Kolumne: Das Altpapier am 29. November 2023 Ist ein mediales Revival der Menschenrechte möglich?
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29. November 2023, 12:13 Uhr
Die Neuen deutschen Medienmacher*innen formulieren anlässlich ihres Jubiläums Wünsche an die deutsche Medienlandschaft. Ein SZ- und ein RBB-Redakteur wehren sich gegen Telefonüberwachung. Das Forum Gemeinnütziger Journalismus erinnert die Ampel an ihren Koalitionsvertrag. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Menschenrechtsfragen
Mit Glückwünschen geht’s hier in dieser Kolumne ja eher selten los. Da brechen wir doch gern mal mit den Gewohnheiten. Also, herzlichen Glückwunsch, liebe Neue deutschen Medienmacher*innen zum 15-jährigen Bestehen!
Anlässlich des Jubiläums hat Isabelle Klein für @mediasres ein Interview mit NdM-Geschäftsführerin Elena Kountidou geführt. Die Redaktion des Medienmagazins fasst das Gespräch unter anderem mit folgenden Worten zusammen:
"'Viel mehr Menschen mit Einwanderungsgeschichten sind vor den Kameras und auch an den Redaktionstischen', betont (…) Kountidou (…) Allerdings verflüchtige sich dieser Effekt je weiter es in der Hierarchie nach oben gehe: 'Bei den Chefredakteurinnen der großen Medienhäuser haben nur 6,4 Prozent Einwanderungsgeschichte.' Erschreckend wenig sei das in Relation zu den 25 Prozent in der Gesamtbevölkerung, meint Kountidou."
Die NdM selbst blicken in einer Pressemitteilung zurück und nach vorn. "Ausruhen" könne man sich auf dem bisher Erreichten jedenfalls nicht. Denn:
"Mediendiskurse werden aktuell verstärkt von Menschenfeindlichkeit bestimmt (…) Das Selbstverständnis als Migrationsgesellschaft und grundlegende Menschenrechte werden in Talkshows öffentlich in Frage gestellt. Wir müssen also weitermachen und formulieren zum Jubiläum fünf Geburtstagswünsche an die deutsche Medienlandschaft."
Einer davon:
"Wir brauchen klare menschenrechtsbasierte Haltungen in Redaktionen statt Slogans für Vielfalt. In Zeiten des Rechtsrucks muss sich Journalismus seiner demokratischen Verantwortung bewusst sein."
Der Appell ist mir sympathisch. Ich frage mich trotzdem, wie realistisch es ist, dass sich "menschenrechtsbasierte Haltungen in Redaktionen" durchsetzen. Zugespitzt gefragt: Sind menschenfeindliche Journalisten resozialisierbar? Generell natürlich ja, aber über das Wie bin ich mir nicht im Klaren. Es bräuchte unterschiedliche Strategien: Gegenüber überzeugten Gegnern einer menschenrechtsbasierten Flüchtlingspolitik muss man anders argumentieren als gegenüber opportunistischen Journalisten, die die Menschenfeindlichkeits-Karte spielen, weil sie auf der Seite jener sein wollen, die derzeit wie die Sieger aussehen, oder weil sie sich einer (gefühlten) Blatt- oder Senderlinie unterordnen.
Pressefreiheitsfragen
Die Organisation Reporter ohne Grenzen setzt uns darüber in Kenntnis, dass Jan Heidtmann ("Süddeutsche Zeitung") und der RBB-Reporter Jörg Poppendieck am Dienstag Beschwerde gegen ein Urteil des Amtsgerichts München eingelegt haben (siehe auch (epd/"Rheinische Post"). Gespräche, die sie und andere Journalisten mit Vertreterinnen und Vertretern der Letzten Generation geführt hatten, waren abgehört worden, und das Amtsgericht hatte das für rechtmäßig erklärt.
Den betroffenen Poppendieck zitiert die Organisation so:
"Mittlerweile habe ich mir den Mitschnitt eines meiner Recherchetelefonate mit einem Vertreter der 'Letzten Generation' anhören können. Ich war einen Moment geschockt, weil ich das nicht für möglich gehalten hatte. Es ist so offensichtlich, dass die Generalstaatsanwaltschaft und das Amtsgericht die Pressefreiheit schlicht ignoriert haben."
Und Christian Mihr, der scheidende Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, sagt:
"Dass die Kommunikation von zahlreichen Medienschaffenden mit der Letzten Generation von den Ermittlungsbehörden überwacht wurde, ist schlimm genug. Dass das Gericht nach nochmaliger Prüfung weiter darauf beharrt, dass die Maßnahmen rechtmäßig waren, kann so nicht stehen gelassen werden. Wir unterstützen deshalb die betroffenen Journalisten bei ihrer Beschwerde – auch um ein Zeichen zu setzen, dass sich die massenhafte Überwachung von Journalistengesprächen sich nicht wiederholen darf."
