Das Altpapier am 16. November 2023: Porträt der Altpapier-Autorin Annika Schneider
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 16. November 2023 Die Nachfrage nach Propaganda war da

16. November 2023, 10:09 Uhr

Mit Hubert Seipel saß ein Journalist in Talkshows, der zugegeben hat, Geld aus Russland bekommen zu haben. Ein Einzelfall? Die Gästelisten der Sendungen zeigen, dass dahinter ein systematisches Problem steckt. Die Medienthemen des Tages kommentiert Annika Schneider.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Warum Hubert Seipel kein Einzelfall ist

Der Journalist Hubert Seipel soll mindestens 600.000 Euro von einem russischen Oligarchen erhalten haben (siehe Altpapier gestern) und hat diese Zahlungen gegenüber dem "Spiegel" eingeräumt. Das ZDF, das ebenfalls an der Recherche beteiligt war, hat den entsprechenden "Sponsorenvertrag" in Teilen veröffentlicht.

Dass Seipel in einem früheren SWR-Interview Zahlungen geleugnet hatte, ordnet das Rechercheteam des "Spiegel" so ein:

"Entweder log Seipel den Moderator, die Zuhörerinnen und damit die Öffentlichkeit an. Oder er verdrängte, was das Sponsorengeld aus Mordaschows Umfeld mit ziemlicher Sicherheit sein sollte: Schmiergeld für eine putinfreundliche Berichterstattung."

Ob und wie die Zahlung Seipels zwei Bücher und seine Berichterstattung über Putin und Russland beeinflusst hat, ist offen und soll nun von einer Kommission unter Ex-"Spiegel"-Chefredakteur Steffen Klusmann aufgearbeitet werden.

Aber mindestens ebenso drängend wird die Frage zu klären sein, ob Seipel ein Einzelfall ist. Wie systematisch hat Russland Geld in deutsche Berichterstattung gesteckt – und mit welchem Erfolg?

Gleich von "Kreml-nahen Netzwerken" in öffentlich-rechtlichen Häusern zu raunen, wie es Clemens Wergin in seinem "Welt"-Kommentar tut, scheint mir übertrieben. Aber vielleicht hat Susanne von Kessel-Doelle durchaus Recht, wenn sie bei "Meedia" schreibt, es drohe "einer der größten Skandale im ÖRR und in der deutschen Mediengeschichte seit langem".

Sehr hörenswert ist in diesem Zusammenhang das Interview, das mein Deutschlandfunk-Kollege Christoph Sterz gestern mit Julian Hans, ehemaligem Moskau-Korrespondenten der SZ, geführt hat. Hans zeigt sich von den Vorwürfen wenig überrascht. Schließlich habe Putin höchstpersönlich Seipels ins Russische übersetzte Buch vorgestellt, seine Filme seien im russischen Staatsfernsehen gezeigt worden. Warum Seipel in deutschen Medien trotzdem so präsent war? Hans sagt:

"Es gab in den deutschen Medien, auch stark in den öffentlich-rechtlichen, Leute, die das Gefühl hatten, die müssen zu der kritischen Berichterstattung ihrer Korrespondenten vor Ort irgendwie ein Gegengewicht schaffen – und für die war das offenbar attraktiv."

In Redaktionen säßen oft Leute, die verzweifelt jemanden suchten, der "mal was Anderes" sagt, so Hans. Er wirft den Sendern vor, die Wahrheit verwässert und die Wirklichkeit verwischt zu haben – darunter hätten echte Experten, gerade auch die Korrespondentinnen und Korrespondenten öffentlich-rechtlicher Sender, schon länger gelitten.

Der an sich richtige journalistische Grundsatz, beide Seiten zu hören, werde problematisch, wenn eine Seite nachgewiesen fortwährend lüge. Ein klassischer Fall von False Balance also. Hans sagt dazu:

"Und wenn man das inzwischen auch belegt hat, dass diese Seite immer lügt, dann muss man vielleicht überlegen, welche andere Formen man findet, um Vielfalt zu bringen, ohne Lügen zu verbreiten."

