, in Einzelfällen abzuwägen, ob die Pressefreiheit nicht höher als das Veröffentlichungsverbot wiege. Und so habe der Paragraf seit seinem Bestehen Berichterstattung erschwert, Journalisten zu abenteuerlichen Verrenkungen gezwungen."
Warum Semsrott "überzeugt ist, dass ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2011 und eines des Bundesgerichtshofs vom Mai dieses Jahres seine Sicht stützen" - darauf geht der Artikel auch ein.
fragdenstaat.de berichtet ebenfalls - und zitiert dabei Benjamin Lück, den Verfahrenskoordinator bei der GFF:
"Journalist*innen müssen über laufende Strafverfahren berichten können, ohne selbst ins Visier der Strafverfolgung zu geraten. Die Strafandrohung von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe bedeutet ein zu hohes persönliches Risiko."
"Faktenfinder"-Text ohne Ross und Reiter
Dass "sowohl auf dem Kurznachrichtendienst X als auch bei Telegram das Gerücht kursiert, Schnee sei ein Beweis dafür, dass die Erderwärmung und der Klimawandel nicht so schlimm wären oder es sie gar nicht gebe", hat der "Faktenfinder" der "Tagesschau" aufgegriffen. Das ist gewiss verdienstvoll. Autorin Laura Bisch zitiert unter anderem Peter Hoffmann, Meteorologe am Potsdam Institut für Klimafolgenforschung:
"(Er) erklärt den Zusammenhang zur Erderwärmung so: 'Es ist bekannt, dass durch den Klimawandel höhere Temperaturen herrschen - und die Atmosphäre kann mehr Feuchtigkeit halten, wenn es warm ist.' Das könne im Sommer zu Dürren führen, weil die Feuchtigkeit dann eher verdunstet und nicht abregnet. Im Herbst und Winter werde die Feuchtigkeit dagegen entladen - als extremer Regen oder bei sehr niedrigen Temperaturen als extremer Schnee oder Schneemassen."
Um es kürzer zu machen:
"Der DWD hat hohe Niederschläge für diesen Winter vorhergesagt. Weil die Meere besonders warm sind, also mehr verdunstet. Wenn es unter null Grad ist, heißt das Schnee. Und unter null ist es im Winter oft."
Das postete gerade der Klimaforscher Stefan Rahmstorf bei Mastodon.
Aber: Wenn man ein Gerücht widerlegt, kann es auch hilfreich sein zu benennen, wer es maßgeblich verbreitet hat. Wie gesagt: kann. Wenn ein namhafter Politiker dazu beigetragen hat, sollte man ihn jedenfalls benennen. In diesem Fall war es Michael Grosse-Brömer, der Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses im Deutschen Bundestags, aber der kommt in dem Text nicht vor. Seine Wortmeldung lautete:
"Habe ich das richtig verstanden: wenn wir drei Tage hintereinander Hitze haben, ist das Klimawandel. Wenn wir drei Tage Schneefall haben, ist das Wetter und hat mit Klima nix zu tun!?"
Auschwitz-Komitee ruft zu Protest gegen den NDR auf
"Nazis raus"-Rufe waren laut "Hamburger Morgenpost" vor rund zweieinhalb Wochen dort zu hören, wo man sie normalerweise nicht hört: vor dem Gelände des NDR-Fernsehens in Hamburg-Lokstedt. Dort fand seinerzeit eine Führung für "AfD-Mitglieder der Hamburger Bürgerschaftsfraktion sowie von Vertretern der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung" ("Welt") statt, und dagegen hatten verschiedene Organisationen und NDR-Mitarbeitende protestiert. Darunter der NDR-Personalrats-Vorsitzende und Buchautor Björn Staschen, der laut "Morgenpost" "daran erinnerte, dass 'Feinde der Demokratie" nichts im NDR verloren hätten'".