Die mannigfaltigsten staatlichen Angriffe auf die Pressefreiheit hat in diesem Jahr der Sender Radio Dreyeckland (RDL) erlebt. Sie waren im Altpapier vielfach Thema. Johanna Treblin rekapituliert für die taz die Entwicklungen unter anderem anhand von Gesprächen mit zwei betroffenen Mitarbeitenden, Fabian Kienert und Andreas Reimann. Und so ging alles los:
"Um 6.40 Uhr, am 17. Januar 2023, klingelt und rüttelt es bei Kienert an der Wohnungstür: die Polizei mit einem Durchsuchungsbefehl. Zeitgleich stehen auch bei Geschäftsführer Reimann Polizist*innen vor der Tür."
Der rechtliche Zwischenstand:
"Die Ermittlungen gegen Reimann wurden eingestellt. Gegen Kienert allerdings übernahm das Oberlandesgericht die Ermittlungen. Vergangene Woche entschied es, die Durchsuchung von Kienerts Wohnung sei rechtens gewesen. Radio Dreyeckland erwägt nun weitere rechtliche Schritte (…) 'Als ich von den erneuten Ermittlungen gehört habe, habe ich prompt schlecht geschlafen', sagt Reimann. Die Bilder, wie die Polizei seine Wohnung durchsuchte, 'sind wieder hochgekommen' (…) Der Prozess fresse nun weitere Zeit und Geld. Dafür sammelt die Redaktion Spenden – was auch wieder Zeit in Anspruch nimmt".
Förderungsfragen
Wo es in Deutschland bei der Medienförderung hakt - das ist im Altpapier oft Thema gewesen in der jüngeren Vergangenheit. Ausführlich zum Beispiel am vergangenen Freitag, etwas kürzer am gestrigen Dienstag. Mit Förderung sind in diesem Zusammenhang sowohl die Zurverfügungstellung von Geld gemeint als auch die Schaffung von Rahmenbedingungen, die Medien die Finanzierung erleichtern.
Um solche Rahmenbedingungen geht es in einem Aufruf des Forums gemeinnütziger Journalismus, in dem die Bundesregierung an eine Koalitionsvertrags-Passage erinnert wird ("Wir schaffen Rechtssicherheit für gemeinnützigen Journalismus"). Das Forum ruft
"dazu auf, den Koalitionsvertrag ernst zu nehmen und den gemeinnützigen Journalismus – wie versprochen – rechtssicher zu machen. Denn der gemeinnützige Journalismus ergänzt Angebote dort, wo mit profitorientiertem Journalismus kein Geld mehr verdient werden kann. Bürger:innen können mit ihren Spenden Projekte ermöglichen, die es sonst nicht geben würde (…) Berücksichtigt die Bundesregierung den gemeinnützigen Journalismus nicht, werden SPD, Grüne und FDP unmittelbar vor dem Superwahljahr 2024 einen neuen Konflikt aufreißen. Denn das Sterben der Lokal-Medien ist mitursächlich für die Krise der Demokratie, gerade im ländlichen Raum."
Da würde auch Ulrike Demmer mitgehen, die stellvertretende Sprecherin der Vorgänger-Bundesregierung. In einem Beitrag für den heutigen "Tagesspiegel" konstatiert die aktuelle RBB-Intendantin:
"Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Aussterben der Regionalmedien und zunehmender Radikalisierung – nicht nur in den USA."
Apropos Aussterben: Am morgigen Donnerstag erscheinen der "Dosse Kurier" in Wittstock und das "Kyritzer Tagblatt", zwei Lokalausgaben von Madsacks MAZ, zum letzten Mal gedruckt. Bekannt ist das bereits seit Ende September. Man muss hier natürlich betonen: Als E-Paper erscheinen die Zeitungen weiter, wie auch der Prignitz Kurier, bei dem die Umstellung schon Anfang Oktober erfolgt ist. Aber wenn der "journalist" in seiner November-Ausgabe schreibt, dass sich 63 Prozent der einstigen Print-Abonnenten des "Prignitz Kuriers" "für ein E-Paper-Abo entschieden" haben, fragt man sich natürlich, was die übrigen 37 Prozent jetzt lesen. Dass die Informationslücken im Landkreis Prignitz derzeit groß sind, darauf lässt sich anhand einer gestrigen Meldung von dort schließen:
"Die Prignitz hat aktuell die zweithöchste Corona-Inzidenz bundesweit. Sie beträgt 105,1 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen (…) Allein in diesem Monat gab es bislang jedoch fast 200 Neuinfektionen, die der Landkreis Prignitz registriert hat. Darunter waren im November zwei Todesfälle."