Mir stellt sich wiederum die Frage: War das wirklich False Balance? Oder nicht sogar False Imbalance, weil pro-russische Stimmen sogar häufiger zu sehen waren als kritische? Das legt eine wissenschaftliche Auswertung des Dokumentarfilmers Markus Welsch nahe, der "alle Talkshows im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen zum Russland-Ukraine Konflikt seit den Maidan-Demonstrationen 2013 bis zum ersten Jahr der großangelegten russischen Invasion" ausgewertet hat. Sein Ergebnis:

"Betrachtet man die Rangliste der am meisten eingeladenen Studiogäste vor dem russischen Großangriff, sind auf den ersten drei Plätzen ausgerechnet die Akteure zu finden, die eindeutig pro-russische Positionen vertreten. […] Sie reden Russlands aggressive Haltung gegenüber der Ukraine klein und sehen die Ursache für den Konflikt nicht beim eindeutigen Aggressor Russland, sondern der NATO."

Auch Hubert Seipel steht auf der Top-Ten-Liste der meistgefragten Gäste zum Thema. Zu seinem Fall befragt, sagte Ina Ruck, langjährige ARD-Korrespondentin in Moskau, dem "Tagesspiegel":

"'Es hat offenbar Methode, dass der Kreml so operiert – an den Fachleuten vorbei. Nicht nur in Deutschland.' Der Kreml umgehe Russlandkorrespondenten oder -expertinnen und biete lieber weniger mit dem Land vertrauten exklusive Bilder oder exklusiven Zugang zum Präsidenten. 'Das ist verlockend', so Ruck, 'und es verfängt.' Dass dem Kreml solche Manöver viel Geld wert seien, dürfte eigentlich nicht überraschen. 'Ich war dennoch geschockt. Unfassbar', sagte Ina Ruck."

Noch einmal zu betonen ist, dass beim Fall Seipel noch einiges unklar ist und die Berichterstattung dementsprechend fair bleiben sollte. Den Kollegen vom Deutschlandfunk teilte Seipel mit, ihm seien keine "handwerklichen Fehler" nachgewiesen worden, und beklagte, dass "der Schuldspruch medial gefällt sei".

Dass sein Verlag Hoffmann und Campe den Verkauf der Russland-Bücher vorerst gestoppt hat, scheint nachvollziehbar. Weniger einleuchtend ist, dass das Grimme-Institut schon jetzt prüft, Seipel eine 2009 verliehene Auszeichnung abzuerkennen, wie Timo Niemeier bei DWDL schreibt. In der prämierten Doku ging es nicht um Russland, sondern um den deutschen Auslandseinsatz in Afghanistan.

Zurückhaltenderes ist vom Sekretariat des Deutschen Fernsehpreises zu hören, den Seipel ebenfalls zweimal gewonnen hat, unter anderem 2014 für ein Interview mit Edward Snowden in Moskau. Auf DWDL-Anfrage heißt es dort, man nehme die Anschuldigungen sehr ernst, die Vorwürfe sollten aber zunächst geprüft werden.

Die größten Sorgen müssten sich nun die Redaktionen machen, die Seipel immer wieder beauftragt und eingeladen haben. Auf dem Spiel steht das Vertrauen in ihre Arbeit – und in die Berichterstattung aller Medien. Umso wichtiger ist es, diesen Anlass zu nutzen, um die Berichterstattung und Gästelisten rund um Russland gründlich zu durchleuchten.

"Umstrittene" Partei verweigert Presse-Akkreditierung

Auch eine andere Gästeliste gehört in dieses Altpapier, nämlich diejenige des AfD-Landesparteitags in Thüringen am kommenden Wochenende. Von dort berichten wollte unter anderem die Redaktion von "Monitor", die thüringische AfD will sie dort aber wohl nicht haben und hat dem Team die Akkreditierung verweigert. Wie der WDR mitteilt, begründet das die AfD damit, "dass bei MONITOR 'überhaupt nicht mehr von einer journalistischen Berichterstattung die Rede sein' könne".

Manuel Weis erwähnt bei DWDL in diesem Zusammenhang, dass bei der AfD-Thüringen "der umstrittene Politiker Björn Höcke" Vorstandssprecher sei – wobei "umstritten" ein sehr niedliches Adjektiv für einen Rechtsextremen ist.

Der DJV hat sich inzwischen auch geäußert, es sei "der erste Fall einer inhaltlichen Begründung für eine verweigerte Akkreditierung durch eine politische Partei". Allerdings hatte die AfD in Baden-Württemberg schon 2016 den damals diskutierten Ausschluss aller Medien von ihrem Landesparteitag damit begründet, es solle "voreingenommene Berichterstattung" verhindert werden (Tagesspiegel).

