Kolumne: Das Altpapier am 9. November 2023 Nie wieder! Aber…
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09. November 2023, 11:50 Uhr
Am Jahrestag der Novemberpogrome ist Antisemitismus ohnehin das dominierende Thema. Er zeigt sich in unterschiedlichen Formen. Unter anderem in Ignoranz. Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Die deutsche und die internationale Perspektive
Heute vor 85 Jahren, am 9. November 1938, kam es im gesamten Deutschen Reich zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden. Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden in Brand gesteckt, geplündert und zerstört. Tausende Juden wurden misshandelt, verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Daran erinnern heute viele Medien.
Der "Kölner Stadt-Anzeiger" hat einen Davidstern mit dem Schriftzug "Nie wieder!" auf seine Titelseite gedruckt, und er hat eine ganze Seite im selben Layout in die Zeitung gehängt. "Eine ganz besondere Seite eignet sich, selbst ein sichtbares Zeichen zu setzen – z.B. im eigenen Fenster", schreibt die stellvertretende Chefredakteurin Sarah Brasack bei Instagram.
Die "Hamburger Morgenpost" zeigt auf ihrem Titel heute einen Davidstern und widmet der Erinnerung im Innenteil sechs Seiten. Die "Welt" hat auf ihre erste Seite eine Israelflagge und das Brandenburger Tor gedruckt, darüber steht "9. November". "Bild" hat mit Augenzeugen gesprochen, unter anderem mit Margot Friedländer (Altpapier). Dort steht am Morgen im Titel der Top-Meldung auf der Startseite: "85 Jahre nach der Pogrom-Nacht ist die Angst zurück".
Erschütternd ist, dass der Hass auf Juden und die Angst der Juden 85 Jahre nach den Pogromen auch ohne den Gedenktag das dominierende mediale Thema wäre.
Die "Zeit" hat mit Holocaust-Überlebenden aus Israel gesprochen und betitelt ihre aktuelle Ausgabe mit einem Zitat aus diesen Gesprächen: "Die Albträume sind wieder da."
Das ist die deutsche Perspektive. Die internationale sieht teilweise etwas anders aus.
Die drei Top-Meldungen bei "Al Jazeera" lauten am Morgen:
- "Tausende fliehen vor israelischen Angriffen in Nord-Gaza"
- "UN-Menschenrechts-Kommissar fordert Waffenstillstand, um 'lebendigen Albtraum' in Gaza zu beenden"
- "Israel verstärkt die Bombardierung des Gazastreifens und die Angriffe im besetzten Westjordanland"
Hier geht es fast ausschließlich um die palästinensische Perspektive.
Der akzeptierende Antisemitismus
Helmut Hartung hat mit dem "Deutsche Welle"-Intendanten Peter Limbourg über die Rolle seines Senders in der Nahost-Berichterstattung gesprochen und Anfang der Woche für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" darüber geschrieben. Jetzt hat er das Gespräch als Interview in seinem Medienblog "Medienpolitik.net" veröffentlicht. Darin sagt Limbourg den interessanten Satz.
"Da in den arabischen Medien (…) nur das gezeigt wird, was im Gazastreifen geschieht, polarisiert die 'Deutsche Welle' auch, aber wir eskalieren diesen Krieg nicht."
In anderen Worten: Wenn fast alle einseitig berichten, kann es schon kontrovers sein, die andere Seite zu hören. Limbourg sagt:
"Wir lassen beispielsweise in unserem arabischsprachigen Programm Palästinenser sowie Israelis zu Wort kommen und zeigen so den Konflikt aus verschiedenen Sichtweisen der Betroffenen."
Man könnte nun sagen: Na gut, das ist eben Journalismus. Aber in diesem Konflikt ergibt sich aus so einer Herangehensweise schnell eine falsche Balance, wie Sascha Lobo in seiner "Spiegel"-Kolumne erklärt. Er schreibt:
"Einen Monat nach dem bestialischen Überfall der Hamas auf Israel kommt mir ein Teil der weltweiten Diskussionen vor wie der folgende bittere Witz: Hamas: Tötet alle Juden! Israel: Nein! Rest der Welt: Das sind also die beiden Extrempositionen, jetzt lasst uns einen Kompromiss in der Mitte finden."
Lobo beschreibt "eine Spielart" des aktuellen Antisemitismus, den "akzeptierenden Antisemitismus". Er ist laut Lobo
"das Achselzucken im Angesicht des Judenhasses. Das Ignorieren, das Nichtsehen oder Nichtwahrhabenwollen des Antisemitismus. Der akzeptierende Antisemitismus möchte verharmlosen und verschweigen, wo nichts zu verharmlosen und zu verschweigen ist".