Noch ein Exkurs (zu einem hier zu Lande meiner Wahrnehmung nach bisher nicht aufgegriffenen kuriosen Aspekt): Während die Verlage in Deutschland sich von der Ampel zwar eine Zustellförderung wünschen, aber eine direkte Presseförderung ablehnen, finden die Big Player in Dänemark diese so toll, dass sie sich dagegen wehren, dass sie im Rahmen einer geplanten Umverteilung künftig weniger davon abbekommen sollen. mediawatch.dk schrieb darüber Anfang Oktober Folgendes (Übersetzung durch deepL):
"Das neue Medienförderungsgesetz, das unter anderem eine Umverteilung der Medienförderung von landesweiten zu lokalen und regionalen Nachrichtenmedien vorsieht, wird nun von einer Reihe von Medien angefochten, allen voran von den beiden großen Tageszeitungsgruppen JP/Politikens Hus und Berlingske Media."
Diese haben nun eine Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht, die zu "einer Spaltung unter den Mitgliedern des Branchenverbandes Danske Medier geführt" habe, heißt es weiter.
Um diese Zahlen geht’s:
"Die Regelung, die am 1. Januar 2024 eingeführt werden soll, sieht eine Umverteilung der Mittel von den großen, nationalen Nachrichtenmedien zu den lokalen und regionalen Nachrichtenmedien vor, indem die Titelobergrenze für die nationalen Tageszeitungen von 17,5 Millionen DKK auf 12,5 Millionen DKK gesenkt wird, während die Obergrenze für die lokalen Medien von 17,5 Millionen DKK auf 18,5 Millionen DKK angehoben wird. Darüber hinaus können die lokalen Medien die redaktionellen Kosten mit dem Faktor 1,3 als Berechnungsgrundlage multiplizieren (…) Der Hauptpunkt des 25-seitigen Schreibens (…), das von der amerikanischen multinationalen Anwaltskanzlei Covington & Burling LLP verfasst wurde, ist, dass die vorgeschlagene Mediensubventionsregelung den Wettbewerb verzerrt und mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist und somit gegen EU-Recht verstößt."
Sendeschemafragen
Die Hörfunkwelle, über die wir hier im Altpapier in diesem Jahr am meisten geschrieben haben, war Bayern 2 (siehe etwa diese Kolumne, die noch weitere Links zum Thema enthält). Anlass der Berichterstattung: eine von Künstlern heftig kritisierte geplante Reform des Kulturprogramms.
Nachdem der BR "es über lange Wochen versäumt (hat), die Hörerinnen und Hörer, die ihn mit dem Rundfunkbeitrag finanzieren - seine Stakeholder, wenn man so möchte -, und auch die Künstler, die nicht nur Gegenstand von Berichterstattung sind, sondern dieses Kulturprogramm in erheblichem Umfang mitgestalten, ausreichend einzubeziehen in die Überlegungen" ("Süddeutsche"), hat er das neue Sendeschema nun vorgestellt. Stefan Fischer, Autor des zitierten SZ-Artikels, meint:
"Wenn die Verantwortlichen es tatsächlich ernst meinen und nehmen, was sie nun ausgearbeitet und vorgestellt haben, dann wird es zum Schlimmsten, das die Kritiker der Reform befürchtet haben, nicht kommen."
Was - ich spekuliere jetzt - ein Beleg dafür sein könnte, dass der Protest aus dem Kulturbetrieb und die interne Kritik (jedenfalls unterhalb der Führungsebenen) zumindest ein bisschen was bewirkt haben.
"Warum die Kulturberichterstattung - das Kernmerkmal der Kulturwelle Bayern 2-, die bislang morgendlich gebündelt wird, fortan nun zerpflückt werden soll (…) bleibt weiterhin unklar",
kritisiert Fischer zwar. Aber er lobt auch:
"Das neue Sendeschema bietet erkennbar Raum für eine vielfältige Kulturberichterstattung und eine gründliche Befassung mit kulturellen Diskursen zu attraktiven Sendezeiten (…) Erhalten bleibt der Zündfunk um 19 Uhr und auch, entgegen bislang anderslautenden Aussagen aus dem BR, der Nachtmix um 23 Uhr - als überwiegend live moderierte Sendungen, in der Radio-DJs Independent-Musik spielen."
