Kolumne: Das Altpapier am 6. November 2023 Es gibt keine Hoffnung, aber …
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06. November 2023, 13:04 Uhr
Warum die Entwicklung von X in gewisser Weise konsequent ist. Warum die Devise "Sagen, was ist" ständig scheitern muss. Warum das Dokudrama "Ich bin! Margot Friedländer" ein Fernseh-Ereignis ist. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- Globale Online-Informationsbörse in Flammen
- Eine unterirdische Umfrage von Radio Bremen
- Wahrheit ist keine Frage des Handwerks
- Eine Verneigung vor Margot Friedländer
- Ein wünschenswert hellsichtiger Kommentar
- Altpapierkorb (RBB-Staatsvertrag unterzeichnet, ARD-Team von israelischen Soldaten angegriffen, Redakteur der "Waiblinger Kreiszeitung" bedroht, "Geo Epoche"-Chefredakteur geehrt)
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Globale Online-Informationsbörse in Flammen
An Texten über den Untergang der sozialen Medien mangelt es gewiss nicht, und insofern ist es nachvollziehbar, dass Michael Moorstedt in seiner heutigen "Netzkolumne" für die SZ die schnippische Formulierung "Man hat es sich ganz gut eingerichtet in der Dystopie" untergebracht hat. Er bezieht sich unter anderem auf diesen Artikel aus dem "New Yorker". Dass jene, die sich "gut eingerichtet" haben, den einen oder anderen Punkt haben, bestreitet Moorstedt allerdings nicht.
Zu einem Zeitpunkt, als die SZ-Kolumne vermutlich schon fertig war, veröffentlichte die FAS einen in den größeren Kontext passenden Beitrag über einen Zombie:
"X (…) ist ein Untoter, ein langsam vor sich hin rottender, gefährlicher Schatten seines früheren Selbst",
schreibt dort die Londoner ARD-Korrespondentin Annette Dittert. Einer der aktuellen Anlässe für ihren Gastbeitrag:
"Als 'heavy user' suchte auch ich nach dem 7. Oktober dort instinktiv nach dem alten Twitter. Ich habe mich selten so hilflos und desorientiert erlebt. Die Möglichkeit, sich gesichert zu verständigen, die einmal kurz aufgeblitzt war, war im Nachhinein nicht mehr als das: ein flüchtiger Moment. Während in der Realität gleichzeitig die scheinbar verlässliche und übersichtliche Nachkriegsordnung zunehmend zerfällt, steht nun auch die globale Online-Informationsbörse in Flammen. Eine beklemmende Parallelität."
Ein weiterer Befund:
"Die faktische Wahrheit ist nicht nur in der Politik keine Währung mehr, sie wird auch für den Erfolg einer Onlineplattform mittelfristig kaum mehr nötig sein, so das Kalkül. Für Musk ist es nicht wichtig, ob das, was auf X steht, wirklich stimmt. Im Gegenteil: Brutalität, Konfrontation und Konfusion ziehen die User womöglich tiefer und nachhaltiger in den Strudel seiner virtuellen Welt. Der Troll selbst hat den Laden gekauft, und so sieht der dann eben auch aus."
Wenn man sich anschaut, wie gering der Stellenwert der "faktischen Wahrheit" "in der Politik" im Laufe dieses Jahres in Deutschlands geworden ist - zunächst vor allem beim Thema Energiepolitik, jetzt (wieder) bei der Migrationspolitik -, dann passt die Entwicklung von X natürlich sehr gut in diese Zeit. Für Politiker zahlreicher Parteien ist es daher auch der ideale Tummelplatz. "Für Menschen wie mich, die noch an Aufklärung und objektive Wahrheiten glauben" (Dittert), ist es dagegen "als Plattform (…) vollkommen unbenutzbar geworden". Dennoch postet Dittert weiterhin bei X (Disclosure: Das Altpapier tut es auch, ich selbst nutze es nicht mehr).
Den Optimismus bezüglich eines anderen sozialen Netzwerks dämpft Dittert übrigens:
"Wer sagt uns denn, ob Jack Dorsey mit Bluesky am Ende nicht wieder dasselbe macht wie zuvor mit Twitter, es nämlich an einen anderen Zyniker verkauft, genug davon gibt es ja im Silicon Valley."
Schließlich prognostiziert die Autorin eine weitere Fragmentierung dessen, was bisher die sozialen Medien waren:
"Am Ende werden sich viele kleine Echokammern öffnen, zwischen denen man endlos hin- und herziehen kann wie zwischen sehr großen Whatsapp-Gruppen."