Am kommenden Freitag findet nun der zweite Teil der Führung statt, und nun ruft auch eine Organisation zu Protesten auf, die sich an der Aktion Mitte November noch nicht beteiligt hatte: das Auschwitz-Komitee. In dem Aufruf, der hier verlinkt ist, heißt es:
"Der NDR sendet damit ein fatales Signal, das zur gefährlichen Normalisierung rechtsextremen Gedankenguts in unserer Gesellschaft beiträgt. In unserer Rolle als Bewahrer der Erinnerung an die Schrecken der Shoah und als Verfechter der demokratischen Werte sehen wir uns in der Pflicht zu handeln und gegen diese bedenkliche Entwicklung ein Zeichen zu setzen."
Vor dem ersten Besuch hatte der Personalrat laut "Welt" kritisiert:
"Mit diesem Besuch dringen Parteien und Organisationen, die und deren Umfeld Journalist*innen beleidigen, bedrohen, angreifen und in ihrer Arbeit behindern, in den geschützten Arbeitsbereich von Kolleg*innen ein."
Das bezog sich unter darum darauf, dass das Sendestudio des "Hamburg Journals" als Besichtigungsort geplant war. Ich war nur eine sehr kurze Zeit in meinem Leben fest angestellt, insofern ist meine Einschätzungsfähigkeit begrenzt, aber: Wäre ich fest angestellt, und die Chefs würden die AfD ins Haus holen, würde ich so schnell wie möglich das Weite suchen. Denn: Wer den Feind ins Haus holt, ist selbst ein Feind.
"Wenn wir ein NDR für alle sein wollen, dann müssen wir auch mit denen sprechen, die uns ablehnen und sehr kritisch sehen",
hat Landesfunkhausdirektor Hendrik Lünenborg laut ndr.verdi.de in dieser Sache argumentiert, und daher bietet es sich an, auf ein Altpapier aus dem Oktober zu verweisen - bzw. auf eine Äußerung Georg Restles beim "Monitor"-Ableger "Studio M", die sich zwar nicht auf Besucherführungen zitiert, aber trotzdem anwendbar ist:
"Man muss sehen, dass die Rundfunkordnung und die Rundfunkfreiheit Ausdruck der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus sind. Karlsruhe hat das in seinen Rundfunkurteilen immer wieder sehr deutlich unterstrichen. Mit anderen Worten: Für die Feinde dieser Verfassung, für Rechtsextremisten ist kein Proporzgedanke übrig. Es gibt keine Vielfalt, die auch Rechtsextremisten einschließt."
"Spiegel" fällt auf Bullshit-Studie zu Bahnhöfen herein
Gegen die Bahn geht immer - und deshalb hat der "Spiegel" am Dienstag einen launig angeteaserten Artikel veröffentlicht, der den "European Railway Station Index 2023" referiert. Der Physiker, Journalist und Zugreise-Magazin-Macher Sebastian Wilken hat sich die Studie, auf die sich der "Spiegel" beruft, genauer angesehen und darüber bei Mastodon geschrieben:
"Auffällig die Auswahl der Bahnhöfe. Von 50 'untersuchten’ Bahnhöfen liegen 21 in Deutschland. Spanien ist dagegen nur einmal mit Madrid vertreten, Frankreich nur mit einigen willkürlich ausgewählten Pariser Bahnhöfen. Gar nicht enthalten sind Tschechien, Ungarn, Kroatien, Slowakei, Slowenien, Portugal, Polen, Belgien, das Baltikum und Schweden."
Als schlechtesten Bahnhof Europas haben die Studienautoren den Bremer Hauptbahnhof auserkoren. Wilken dazu:
"Ein Grund warum Bremen Hbf so schlecht abschneidet: Angeblich gibt es nur 9 Geschäfte und Kioske, was zu 0 Punkten in der Kategorie 'Shops/Kiosks' führt. Jeder, der schonmal in Bremen war, weiß: Das ist glatt gelogen.
Spätestens an dieser Stelle merke man, dass es sich hier um eine "komplette Bullshit-Studie" handle. Ein weiteres Indiz: Als drittbester Bahnhof Europas wird der Berliner Hauptbahnhof gerankt (den möglicherweise auch der eine oder andere "Spiegel"-Redakteur schon mal von innen gesehen haben dürfte).
