Das Altpapier am 27. Oktober 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 27. Oktober 2023 Glückwunsch, Radio

27. Oktober 2023, 11:04 Uhr

Das Massenmedium wird am Wochenende 100 und ist noch immer nicht wegzudenken (auch wenn Albert Einstein 1930 einmal irrte). Digitalradio-Fragen bleiben kompliziert. Die analoge Ultrakurzwelle wird bis tief in die 2030er Jahre weiter rundfunken. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Die Öffentlich-Rechtlichen feiern das Radio

Hm, darf man Glückwünsche ganz leicht im Voraus aussprechen? Na ja, das Radio wird nicht ausgerechnet am 28. Oktober schlapp machen, bevor am Sonntag, dem 29. Oktober 2023, nun aber wirklich sein 100. Geburtstag stattfindet. Daher kulminieren nun all die Würdigungen zum rundesten Geburtstag (diesen schönen Superlativ schöpfte das RBB-Kulturradio fürs Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester, das aus demselben Grund dasselbe Jubiläum begeht) in sämtlichen Medienformen.

Die ARD-Mediathek bietet etwa die "History"-Doku "100 Jahre Radio – Deutschland on Air", eine "flotte und mit der Zeitgeschichte kurzgeschlossene Mischung aus O-Tönen und Musikschnipseln" ("Tagesspiegel"). An Eigenwerbung für derzeitige ARD-Radios mangelt es auch nicht, auch wenn die Passagen über das Hamburger Popradio NDR 2 schön entlarvend geraten sind. Wer lieber liest: Die jüngste Ausgabe des Branchendiensts "epd medien" enthält zwei längere Texte. Das so schwere wie preiswerte Buch der Bundeszentrale für Politische Bildung war hier neulich schon empfohlen.

Vor allem in Berlin, von wo vor hundert Jahren minus zwei Tagen das erste regelmäßige deutsche Radioprogramm begann, hagelt es Veranstaltungen. Nur zum Beispiel steigt am morgigen Samstag eine "Medienmagazin Spezial"-Ausgabe im Haus des Rundfunks im Kleinen Sendesaal – und im Radio. Thema: "aktuelle und künftige Herausforderungen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk"! Wohingegen am Sonntag im Großen Sendesaal (und im Radio) Max Goldt liest. "Radio kommt in einem oder zwei Texten durchaus vor", sagt der Dichter im Vorabinterview des RBB, doch werde "Die Radiotrinkerin" wohl nicht zum Vortrag gelangen. 

Der Podcast mit dem pfiffigen Titel "Radio macht Geschichte" und noch viel mehr Angebote finden sich auf der nur beinahe endlos nach unten scrollbaren ardkultur.de-Themenseite. Die Radio-Feierlichkeiten und erst recht Versuche, Überblick darüber zu bieten, zeigen halt auch, dass die ARD sehr, sehr viele Angebote und Überschneidungen bietet.

Private und Freie Radios feiern auch

Dabei feiert auch das private Radio. Exemplarisch sei der vom Musikgeschmack her sympathische Privatsender FluxFM genannt, dem das Radio auch "eine Herzensangelegenheit" ist. Hier kann, wer möchte, seine "liebste Radiogeschichte" online aufnehmen oder sich Lieder "mit 'Radio' im Titel" wünschen. Vielleicht ist Platz, drauf hinzuweisen, dass die UKW-Frequenz 100,6, auf der FluxFM in Berlin sendet, auch schon eine längere Geschichte hat. Sie gab einem frühen Privatradio den Namen, das anfangs einem der Filmemacher-Brüder Schamoni (aber nicht Rocko ...) und später über den nicht unumstrittenen Journalisten Georg Gafron und Thomas Kirch zum Einflussbereich des sehr ehemaligen Medienmoguls Leo Kirch gehörte. Anfang des laufenden Jahrtausends wurden seine Nachrichtensendungen zeitweilig bei der ebenfalls sehr ehemaligen "Netzeitung" aufgenommen, bei der nebenan frühmorgens das Altpapier entstand ...

Und weil Radio echt vielfältig ist und auch jenseits des Dualen Systems (für Jüngere: überkommener Begriff fürs Neben- oder Miteinander öffentlich-rechtlicher und privatwirtschaftlicher Anbieter) stattfindet, sei außerdem aufs "zweitägige Sonderprogramm der deutschsprachigen Freien Radios" hingewiesen. Da merkt man schon den Überschriften ("Über emanzipatorischen Dissens und eine Demokratisierung der Öffentlichkeit"), dass keine Scheu vor Komplexität herrscht, die sich aber auch in fröhlichen Wortspielen ("Von Frequenzbesitzern und Frequenzbesetzern") äußert:

"Die Angst, die bis dato unbekannte technische Reichweite des Radios könne staats­feindliche oder gar revolutionäre Pro­zesse unterstützen, war in Deutschland von Beginn an besonders ausgeprägt. Das Selbstverständnis andererseits, den Rundfunk für die eigenen partei­politischen Ziele zu nutzen, prägte die Rundfunkpolitik bis weit in die BRD hinein und blitzt auch in den heutigen medienpolitischen Debatten immer wieder auf. Und die in den 1980ern durchgesetzte Privatisierung des Rund­funksystems öffnete kommerziellem Privatfernsehen und Formatradio Tür und Tor. Doch gleichzeitig war und ist Radio immer auch ein Mittel zur Artikulation von emanzipatorischem Dissens ..."