Eine unterirdische Umfrage von Radio Bremen
Im Ersten läuft heute der Dokumentarfilm "Loriot 100" (siehe dazu etwa "Süddeutsche Zeitung" und "Kölnische Rundschau"). Co-produziert hat ihn Loriots einstiger Haussender Radio Bremen, und da der sonst bei aufmerksamkeitsökomomisch starken Produktionen eher selten im Spiel ist, ist das natürlich ein guter Anlass für ein Porträt des Programmdirektors Jan Weyrauch. Senta Krasser hat es für dwdl.de gemacht.
"Radio Bremen ist für diese Region genauso wichtig wie Werder Bremen. Wir sind nur nicht so abstiegsgefährdet",
sagt Weyrauch (dessen Beinahe-Kandidatur für den Intendantenposten beim RBB natürlich auch ein Thema ist) ihr gegenüber.
Um den Fußball-Bezug des Programmdirektors aufzugreifen: Ein paar Klassen unter der Bundesliga sind eine Umfrage des RB-Regionalmagazins "buten un binnen" zur Migrationspolitik und ein Beitrag dazu anzusiedeln. Amina Klute (taz) meint jedenfalls, die Umfrage (hier ein Ausschnitt)
"(sei) schlicht nicht mit dem Programmauftrag der Öffentlich-Rechtlichen vereinbar. Einige Fragen sind suggestiv ('Auf einer Skala von 0 bis 10: Wie groß ist Ihre Sorge über mögliche Folgen der Migration?'), andere wollen menschenrechtsverletzende Forderungen ('keine Bargeldauszahlungen', 'EU-Außengrenzen schützen' oder 'konsequenter Abschieben') bewertet sehen oder suggerieren, dass Abschiebungen begrüßenswert seien ('Wie gelingt aus Ihrer Sicht in Bremen die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern und Asylbewerberinnen?')"
Eine "klaffende Leerstelle" in der Berichterstattung sieht die taz-Autorin auch, weil "Geflüchtete, Migrant*innen und migrantisierte Menschen selbst" nicht zu Wort kämen.
Dass sich immer leicht ein possierlicher Experte findet lässt, dem die Geflüchtetenfeindlichkeit des ÖRR noch nicht ausgeprägt genug ist, zeigt der bei Ippen interviewte "Prof. Dr. Jürgen W. Falter (Universität Mainz)". "Probleme wie die unkontrollierte Migration kleinzureden, ist Wasser auf die Mühlen von Pegida und AfD", sagt Falter. Höhepunkt des Beitrags (neben der Formulierung, Falter sei "einer der bekanntesten Politikwissenschaftler Deutschlands") ist diese Äußerung:
"ARD und ZDF arbeiten offen gegen die Mehrheitsmeinung und versuchen diese zu ändern. Das hat etwas Bevormundendes. So fällt die Häufung von Sendungen über vegane Ernährung auf."
Falter, altes Schlachthaus! Wir können Sie beruhigen. ARD und ZDF wollen Ihnen nicht Ihr Schnitzel wegnehmen.
Wahrheit ist keine Frage des Handwerks
Dass sich gestern Rudolf Augsteins Geburtstag zum 100. Mal jährte (Altpapier), nimmt Harald Staun zum Anlass, die aktuelle Ausgabe seiner FAS-Kolumne "Die lieben Kollegen" komplett dem berühmten Augstein-Ausspruch "Sagen, was ist" zu widmen:
"Ist das, 'was ist', (…) die Wahrheit? Man könnte sicher ganze Seminararbeiten zur Hermeneutik von Augsteins Formel schreiben, vielleicht hat er damit wirklich, im Sinne der Heidegger’schen Ontologie, das Sein gemeint, nicht das Seiende. Als Auftrag für einen Journalismus, für den der 'Spiegel' steht, zielt die Formel aber fast immer nur auf die Ermittlung von 'Fakten' ab statt auf komplexe Zusammenhänge, auf Richtigkeit statt auf Wahrhaftigkeit. Sie impliziert, dass Wahrheit in erster Linie eine Frage des Handwerks ist, nie eine der Begriffe. Deshalb muss die Devise ständig scheitern."
