Das Altpapier am 25. Oktober 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 25. Oktober 2023 Im Angesicht lieber nicht

25. Oktober 2023, 10:40 Uhr

Ist es sinnvoll, dass Journalisten sich Terrorvideos stellvertretend für die Öffentlichkeit ansehen? Ein Problem des Journalismus: "vorgefasste Gefühlsmeinungen". Der RBB kann weiterhin nichts lange geheim halten. Der Bayerische Rundfunk bekommt viel kontroverse Aufmerksamkeit für seine Pressekonferenz. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Der Umgang mit brutalem Bildmaterial

Dem Publikum keine Informationen vorenthalten, und sei es aus noch so gut gemeinten Gründen – diese Ansicht vertrete ich hier öfter. Spätestens angesichts – oder eher: zum Glück nicht im Angesicht  – des 45-minütigen Videozusammenschnitts mit Bildmaterial vom Massaker der Hamas-Terroristen, der am Montag rund 150 internationalen Journalisten gezeigt wurde (AP gestern), muss präzisiert werden: Das kann nicht bedeuten, sämtliche verfügbaren Bilder der Öffentlichkeit als Bilder zeigen.

"Die Videos seien zu brutal, um sie der Öffentlichkeit direkt zu zeigen, aber zu wichtig für die Einordnung des Massakers, um sie ganz unter Verschluss zu halten",

zitiert die "taz" den israelischen Generalmajor Mickey Edelstein. Sowohl der Schutz des Publikums als auch der Würde der Opfer (die teilweise nicht ermordet, sondern verschleppt wurden) sowie ihrer Familien sprechen dafür. Auch wer sonst eher nicht zu "Bild"-Medien klickt, sich aber stark genug fühlt, das Gezeigte in Worten zu lesen, sollte diesen (auch in der "Bild"-kritischen "taz" verlinkten) bild.de-Artikel klicken. Co-Autor Björn Stritzel gehörte zu den 150 Zuschauern und berichtet über

"verstörende Aufnahmen von verbrannten Menschen, blutigen Kinderbetten, Frauen mit blutigen Hosen, die weggezerrt werden. Die Terroristen werfen Handgranaten in einen Bunker voller Menschen, ein Dutzend Leichen liegt engumschlungen in einem Raum".

Deutlich wird außerdem, wieviel Bildmaterial inzwischen durch die Omnipräsenz und Verfügbarkeit von Kameras entsteht. Das geschieht zum Teil zufällig; vielerorts sind Überwachungskameras installiert oder eingebaut. Das ist eine zum Teil perfide Strategie. Die Mörder waren mit Bodycams unterwegs (wie westliche Amokmörder sie ebenfalls benutzen, um Bewegtbilder in Egoshooter-Optik zu teilen). Das im bild.de-Artikel enthaltene Video zeigt keine Gewalttaten unmittelbar; dass die Menschen im Auto den Angriff nicht überlebt haben, wird bloß im Offkommentar gesagt. Zustande kam das Video als "Zusammenschnitt der Autokamera und von Bodycams der Angreifer". All das war

"Teil des perfiden Plans der Hamas ...: Israel mit dem Massaker zu einer Reaktion zu zwingen, die dann weltweit die antisemitischen Reflexe triggern, den Hass auf Juden nur vergrößern würde. Dafür setzen die Islamisten alle erdenklichen Propagandatechniken ein. Sie filmten sich bei ihrem entfesselten Morden, um den Schmerz der Hinterbliebenen zu vergrößern. Und um zu Hause damit prahlen zu können. Mörder, die sich selbst überführen – Solidarität, Mitgefühl mit den Opfern, möchte man meinen, müssten selbstverständlich sein. Tatsächlich passiert – auch – das Gegenteil. ...",

kommentiert Ariane Lemme wiederum in der "taz". Und schließt, dass es deshalb richtig ist, die Bilder nur Journalisten sozusagen als Stellvertretern der  Öffentlichkeit zu zeigen:

"So wird die Gefahr begrenzt, dass diese Bilder weiter instrumentalisiert werden. Und zugleich die Chance erhöht, dass die Wahrheit sich gegen die Gerüchte dennoch durchsetzen wird."

Höhere Ansprüche als den, die Chancen für die Wahrheit zu erhöhen, sollte sowieso niemand (mehr) stellen.

Der Umgang mit "gefühlter Wahrheit"

Im eben zitierten "taz"-Artikel geht's auch darum, dass "selbst renommierte Medien wie die BBC oder 'New York Times'" auf die Hamas-Strategie hereinfielen und ihre "vorschnelle Berichterstattung" zum angeblichen Angriff auf ein Krankenhaus zurücknehmen mussten. Also später, bei sowieso geringerer Aufmerksamkeit. Dass spektakuläre, oben platzierte oder als Eilmeldungen gepushte Nachrichten sich schneller und wesentlich weiter verbreiten als oft eher kleinlaut formulierte Richtigstellungen hinterher, gehört längst überall auch zur Strategie. In die Reihe renommierter Medien gehören auch öffentlich-rechtliche deutsche wie der Deutschlandfunk. Auch der hatte schnell und ganz ohne Was-wir-wissen-und-was-wir-nicht-wissen-Formeln rausposaunt, was die Hamas-Terroristen nahegelegt hatten (Altpapier).