Im Grunde spricht Lobo hier von Mitläufertum, das sich in Gedanken wie "Ich halt mich da raus" oder "Da sag ich mal lieber nichts zu" äußert. Es geht um das "Ja, aber" in den Erklärungen, warum es natürlich das Recht auf Selbstverteidigung gebe, das ja aber auch irgendwo Grenzen habe. Und es geht um den "Antisemitismus des politisch Nahestehenden". Lobo:
"Die wichtigste Waffe gegen den akzeptierenden Antisemitismus ist deshalb, gerade diejenigen zu konfrontieren, mit denen man sonst politisch und gesellschaftlich viel gemeinsam hat."
Antisemitismus über Umwege
Noch einmal zurück zur internationalen Perspektive. Benjamin Eyssel berichtet für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" über die Situation in China, wo die chinesische Zensur bei Antisemitismus offenbar beide Augen zudrückt. Die deutsche Botschafterin Patricia Flor sagt in dem Beitrag:
"Die chinesische Zensur in den chinesischen sozialen Medien ist ja oft sehr schnell und sehr effizient. Das wissen wir aus eigener Erfahrung. Auch Posts der deutschen Botschaft, zum Beispiel zu Menschenrechten, wurden schon gelöscht. Und daher fällt es doch sehr ins Auge, dass diese antijüdischen, antisemitischen, antiisraelischen Kommentare stehen bleiben."
Die Haltung der chinesischen Staats- und Parteiführung zu dem Konflikt ist ambivalent. Sie selbst bezeichne sich als "neutral", habe die Angriffe der Hamas auf Israel aber bis heute nicht als Terrorismus verurteilt und spreche auch nicht von einer Terrororganisation, sagt Benjamin Eyssel.
Eine subtilere Variante von Antisemitismus verbreitet sich zurzeit bei Tiktok oder Instagram: Judenhass über Umwege. Miguel de la Riva hat darüber für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" mit Eva Berendsen von der Anne-Frank-Bildungsstätte gesprochen. Sie sagt, weil es nicht mehr opportun sei, Hass auf Juden offen zu äußern, komme er über Umwege in der Verharmlosung der Shoa zum Ausdruck. Israel werde mit dem nationalsozialistischen Regime gleichgesetzt, der Gazastreifen mit einem Konzentrationslager.
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel vor einem Monat sei zu beobachten, "wie sich gerade auch Kreatoren heftig politisierten, die ansonsten eher über 'Beauty' und Essen reden".
Die FAZ blickt in ihrer Berichterstattung auch zurück auf die Situation der jüdischen Medien vor 85 Jahren. Rainer Burger erinnert auf der Medienseite daran, wie die Nazis kurz vor den Novemberpogromen alle jüdischen Presseorgane in Deutschland verboten und an deren Stelle das "Jüdische Nachrichtenblatt" trat, über das Burger vor 22 Jahren ein Buch geschrieben hat.
Die Zeitung entstand unter anderem, weil die Nazis einen Weg suchten, Juden mit ihren eigenen Botschaften zu erreichen. "Die immer neuen antijüdischen Anordnungen mussten irgendwo bekannt gemacht werden", schreibt Burger. Gleichzeitig habe das Blatt dabei behilflich sein sollen, das zu dieser Zeit noch verfolgte "letzte Ziel" zu erreichen, die Juden zum Auswandern zu bewegen, allerdings nicht ohne sie vorher noch ihrer Vermögenswerte zu berauben.
Und zum Schluss wieder zurück in die unerfreuliche Gegenwart. Neben den Hinweisen auf das Gedenken und die Gedenkveranstaltungen taucht heute eine weitere Meldung immer wieder auf. Wie unter anderem der Deutschlandfunk berichtet, rechnet die Polizei mit Anschlägen auf jüdische Einrichtungen und verstärkt daher den Polizeischutz.
Altpapierkorb (Silbereisen, politische Werbung, getötete Journalisten, Fleischhauer, Gottschalk, ARD-Gutachten, New York Times)
+++ Der Altpapier-Host MDR soll laut einem Bericht von Tobias Fuchs für "Business Insider" in den vier Jahren von 2020 und 2023 rund 45 Millionen Euro für Shows von Florian Silbereisen verplant haben. Fuchs beruft sich auf "vertrauliche ARD-Dokumente". Michael Hanfeld hat für die FAZ eine schöne Meldung draus gemacht.