Und Michael Hanfeld wirft auf der heutigen FAZ-Medienseite einen Blick auf das, was der "Spiegel" selbst anlässlich des runden Jahrestags produziert hat:
"Mit dem Nachlass von Rudolf Augstein haben sich (…) der frühere stellvertretende Chefredakteur des 'Spiegel', Martin Doerry, und der langjährige Chef der 'Spiegel'-Dokumentation, Hauke Janssen, beschäftigt. Was sie aus dem, wie es heißt, meistenteils ungeordneten Material in 'rund 2000 Aktenordnern'" zu Augstein destilliert haben, fügt dem öffentlichen Bild des 'Spiegel'-Gründers, der zu Lebzeiten kräftig an der Legende des 'Journalisten des Jahrhunderts' mitschrieb, wichtige Facetten hinzu. So lesen wir, dass Augstein in jungen Jahren dem NS-Regime keineswegs so skeptisch gegenüberstand, wie er es im Nachhinein erscheinen ließ."
Eine Verneigung vor Margot Friedländer
Während Loriot am 12. November und Rudolf Augstein gestern 100 Jahre hätten alt werden können, ist die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer am Sonntag 102 Jahre alt geworden. Am Dienstag zeigt das ZDF zur, wie man früher mal sagte: besten Sendezeit, den Film "Ich bin! Margot Friedländer", der, wie die "Süddeutsche Zeitung" schreibt,
"an die Novemberpogrome erinnern (will), die am 9. November vor nunmehr 85 Jahren im Deutschen Reich stattfanden und all dem Morden, das folgen würde, den Weg bereiteten. Zugleich ist der Film eine Verneigung vor Margot Friedländer, dieser so lebendigen Zeitzeugin".
Die SZ nimmt das ZDF-Dokudrama zum Anlass für ein Friedländer-Porträt. Hören wir hier ein leichtes Aufstöhnen in der Leserschaft wegen des Begriffs Dokudrama?
"Wer bezweifelt, dass diese Hybridform ihr ganz besonderes Eigenleben besitzen kann, wird hier eines Besseren belehrt",
schreibt dazu Barbara Sichtermann in einer Rezension für "epd medien" (noch nicht online). Sie lässt keinen Zweifel daran, dass wir es bei "Ich bin! Margot Friedländer" mit einem Fernseh-Ereignis zu tun haben:
"Dass der Mensch Margot Friedländer hier und heute immer noch anwesend ist, mit wachem Geist und bezauberndem Antlitz, erscheint wie ein Zeichen, dass Hoffnung immer sein dürfe. Es ist das außerordentliche Verdienst von Raymond Ley und seinem Team, dieses Antlitz, diese Frau und ihre Geschichte durch die Filmkunst für uns und die Zukunft bewahrt zu haben."
Um das von Sichtermann genannte Stichwort Hoffnung noch einmal aufzugreifen: Johanna Adorjan lässt ihr Friedländer-Porträt in der SZ so ausklingen:
"Glaubt Margot Friedländer daran, dass der Mensch lernen kann? Ist sie optimistisch, dass sich schließlich alles zum Besseren entwickelt? 'Nein.' Ihre Antwort kommt schnell. 'Nein. Leider nicht. Ich habe das gehofft, aber ich glaube es nicht.’ Und warum macht sie das dann alles? Warum geht sie immer noch, mit über hundert Jahren, an Schulen, redet vor Klassen, vor Politikern, hat jetzt an diesem Film mitgewirkt, gibt Interviews? Sie guckt einen lange an. Und sagt dann: 'Man muss es doch wenigstens versuchen.'"
Ein wünschenswert hellsichtiger Kommentar
Um an Adorjan und Friedländer anzudocken: Dass es derzeit keinen Grund gibt, darauf zu hoffen, "dass sich schließlich alles zum Besseren entwickelt", verdeutlicht ein Beitrag, der unter der Überschrift "Die etablierten Parteien verrichten das Werk der AfD" im "Politischen Feuilleton" von Deutschlandfunk Kultur erschienen ist. Der Autor des Beitrags ist Bijan Moini, Leiter des Legal Teams der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Es ist ein für öffentlich-rechtliche Verhältnisse erfreulich hellsichtiger Kommentar, aber es ist auch bezeichnend, dass er nicht von einem regelmäßigen journalistischen Mitarbeiter von DLF Kultur stammt, sondern von einem Juristen. Moini meint:
"Es tut weh, aber feststellen muss ich es trotzdem: Die AfD ist die erfolgreichste Oppositionspartei der neueren deutschen Geschichte. Ohne je an einer Regierung beteiligt gewesen zu sein oder auch nur ein einziges einschlägiges Gesetz mitverantwortet zu haben, kommt sie ihrem wichtigsten Ziel jeden Tag ein wenig näher: Biodeutschland. Ihr Werk verrichten andere für sie. Ganz ohne Zuckerbrot und ohne Blick für die Alternativen lassen sich die Spitzen von Union und FDP, von SPD und auch den Grünen in ein Land peitschen, das sich kalt und unwirtlich anfühlt (…) Der ganze irrationale Aktionismus um die Begrenzung von Migration schürt (…) nur Feindbilder (…)"
Wie gesagt: Der Kommentar ist lobenswert. Ich glaube aber, dass man Parteien oder Politiker grundsätzlich unterschätzt, wenn man den Eindruck erweckt, diese würden Entscheidungen nicht aus Überzeugung treffen, sondern sich von anderen dazu treiben oder gar, wie es in diesem Kommentar heißt, "peitschen" lassen.
