Kolumne: Das Altpapier am 30. Oktober 2023 Was ist gefährlicher: Kaffee oder Instagram?
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30. Oktober 2023, 10:32 Uhr
Die Klage von 41 US-Staaten gegen den Konzern Meta ist vielleicht kein "frivolous claim", aber ob sie Erfolg hat, wird sich zeigen. Heute kommentiert Jenni Zylka die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Bier bringt Heiterkeit
Hierzulande ist man ja immer bass erstaunt (und auch ein kleines bisschen neidisch) darüber, wie schnell und wozu in den USA geklagt wird: 1991 hatte jemand den Bierhersteller Anheuser-Busch auf 10 000$ verklagt, weil in den Anzeigen des Unternehmens die magische Fähigkeit von Bier dargestellt würde, "schönen Frauen und Männern in malerischen tropischen Umgebungen zu ermöglichen, endlose und uneingeschränkte Heiterkeit auszuüben", und das hätte sich doch tatsächlich als "unwahr" herausgestellt! (Die Klage wurde fallengelassen. Dabei hätte ich zumindest für den Teil mit der uneingeschränkten Heiterkeit durchaus eine Chance gesehen.)
Ein Jahr später gewann die US-Amerikanerin Stella Liebeck den berühmten Fall des verschütteten Kaffees: Weil sie sich einen Becher der ohnehin ekeligen McDonalds-Brühe auf die Jogginghose anstatt in den Rachen geschüttet und dadurch schlimme Verbrennungen erlitten hatte, schafften ihre Anwälte und Anwältinnen es, zu beweisen, dass die Fast Food-Kette seinen Kaffee bei viel zu heißen 85° einschenkt, und dass man trotz bereits einiger Verbrennungsfälle auch nicht vorhabe, das zu ändern. Liebeck ging (beziehungsweise hinkte, nach einem längeren Krankenhausaufenthalt) am Ende mit ungefähr 640 000 $ Schmerzensgeld und Strafschadenersatz nach Hause, der Fall wurde später in einem Dokumentarfilm mit dem nicht besonders fantasievollen, aber ziemlich passenden Titel "Hot Coffee" verewigt.
Dass jemand McDonalds verklagte, weil er nach dem Konsum des Happy Meals nach wie vor depressiv blieb, ist allerdings ein Hoax. Aber ein ganz schöner.
Jedenfalls: Bei der aktuellen Klage von 41 US-Bundesstaaten gegen den Facebook- und Instagram-Mutter-Konzern Meta wegen Gefährdung der mentalen Gesundheit von Kindern, hier ist ein kostenpflichtiger New York Times-Artikel dazu, wird man vermutlich nicht von so genannten "frivolous claims", also ungerechtfertigten Schadensersatzklagen sprechen, hier ist, wie die Zeit den Fall darstellt:
"Die Bundesstaaten werfen dem Konzern vor, seine Onlinedienste 'auf manipulative Weise so zu gestalten, dass Kinder abhängig werden und zugleich an Selbstwertgefühl verlieren'. Die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen erreiche 'Negativrekorde', sagte die Generalstaatsanwältin von New York, Letitia James, 'und daran sind auch die Onlinedienste schuld.' Dem Konzern werfen sie auch Täuschung vor: Er habe nicht über die 'erheblichen Gefahren' seiner Onlinedienste aufgeklärt, um seinen Gewinn zu maximieren. In der Klage wird das Bundesgericht aufgefordert, Meta dazu zu bringen, 'manipulative Taktiken' einzustellen, eine hohe Geldstrafe sowie Entschädigungen zu zahlen."