+++ Die Europäische Union konnte sich nicht dazu durchringen, auf Nutzer zugeschnittene politische Werbung zu verbieten, berichtet unter anderem Stefan Krempl für "Heise Online". Aber es gibt immerhin ein paar Einschränkungen: Anbieter dürfen sensible Daten wie die politische Einstellung, die sexuelle Orientierung, Religion, Gesundheit oder ethnische Herkunft nicht mehr nutzen, um gezielt Werbung auszuspielen. Sie dürfen auch Unter-18-Jährige nicht mehr mit politischer Werbung behelligen. Wenn Nutzer die "Do not track"-Einstellung wählen, müssen Anbieter das ohne lästige Nachfragen akzeptieren. Und die Einwilligung, politische Reklame hinzunehmen, dürfen Anbieter nicht zur Bedingung für die Nutzung eines Portals machen. Das alles gilt allerdings nur für bezahlte politische Werbung. Also zum Beispiel nicht für nicht gekaufte Social-Media-Beiträge von Politikern. Die Kritik an der Regelung ist: Nicht sensible Daten können immer noch benutzt werden, um Menschen bestimmte politische Botschaften einzublenden. Das ist zum Beispiel dann ein Problem, wenn eine Partei verschiedenen Menschen Botschaften einblendet, die sich widersprechen.
+++ Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober sind laut der Journalistenorganisation CPJ im Nahen Osten mindestens 39 Journalistinnen und Journalisten getötet worden, berichtet "epd Medien", hier zu lesen bei "Welt-Sichten". Darunter waren der Meldung nach 34 Palästinenser, vier Israelis und ein Libanese.
+++ Cornelius Pollmer hat mit dem "Focus"-Kolumnisten Jan Fleischhauer für die "Süddeutsche Zeitung" darüber gesprochen, warum er jetzt doch kein Unterhaltungsformat bei "Nius" moderieren wird. Kurz zusammengefasst: Weil der Apokalyptiker Julian Reichelt im Hintergrund alle Fäden hält. Fleischhauer: "Reichelt ist bei Nius die dominierende Figur, und da habe ich gesagt: Wenn das so bleibt, dann kann ich bei euch nicht anfangen. Ich habe nichts gegen Herrn Reichelt persönlich, nur ist es nicht meine Art von Journalismus." Laut Fleischhauer hat aus ungefähr diesem Grund kürzlich auch Jan David Sutthoff als "Nius"-Chefredakteur in den Sack gehauen.
+++ Giovanni di Lorenzo hat für die aktuelle Ausgabe der "Zeit" mit Thomas Gottschalk laut Teaser über die Kunst des Reagierens, Lieblingsgäste, die nicht mehr kommen, und zwanghaftes Lustigsein gesprochen, im Grunde geht es aber vor allem um Gottschalks Eitelkeit. Gleich zu Beginn erinnert der "Zeit"-Chefredakteur daran, wie er vor Jahren versucht hatte, auf einem Empfang mit Gottschalk zu sprechen, der aber erst nicht geantwortet habe – offenbar, weil außer di Lorenzo niemand zuhörte. In der Folge erzählt Gottschalk, wie er sich geärgert hat, als der damalige ZDF-Intendant Dieter Stolte ihn nicht grüßte und Hans-Joachim Kulenkampff ihn nicht gebührend behandelte. Er offenbart die Sorge, dass Giovanni Zarella ihm die Show stehlen könnte, und er verrät, dass Michelle Hunziker in der letzten "Wetten, dass…"-Sendung nicht dabei ist, weil ihr Management erreichen wollte, dass sie nicht mehr nur bei Bedarf angesprochen wird, sondern eigene Moderationstexte bekommt. Stefan Niggemeier fasst es bei X so zusammen: "Das Beste am Gespräch mit Thomas Gottschalk ist Giovanni di Lorenzo."
+++ Ein von der ARD in Auftrag gebenes Gutachten bescheinigt dem Sender, dem Land einen Geldsegen zu bescheren. Laut dem Institut WifOR hat die Anstalt im vergangenen Jahr rund acht Milliarden Euro zur Bruttowertschöpfung beigetragen und allein die Kreaktivwirtschaft mit 2,4 Milliarden Euro stimuliert, das meldet die ARD selbst. Nicht ganz klar ist, ob in den Beträgen auch die 60.000 Euro enthalten sind, die das Gutachten gekostet hat, wie Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite berichtet. Falls nicht, müsste man die noch schnell dazurechnen, denn auch sie stimulieren natürlich, wenn man so will, die deutsche Beratungswirtschaft.
+++ Die "New York Times" meldet über zehn Millionen Abos, bis 2027 will sie 15 Millionen erreichen. Und um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie die Bedeutung der Papierzeitung sich entwickelt: 9,4 Millionen Menschen haben ein Digitalabo, 670.000 Menschen beziehen die Zeitung auf Papier. Allein im vergangenen Jahr ist die Zahl um 70.000 Papierabos gesunken.
Das Altpapier am Freitag schreibt Johanna Bernklau.