Altpapierkorb (RBB-Staatsvertrag unterzeichnet, ARD-Team von israelischen Soldaten angegriffen, Redakteur der "Waiblinger Kreiszeitung" bedroht, "Geo Epoche"-Chefredakteur geehrt)
+++ Wie ist der Stand in Sachen neuer RBB-Staatsvertrag (siehe zuletzt Altpapier von Donnerstag)? "Die Regierungschefs von Brandenburg und Berlin, Dietmar Woidke und Kai Wegner, haben am Freitag den novellierten RBB-Staatsvertrag unterzeichnet. Im jetzt folgenden parlamentarischen Verfahren sind keine Änderungen mehr möglich. Die Parlamente können das Gesetz nur ganz annehmen oder ablehnen" - so steigt Helmut Hartung in seinen Text für die FAZ ein. Weitere Reaktionen auf die Entscheidung finden sich in der SZ und im "Tagesspiegel".
+++ Dass "ein Team der ARD im palästinensischen Westjordanland von Soldaten des israelischen Militärs (IDF) festgehalten und bedroht worden" sei, berichtet tagesschau.de. "Nach Angaben des ARD-Studios Tel Aviv (…) war Korrespondent Jan-Christoph Kitzler mit einem palästinensischen Mitarbeiter sowie einer deutschen Mitarbeiterin bereits auf dem Rückweg von einem Interview, als sie von israelischen Soldaten südlich der palästinensischen Stadt Hebron gestoppt wurden. Wie Kitzler berichtet und Handyvideos des Teams belegen, verhielten sich die Soldaten gegenüber dem ARD-Team überaus aggressiv." Laut Christian Limpert, Leiter des ARD-Studios in Tel Aviv, "ist es der zweite Vorfall innerhalb einer Woche".
+++ Über die Bedrohung, der sich Alexander Roth, Redakteur beim Zeitungsverlag Waiblingen ("Waiblinger Kreiszeitung" u.a.), jeden Tag ausgesetzt sieht, schreibt die taz auf Basis einer Langzeitbeoabachtung. "Als er 2022 einen Lokaljournalistenpreis gewinnt, muss die Preisverleihung unter hohen Sicherheitsvorkehrungen stattfinden: Geheimhaltung der Örtlichkeit und Polizeischutz mit Bombenspürhunden. Das Ausloten, welche Sicherheitsvorkehrungen zu treffen sind, kostet Zeit. In der Vorbereitung auf die Preisverleihung habe er eine Arbeitswoche in die Sicherheitsplanung investiert, sagt Roth." Wie ist das zu erklären? "Seit dem ersten Jahr der Pandemie berichtet der junge Journalist (…) über die Querdenker im Raum Stuttgart und deren Verstrickungen mit der lokalen Reichsbürgerszene – genauer, ausdauernder, profunder schreibt bundesweit kaum jemand zu diesen Themen." Roth, auf dessen Bedrohungslage wir auch im Altpapier schon einige Male eingegangen sind, ist übrigens 33 Jahre alt. Ob man da noch von "jung" sprechen kann, ist eine andere Frage.
+++ Jochen Telgenbüscher, dessen Einsatz dazu beitrug, dass die untere seiner Leitung stehende und zeitweilig von der Einstellung bedrohte Zeitschrift "Geo Epoche" weiterhin erscheint, ist mit dem Himmel-Preis der Organisation Freischreiber ausgezeichnet worden. Der Hölle-Preis ging an jenen Zeitgenossen, der dafür verantwortlich ist, dass Telgenbüscher überhaupt für den Erhalt seines Magazins kämpfen musste.
Das Altpapier am Dienstag schreibt Christian Bartels.