Auch diese Freien Radios also senden am Wochenende ein spezielles Jubiläums-Programm, das (jedoch ohne Jetzt-schon-in-der-Mediathek-Servicecharakter) hier zu finden ist. Eine Liste mit den Webseiten und selbstredend Livestreams von Radios zwischen Flensburg, Freudenstadt und Zittau findet sich unten drunter. Radio Dreyeckland aus Freiburg, das aus aktuellen und medienrechtlich brisanten Gründen oft im Altpapier vorkam, zählt auch dazu.

Die frühen Radio-Weggefährten Einstein und Bredow

Bisschen nüchterne Einschätzungen liegen ebenfalls vor. Da wäre etwa Steffen Grimbergs "Radio hat Geburtstag, tralalalala!" aus der "taz" neulich zu nennen, und unter Überblicks-Aspekten der Beitrag der heise.de-Reihe "Zahlen, bitte!" zu empfehlen.

"Auch wenn das Internet ihm im Hinblick auf Relevanz und Aktualität den Rang abläuft – der Rundfunk ist aus der heutigen Medienlandschaft nicht mehr wegzudenken",

hält Detlef Borchers den Ball flach. Außerdem weist er darauf hin, dass es mehrere Radio-Jubiläen gibt, da die erste Sondersendung schon zu Weihnachten vor (fast) 103 Jahren stattfand. Fun-facts wie der, dass gleich der fünfte Satz, der im regulären Radioprogramm gesprochen wurde, "Die Benutzung ist genehmigungspflichtig" lautete, und der, dass die Gebühr (die damals noch nicht Beitrag hieß) anfangs 350 Milliarden Mark im Monat betrug, weil das Jahr 1923 mit seiner Hyperinflation wirtschaftshistorisch fast noch denkwürdiger als medienhistorisch war, finden sich in vielen Rückblicken. Aber der, dass der Start am 29. Oktober eigentlich noch gar nicht vorgesehen war, es jedoch 1923 noch echtes Deutschlandtempo gab?

"Am Vormittag des 29. Oktober kam der Herr Staatssekretär Dr. Bredow zur Besichtigung. Überraschenderweise orderte er die Aufnahme eines programmäßigen Betriebes bereits vom gleichen Tag ab an. Nun galt es, in aller Eile eine Vortragsfolge aufzustellen und die für den Abend nötigen Künstler heranzuziehen."

Von Hans Bredow, der als Namenspatron eines der zahlreichen Medienpreise ja noch geläufig ist, könnten die zahlreichen Staatssekretäre der Gegenwart sich eine Scheibe abschneiden. Albert Einsteins Funkausstellungs-Eröffnungsrede von 1930 wird vielerorts reingesamplet; in der eingangs verlinkten "Deutschland On Air"-Doku erklingt sie noch vor Herbert Zimmermanns "Toor, Toor, Tooor", das in keiner zeithistorischen Doku fehlen darf. Dass "der große Denker", also Einstein, mit seinen schönen großen Worten "irrte", ist so oft nicht zu lesen – und könnte zur These führen, dass ganz neue Medienformen offenbar oft von euphorischen Fehleinschätzungen begleitet werden. Beim Internet und den "sozialen" Medien darin verhielt es sich ja anfangs ganz ähnlich ...

Wie es mit dem Radio weiter geht

Damit genug des Rückblicks. Wie neulich hier schon unter der Überschrift "100 Jahre und wie weiter?" anklang, hat das Radio eine Zukunft, über die freilich gerade jetzt gestritten wird.

Welche Geschmäcker die Kulturradio-Sender, von denen es historischen, technisch nicht mehr bedingten Gründen in vielen Bundesländern viele gibt, bedienen sollen – die, wie Hans Bredow sagen würde: verwöhnten der Kulturfreunde oder die, die niemand mehr wie Bredow "primitiv" nennen würde, von denen aber Marktforschungen nahelegen, dass sie die Einschaltquoten erhöhen – ist eine der Streitfragen. Darum ging's zuletzt vorgestern hier.

Ob das Internet, das alle Medienformen in sich aufnimmt, aber auch kannibalisiert, die führende Rolle bei der Verbreitung von Audio-Inhalten übernimmt, lautet eine andere Radio-Zukunftsfrage. Falls neben der Verbreitungsart Internet der Rundfunk, dessen rasche Verbreitung in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts das Radio erst zum nicht mehr wegzudenkenden Massenmedium machte, wichtig bleibt, lautet eine Anschlussfrage: in welcher Form? Schließlich wird vor allem in Deutschland ziemlich viel Radio seit Jahren doppelt gesendet, digital und analog. Dieses Simulcast-Verfahren kostet viel Geld und Energie, ist unter allen, die davon wissen, umstritten und sollte irgendwann aufhören.