Manipulative Onlinedienste
Das Unternehmen wies das selbstredend zurück, was soll es auch anderes machen, und pochte entrüstet auf mehr als 30 Maßnahmen, die Jugendliche und ihre Eltern dabei unterstützen sollten, nicht zu viel zu konsumieren – zum Beispiel Aufforderungen an junge Nutzerinnen und Nutzer, Pausen einzulegen. Was ja meiner privatistischen Einschätzung nach ungefähr soviel bringt, wie diese kleinen, hoffentlich nicht 85° heißen Kaffee-Piktogramme, die bei neuen Autos mit digitalen Armaturenbrettern (da merkt man wie alt ich bin – "neue Autos" mit "digitalen Armaturenbrettern", tztztz, ist ja fast so dated wie Merkels Neuland….) den Fahrer oder die Fahrerin von zu langem Fahren mit gefährlicher Ermüdung bewahren sollen. Als ich noch öfter "neue" Leihautos fahren musste, dachte ich immer, ein Piktogramm mit einem Champagnerglas wäre vermutlich effektiver. Jedenfalls hatte in Sachen US-States vs Meta eine Whistleblowerin und ehemalige Facebook-Angestellte 2021 interne Dokumente zugänglich gemacht, aus denen hervorging, dass, so die Zeit:
"…der Konzern Gesundheitsrisiken für Kinder mit Blick auf die eigenen Gewinne bewusst in Kauf genommen hatte. Facebook unternehme nichts, um schädliche Inhalte zu entfernen, warf sie ihrem ehemaligen Arbeitgeber vor. Das Unternehmen weist auch ihre Vorwürfe zurück. Laut einem Bericht des Arztes und Leiters des öffentlichen Gesundheitsdiensts der USA, Vivek Murthy, lassen sich Symptome von Depressionen und Ernährungsstörungen vor allem bei Mädchen mit der Nutzung von Onlinediensten in Verbindung bringen."
Hochspannend an der ganzen Geschichte sind mehrere Elemente. Zunächst: Was bringt eine solche Klage? Kann man das Kind überhaupt wieder aus dem Brunnen pulen, oder wie realistisch ist es, dass in einer Welt, deren Informationsaustausch mittlerweile von Social Media abhängig ist, Schutzbefohlenen ab jetzt kollektiv beigebracht wird, Facebook und Instagram (und nicht TikTok, wohlgemerkt, die gehören ja nicht zu Meta) hätten das Gefahrenpotenzial von Drogen? Und dürften nur von alten Leuten benutzt werden? Mal abgesehen davon, dass das ja bei Facebook eh schon der Fall ist? Und was gibt man den Kindern stattdessen an die Hand? Holzeisenbahnen, mit denen sie Messages hin- und herfahren?
Social Media und Essstörungen
Zweitens würde ich als jemand, der auch im Jugendmedienschutz aktiv ist, immer dafür plädieren, dass man nicht bei der von einem Medium beziehungsweise Medieninhalt ausgehenden Gefahr, sondern auf der Konsumenten –und Komsumentinnenseite, also der Stärkung der Medienkompetenz ansetzen muss. Der Zusammenhang zwischen Depressionen, Ernährungsstörungen (gemeint sind natürlich durch zu viel Vergleichen und das Zur-Schau-Stellen von unrealistischen, manipulierten Körperbildern ausgelöste Essstörungen wie Bulimie und Anorexie) und der Nutzung von Onlinediensten ist schon lange sicher hergestellt, und wurde hinlänglich erforscht, zum Beispiel in dieser Studie von 2012, und hier 2019 in einer Studie der Ruhr-Universität Bochum. 2020 erschien dazu dieses Fachbuch der Pädagogin Jacqueline Ammer mit dem Titel "Social Media und die Entstehung von Essstörungen bei jungen Frauen. Schönheitsideale auf Facebook und Instagram", in dem es unter anderem heißt:
"Für ein gesundes Selbstwertgefühl sind letztendlich Faktoren, wie ein positives Körperselbst, eine Übereinstimmung zwischen Körperbild und Körperbau, sowie die soziale Anerkennung und eine gelungene Identitätsfindung wichtig (Daszkowki, 2003, S. 12). Das Selbstwertgefühl kann allerdings anhand gesellschaftlicher bzw. medialer Beeinflussungen, beispielsweise durch medienkonstruierte Körperideale, gesenkt werden. Eine dadurch entstehende Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper kann zu psychischen Problemen, aber auch zu gesundheitsschädigenden Maßnahmen führen. Dabei werden auch Essstörungen und restriktives Essverhalten als mögliche Folgen genannt."
Das ist also längst so ziemlich bewiesen – in den USA genau wie hier. Richtig etwas dagegen unternommen wurde dennoch bislang nichts. So eine Klage kann jedoch die Sensibilität gegenüber den Gefahren stärken und das Problembewusstsein in der Gesellschaft verankern, und ist insofern erstmal nicht verkehrt. Und es ist eh ein Drama, dass die letzte Staffel der großartigen Serie "The Good Fight" schon gelaufen ist – ich hätte zu gern gesehen, wie eine solche Klage und ihr Ausgang von den fiktiven Spitzen-Anwälten und -Anwältinnen aufgenommen, analysiert, erklärt und parodiert würde.
Fehlende Distanzierung zu Insta-Bildern?