Hinter der Studie, "die offenbar so designt ist, Deutschland schlecht dastehen zu lassen", steckt das Consumer Choice Center (CCC) - laut Lobby Control, so Wilkens weiter, "eine libertäre Organisation, die von der Tabak-, Öl- und Gasindustrie finanziert wird" und "gegen jegliche Art von staatlicher Regulierung, insbesondere gegen staatliche Maßnahmen im Bereich des Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutzes" lobbyiert.
Das tut die Organisation auch in der vom "Spiegel" gern aufgegriffenen Studie. Gegen das 9-Euro-Ticket und das 49-Euro-Ticket wird heftig gewettert. Der "Spiegel" hat mittlerweile auf die Kritik insofern reagiert, als er den Text im Laufe des heutigen Mittwochs "um eine Einordnung des Consumer Choice Centers (CCC) ergänzte".
Altpapierkorb (überlebende Opfer des Hamas-Pogroms erzählen ihre Geschichten, Sophie von der Tann wehrt sich gegen das Etikett "jung", spanische Verlage verklagen Meta, taz berichtet über Rettungsoptionen für Torial)
+++ Kira Kramer würdigt im Aufmacher der FAZ-Medienseite das Visual History Archive der USC Schoa Foundation dafür, dass es Videointerviews mit Überlebenden des Hamas-Pogroms am 7. Oktober zugänglich macht: "Die Videointerviews sind einfühlsam geführt, erschütternd und extrem persönlich. Sie zeugen überraschenderweise auch von Hoffnung, trotz der Erfahrungen, die Überlebende machen mussten. Selten geht es um Täter, Ideologien oder die Zahl der Opfer. Es geht um Einzelschicksale. Um das, was die Überlebenden des Pogroms erlebt und gefühlt haben in den Stunden, über die danach immer weitere grausame Details ans Licht kamen. Ihnen zuzuhören ist eine Schule der Menschlichkeit, die jeder besuchen sollte."
+++ Die für die ARD aus Israel berichtende Sophie von der Tann stört es, dass in der Berichterstattung über sie ständig ihr Alter (32) thematisiert wird. Im Interview mit dem "journalist" sagt sie: "Wenn Sie (…) Fragen nach meiner Position hier als vermeintlich junge Frau stellen, wirft das für mich solche danach auf, wo wir in der deutschen Medienlandschaft eigentlich stehen in Sachen Diversity." Und: "Wenn ich mich gerade unter internationalen Kolleginnen und Kollegen, besonders den britischen oder amerikanischen Korrespondenten in Israel und den palästinensischen Gebieten so umschaue, liege ich altersmäßig eher im Schnitt (…) Nur mal als Beispiel: der Büroleiter der 'New York Times', Patrick Kingsley, ist 34 Jahre alt. In Deutschland scheint das allerdings noch immer als zu jung angesehen zu werden."
+++ Spanische Verlage verklagen Meta, es geht um 550 Millionen Euro Schadensersatz. Reuters berichtet: "The newspapers argue that Meta's 'massive’ and 'systematic' use of personal data of its Facebook, Instagram and Whatsapp platform users gives it an unfair advantage of designing and offering personalised ads, which they say constitutes unfair competition". Dass Verlage in anderen EU-Ländern die Klage nachahmen könnten, erwähnt die Nachrichtenagentur ebenfalls. Bei Zeit Online und t-online.de findet man dpa-Meldungen zur Sache.
+++ Um Rettungsoptionen für die akut von der Einstellung bedrohte Plattform Torial, auf der freie Journalistinnen und Journalisten ihre Arbeit präsentieren können (Altpapier), geht es in der taz. Autorin Lotte Laloire zitiert den Torial-Geschäftsführer Marcus Jordan mit den Worten, es seien "einige Anfragen von möglichen neuen Trägern" eingegangen.
Das Altpapier am Mittwoch schreibt Christian Bartels