Einerseits besitzt digitales Radio allerhand Vorteile, andererseits besitzen die Haushalte weiterhin mehr analoge als digitale Radiogeräte. Dritterseits können jede Menge Geräte Internet. Dem gerade auf den Münchener Medientagen vorgestellten "Digitalisierungsbericht Audio" der Landesmedienanstalten zufolge, nannte ein Drittel der Deutschen "bereits einen digitalen Empfangsweg als meistgenutzten Zugang zum Radioprogramm. Nur noch die Hälfte nennt UKW als bevorzugte Radioempfangsart". Wobei dieses "digital" sowohl spezielle Digitalradiogeräte als auch Internet einschließt, und der Privatsender-Verband Vaunet aus denselben Zahlen herausliest, "dass die UKW-Verbreitung nach wie vor mit großem Abstand der am meisten genutzte und präferierte Empfangsweg ist".

In dieser seit Jahren komplizierten Gemengelage hat die frisch gebackene Regierung Bayerns, in der die CSU mit den (durch Veröffentlichungen der "Süddeutschen" womöglich unfreiwillig gestärkten) Freien Wählern weiter koaliert, gerade eine Entscheidung getroffen. Die Gemengelage wird auf Jahre hinaus kompliziert bleiben: "UKW in Bayern bleibt bis 2035", meldet die "FAZ"-Medienseite. Beim analogen Radio stand in Bayern eine Abschaltung im Jahr 2030 zur Debatte. Nun steht fest, dass die Ultrakurzwelle ins zwölfte Jahrzehnt des Radios hineinreichen wird (und jetzt noch drauf hinzuweisen, dass die UKW zwar 1923 noch nicht im Spiel war, aber auch schon 1950 erfunden wurde, wäre wohl echt zu viel).


Altpapierkorb (Chatkontrolle entschärft, "Emma" vs. Böhmermann, gemeinnütziger Journalismus, Söder-Panther für Hayali)

+++ "Historische Einigung", jubelte der EU-Parlamentarier Patrick Breyer von der (selber historischen) Piratenpartei. Nicht ganz so euphorisch, aber zunächst zufrieden ist heise.de mit den Verbesserungen, die das EU-Parlament beim hoch umstrittenen Gesetz zur "Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern" bzw. zur Chatkontrolle erzielte: "Die geplanten Aufdeckungsanordnungen für elektronische Kommunikation, die besonders umstritten und mit einer umfassenden Chatkontrolle verknüpft waren, sollen demnach nur als Ultima Ratio möglich sein. Berichterstatter Javier Zarzalejos von der Fraktion der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) betonte am Donnerstag: 'Es gibt keine Massenüberwachung, keine Hintertüren und keine rechtlichen Schlupflöcher.'" +++ Ähnlich sieht's netzpolitik.org, das auch die Anhörung der inzwischen aus diversen Gründen umstrittenen zuständigen EU-Innenkommissarin Ylva Johansson verfolgte ("Im Rahmen der Verordnung habe sie sich drei Mal mit Microsoft, sechs Mal mit Google, drei Mal mit Twitter, drei Mal mit TikTok, ein Mal mit der ICANN, einmal mit Apple, einmal mit Amazon, zweimal mit Thorn und zweimal mit Brave getroffen"). +++

+++ "Emma bleibt mutig" steht auf den Titelblättern der traditionsreichen Frauenzeitschrift. Und tatsächlich kürte diese nun ZDF-Kabarettist Jan Böhmermann zum "Sexist Man Alive". "Nicht zu verwechseln ist die 'Auszeichnung' mit dem Award 'Sexiest Man Alive', den alljährlich das People Magazine vergibt", ergänzt die "Berliner Zeitung". +++

+++ "Sollte sich die Bundesregierung entscheiden, den Koalitionsvertrag nicht umzusetzen und den gemeinnützigen Journalismus zu ignorieren, wird sie einen neuen Keil zwischen die privilegierten Zentren und die vernachlässigten ländlichen Räume treiben, in denen kein Ersatz für wegbrechende Medien geschaffen werden kann", ruft David Schraven bei netzpolitik.org in den Wind (oder Kräften in der Bundesregierung, die sich vielleicht doch zuständig fühlen, zu). +++

+++ Beim Blauen Panther handelt es sich um den ehemaligen Bayerischen Fernsehpreis. Darüber, wer bei dieser Veranstaltung den Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten erhält, "entscheidet keine Jury oder ähnliches, sondern einzig und allein der bayerische Ministerpräsident, in dem Fall also Markus Söder. Dessen Wahl fiel in diesem Jahr - durchaus überraschend - auf die Journalistin und Moderatorin Dunja Hayali" (dwdl.de). Wird sie, wenn Söder erst Bundeskanzler ist, gar noch Steffen Seiberts Nachnachfolgerin als Regierungssprecher? +++

Das nächste Altpapier schreibt am Montag Jenni Zylka. Schönes Wochenende!

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