Ein dritter und letzter Gedanke, und ein hoffentlich nicht zu sehr hinkender Vergleich aus der Filmrezeption: Früher fürchteten sich junge Medienkonsumenten und -konsumentinnen mehr vor klassischen Horrorfilmen als heute – selbstredend schaffen es besonders subtile und gut gemachte moderne Filme immer noch, minderjährigen Zuschauern und Zuschauerinnen einen Schrecken einzujagen oder bei ihnen für einen gewissen Zeitraum Angst auszulösen (was beides nicht so schlimm sein muss, wenn es nicht nachhaltig ist). Doch die viel medienkompetenteren Kids von heute erkennen alte Effekte und dürftige CGI drei Meter gegen den Wind, und so können selbst 12-Jährige bei diesem hübschen Trailer zu Jack Arnolds B-Movie "Tarantula" vermutlich nur kichern. Schließlich ist jedes Game gruseliger als die alberne Riesenspinne, sie wirkt einfach nicht wie eine echte Gefahr, die Immersion hält sich in Grenzen.
Ähnliches könnte sich doch auch in Sachen Körperbilder entwickeln: Weil mittlerweile jede Instagram-Userin und jeder Instagram-User weiß, welche Filter benutzt werden, um der "medienkonstruierten", unrealistischen Körper- oder Gesichtsnorm zu entsprechen, könnte sich nicht auch da langsam eine gesunde Distanzierung einstellen, die die Erkenntnis mit sich bringt, etwas derartig Unrealistisches nicht weiter ernst zu nehmen?
Aber vermutlich ist das Thema Körper und Körpervergleiche schlichtweg zu komplex. Außerdem sind wir Menschen seit Beginn der Zeit darauf trainiert, andere Körper wahrzunehmen und aufgrund ihrer Erscheinung auf den Zustand des Körperbesitzers zu schließen. Dazu nochmal ein interessanter Ausschnitt aus dem oben genannten Sachbuch über Social Media und Essstörungen, in dem es um die Konstruktion der "Identität" geht:
"Die Bedeutung, die der Körper in der Identität des Einzelnen trägt, hat sich im Laufe der Zeit verändert. Mittlerweile wird der Körper in seiner Bedeutung als Ausdrucksmittel für das Selbst in einer Person als Element der Identität verstanden, welches gestaltet werden kann und muss. (…) Selbstwahrnehmung, Selbstempfinden und Selbstgefühl sind zudem Grundlagen für das Selbstwertgefühl."
In anderen Worten: Man muss sich mit seinem Körper beschäftigen, mit Ängsten vor trashigen alten Gruselfilmen, die auf evolutionär bedingte (und ja durchaus sinnvolle) Ängste vor Rieseninsekten zurückgehen, nicht unbedingt. Schade eigentlich.
Altpapierkorb ( Fernsehversorgung, Bettina Böttinger und Thomas Schadt)
+++ Ab nächsten Sommer wird der Fernsehempfang generell nicht mehr über die Miete abgerechnet, manche Anbieter stellen sogar schon ab 1.1. 2024 um, berichtet der Tagesspiegel hier. Man wird sich also selbst kümmern müssen – welche Auswirkungen das auf den sinkenden linearen Fernsehkonsum hat, wird sich zeigen.
+++ 730.000 Zuschauerinnen und Zuschauer schauten am Freitagabend die letzte Sendung Kölner Treff mit Bettina Böttinger, berichtet der Spiegel nur ein kleines bisschen wehmütig.
+++ Die Deutsche Kinemathek zeigt ab Anfang November Dokumentarfilme des Regisseurs Thomas Schadt, hier ist die Ankündigung. Er beschäftigte sich zum Beispiel im Jahr 1984 mit dem brandneuen Phänomen des "Computerfiebers": Im gleichnamigen Film behaupten zwei Männer, die vor ihren riesengroßen und schneckenlangsamen Kästen sitzen, dass Frauen generell ein Problem mit der Objektivität der Geräte haben. 1986 besuchte Schadt die beeindruckend geföhnte Metalband Darxon im Übungsraum mit Spiegel, 1998 begleitete er einen gewohnt leutseligen Gerhard Schröder, 1997 stapft er mit Donald Trump durch einen sich noch im Bau befindlichen Skyscraper an der "Wallstreet 40", und hört zu, wie der spätere Katastrophenpräsident von den Fahrstühlen schwärmt. Das sind absurde, großartige nicht nur Menschen- sondern auch Medien-Dokumente.
Das nächste Altpapier kommt am Mittwoch von Christian Bartels (da das Altpapier im Landesfunkhaus Thüringen veröffentlicht wird, in dem morgen gesetzlicher Feiertag ist).