Dass die AfD gerne mal Presse von ihren Veranstaltungen ausschließt, ist nichts Neues und seit Jahren regelmäßig Thema, ausführlich nachzulesen unter anderem in einem Text von Gareth Joswig für die taz aus dem Jahr 2022. In Sachen "Monitor" prüft die ARD nach eigenen Angaben rechtliche Schritte.

CDU will Rücktritt von Heike Raab

A propos Medienrecht: Seit 2020 ist die SPD-Politikerin Heike Raab Lehrbeauftragte für Medienrecht an der Uni Mainz, so steht es auf ihrer Webseite. Noch sehr viel länger, nämlich seit 2015, ist sie in Rheinland-Pfalz für Medienpolitik zuständig. Außerdem koordiniert sie die Rundfunkkommission der Länder und ist damit eine der bekanntesten deutschen Medienpolitikerinnen. Zusätzlich sitzt sie im SWR-Verwaltungsrat – man kann also eigentlich davon ausgehen, dass Raab sehr genau weiß, wo die Trennlinie zwischen Politik und öffentlich-rechtlichen Medien verlaufen sollte (und das womöglich auch Studierenden erklärt).

Gestern nun hat die CDU-Fraktion in Rheinland-Pfalz den Rücktritt von Raab gefordert, nachzulesen bei der "Tagesschau" und auch auf vielen anderen Seiten. Hintergrund ist ein Brief an den SWR, in dem sie dessen Berichterstattung kritisiert hat und über den seit Längerem diskutiert wird – unter anderem über die Frage, mit welchem Briefkopf und in welcher Funktion Raab den Brief verschickt hat.

Die FAZ hatte zusammen mit dem "Trierischen Volksfreund" zuerst über den Brief berichtet. Dort ist zu lesen, dass es heute auch im Medienausschuss des Landtags um das Thema gehen wird. Raab hat den Brief bislang verteidigt als sachlich begründete "kritische Anmerkung bezüglich irreführender Inhalte".


Altpapierkorb

+++ Äußerst lesenswert ist das Interview, das Giovanni di Lorenzo mit dem Pianisten Igor Levit für die aktuelle Ausgabe der "Zeit" geführt hat. Die beklemmende Gesprächsatmosphäre ist in dem Print-Text fast so greifbar wie sonst nur in Radio- oder Fernsehinterviews, Levits Aussagen sind erschreckend.

+++ Ebenfalls in der aktuellen "Zeit" findet sich eine Zusammenfassung zu den Vorwürfen, Journalisten in Gaza hätten vorab von dem geplanten Terrorangriff der Hamas gewusst (siehe Altpapier).

+++ Die Meldung dürfte niemanden überraschen: Bei X werden nur wenige Tweets, die Hass und Hetze verbreiten, gelöscht. Oder, wie Markus Reuter bei Netzpolitik.org schreibt: "Musk hat einen Safe Space für Rassisten geschaffen." Die NGO "Center for Countering Digital Hate" hatte bei X 200 rassistische und antisemitische Tweets gemeldet. Eine Woche nach der Meldung standen 196 dieser Tweets immer noch online.

+++ Die Erfinderin des Hashtags #HamasIsIsis heißt Ella Kenan, ist eigentlich Reisebloggerin und wird heute von Othmara Glas in der FAZ porträtiert.

+++ Ebenfalls in der FAZ: Helmut Hartung interviewt den baden-württembergischen Medienstaatssekretär Rudi Hoogvliet ("Wenn einige Ministerpräsidenten gegenwärtig eine Beitragsstabilität und damit keine Erhöhung fordern, geht das nach meiner Meinung an der Realität vorbei.")

+++ Und nochmal FAZ, in der heute viele Medienthemen stecken: Susanne Preuß porträtiert den neuen Chef von RTL-Deutschland, Stephan Schmitter, und kommentiert ihn in der Print-Ausgabe so: "Der 49 Jahre alte Schmitter, der als Kind flotte Radiomoderationen mithilfe seines Kassettenrekorders übte, tritt aber nicht an, ein bewährtes Geschäftsmodell zu verwalten. Er soll ein Transformator sein, der die Wünsche der Klientel von morgen antizipiert und in Geld umwandelt."

Morgen kommt das Altpapier von Ralf Heimann.

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