Das exzeptionelle "Nachtstudio" wiederum, um das es in diesem Altpapier ging, gehört zu den Sendungen, die es nicht mehr geben wird (siehe etwa dwdl.de). Ebenfalls ausführlich berichtet natürlich die Münchener "Abendzeitung".
Clanfragen
"Obwohl so viel über Clans gesprochen wird wie wohl nie zuvor, lässt sich kein substanzieller Zuwachs an Wissen über diese Form sozialer Verwandtschaft wahrnehmen",
konstatiert der Historiker Felix Schürmann in einem am Wochenende bei "Geschichte der Gegenwart" unter der Überschrift "Zur Geschichte und Kritik des Clan-Begriffs" erschienenen Beitrag. Aufgreifenswert ist er, weil er über die immer mal wieder und auch im Altpapier anklingende Kritik des Begriffs "Clankriminalität" hinaus geht.
Die Verwendung des Begriffs zu kritisieren bzw. ihn als "latent rassistisch" zu bezeichnen, sei richtig, greife aber zu kurz, meint Schürmann. Diese kritische Reflexion einer "Rahmenerzählung", von der "sich inzwischen ein ganzer Zweig des Journalismus zu nähren scheint", bleibe "merkwürdig losgelöst von der wissenschaftlichen Diskussion, die mit dem Clan-Begriff andere Probleme verbindet als Stigmatisierung oder Populismus".
Was also gäbe es zu sagen aus Sicht eines Historikers?
"Diese Form menschlicher Gemeinschaftsbildung existiert seit frühgeschichtlichen Zeiten (…) Archaisch sind Clans deshalb aber nicht. Jedenfalls nicht mehr oder weniger, als es die Familie oder die Ehe ist. Denn wie diese Institutionen, haben sie sich im Laufe der Jahrhunderte an veränderte gesellschaftliche, politische und kulturelle Realitäten angepasst (…) Seit westliche Gesellschaften meinen, modern geworden zu sein, verbinden sie Clans vorwiegend mit nichtwestlichen Kulturen. Und weil sie nichtwestliche Kulturen häufig als zeitlich stagnierend missverstehen, gelten auch Clans vielen als etwas Rückständiges (…) (Das) verweist (…) auf ein Wahrnehmungsmuster, das in koloniale Denkweisen verstrickt ist: 'Wir' leben im Hier und Jetzt, 'die Anderen' im Dort und Damals. Einer bequemen Illusion kultureller Überlegenheit mag dieser Mythos zuträglich sein. Dem Verständnis der Realität ist er es nicht."
Altpapierkorb (Gendersternchen, Gershkovic, Raab)
+++ "'Tagesspiegel’ schafft Gendersternchen ab", überschreibt die FAZ eine epd-Meldung. Schafft man’s als Lesende oder Lesender bis zum ersten Satz, erfährt man allerdings, dass das nur ein Teil der Wahrheit ist. Der lautet nämlich: "Der Berliner 'Tagesspiegel' gibt das Gender-Sternchen beziehungsweise den Gender-Doppelpunkt im gedruckten Blatt wieder auf." Konkreter: "Die Online-Berichterstattung ist den Angaben zufolge von diesem Schritt vorerst nicht betroffen." Das wirft natürlich Fragen auf: Eliminiert eine Software die pöhsen Sternchen und Doppelpunkte, bevor die bereits online veröffentlichten Texte in die Druckausgabe fließen? Oder muss da irgendein armer Hund händisch die Sonderzeichen rauspuhlen? kress.de berichtet ebenfalls über die Änderung der "Leitlinien" beim "Tagesspiegel".
+++ Etwas in Vergessenheit zu geraten schien zuletzt der in Moskau inhaftierte "Wall Street Journal"-Reporter Evan Gershkovic (Altpapier). Nun wurde bekannt: Russland hat die Untersuchungshaft bis Ende Januar verlängert. Seine eigene Zeitung berichtet, u.v.a. die "Washington Post" und das Redaktionsnetzwerk Deutschland tun es auch.
+++ "CDU will Rücktritt von Heike Raab", lautete eine Zwischenüberschrift in dieser Kolumne vor rund zwei Wochen. Es geht um einen Brief der rheinland-pfälzischen Medienpolitikerin Raab an den SWR, den man grenzüberschreitend finden kann. Was ist in den vergangenen zwei Wochen passiert? Raab ist nicht zurückgetreten, und die CDU fordert weiterhin, dass sie es tut. Über neue Entwicklungen im Detail berichtet die FAZ unter Verwendung des hinreißenden Wörtchens "Briefkopfaffäre".
Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ralf Heimann.