Immerhin bemüht er sich, in seiner Mediensendung "@mediasres", dem Problem auf den Grund zu gehen und befragte dazu die Journalistin Esther Schapira. Die ehemalige Hessischer Rundfunk-Journalistin spricht von einem "nachrichtlichen Desaster" und einer "gefühlten Wahrheit in den Köpfen vieler Journalistin/nen" als Kern des Problems:

"Wenn ich nicht eine Grundskepsis mitbringe, dann lasse ich mich umso leichter manipulieren",

sagt sie etwa. Das verdient schon daher Aufmerksamkeit, weil Skepsis in vielen deutschen Diskursen geradezu schon zum Schimpfwort degradiert wurde. Schapiras Begriff "vorgefasste Gefühlsmeinung" sollte bitte in allen künftigen Debatten über Haltungsjournalismus vorkommen.

Um Antisemitismus-Fragen geht es ebenfalls. Außerdem rät Schapira, wenigstens so grundsätzlich vom "israelischen Verteidigungskrieg" zu sprechen wie seit vielen Monaten vom "russischen Angriffskrieg" gesprochen wird. Es lohnt, die knapp neun Minuten anzuhören.

Beim RBB wird wieder geleakt

Ein Argument, das dafür spricht, so wenig wie möglich unter Verschluss zu halten, beschreibt die alte Redensart: Was verboten ist, macht gerade scharf. Wäre dasselbe nicht verboten, wäre es vielen eher egal. Nun hat Springers "Business Insider" (€) die Ergebnisse einer nicht komplett abgeschlossenen, weil teuren anwaltlichen Untersuchung zugespielt bekommen, um die der RBB (dessen frühere Verantwortliche sie beauftragten) und Brandenburgs Landtag einen Gerichtsstreit ausfechten (Altpapier).

Die Ergebnisse sind nicht ohne Brisanz, zeigt schon ein Ausriss, den RBB-"Medienmagazin"-Moderator Jörg Wagner auf Twitter/X teilte. Diverse in der Patricia-Schlesinger-Ära geschlossene Verträge könnten aus juristischer Sicht nichtig und/ oder sogar strafbar sein. Als prominentestes Beispiel dafür kann die Versorgung der Ex-Intendantin selbst dienen, von der der RBB inzwischen 270.000 Euro zurückfordert ("FAZ"). Für die Summe könnte die vergleichsweise preiswerte aktuelle RBB-Intendantin Ulrike Demmer mehr als ein Jahr lang finanziert werden.

Ob der jetzt also gescheiterte Versuch des aktuellen RBB, die Compliance-Untersuchungs-Ergebnisse sogar vor einem Parlament geheimzuhalten, ein cleverer Schachzug war, darüber kann nun ebenfalls gestritten werden. Was man dem RBB weiterhin lassen muss: Inzwischen haben die meisten Diskussionen mit und über ihn echt Substanz.

Über den BR wird kräftig diskutiert

Der andere Brennpunkt der Öffentlich-Rechtlichen-Debatten neben der Hauptstadtregion liegt derzeit in München und kreist insbesondere um die Kulturradio-Reformpläne des Bayerischen Rundfunks (vgl. zuletzt AP gestern). Gestern präsentierte die Landesrundfunkanstalt ihre Pläne fürs kommende Jahr.

"Das Laptop und Lederhose der CSU ist tatsächlich noch zu toppen. Der Bayerische Rundfunk verkauft sich jetzt als Digital und Dahoam ...",

postete der für Münchnerisches recht konkurrenzlose Dorin Popa mit Foto-Impressionen. Die Pressekonferenz zieht viel Medienmedien-Aufmerksamkeit auf sich. Der BR "macht sich ... ganz klein, ganz grau" zieht Aurelie von Blazekovic auf der "SZ"-Medienseite (€) unter den Unterüberschriften "Alles muss jetzt regional sein" bzw. "Wie sehr kann man sein Publikum unterschätzen?" kräftig vom Leder:

"Der BR sieht sich, den Eindruck wird man nicht los, selbst als eine Organisation von Großkopferten, die sich zu den 'einfachen Leuten' herunter beugen muss. Es ist herablassend, was der Sender über sein Publikum denkt ..."

Umso mehr dürfte sich Intendantin Katja Wildermuth, die zuvor ja Programmdirektorin beim MDR war, über die Überschrift freuen, die das Interview mit ihr auf der "FAZ"-Medienseite bekam. "Wir sparen nicht einen Cent bei der Kultur" lautet sie. U.a. entgegnet Wildermuth zur scharfen Kritik an den BR 2-Planungen:

"Im Radio wollen wir wertvolle Inhalte, die bisher am späten Abend oder am Wochenende in sogenannten Randzeiten gesendet worden sind, in die Primetime verlegen. In diesen Kernsendezeiten können die Kulturangebote von einem viel größeren, interessierten Publikum wahrgenommen werden, nach den Erkenntnissen unserer Medienforschung derzeit ein siebenmal größerer Hörerkreis."

Interviewer Helmut Hartung hakt nicht sehr lange nach, sondern stellt noch allerhand allgemeinere medienpolitische Fragen ("Greifen Sie mit 30 Regionalstudios und Büros nicht die regionalen bayerischen Verleger frontal an?"; Antwort-Spoiler: Nee, aus BR-Sicht natürlich auch nicht). Ausführliche frei verfügbare Fließtext-Berichte von der PK sind ebenfalls vorhanden. Laut dwdl.de gaben sich die BR-Spitzen

"... Mühe zu betonen, dass die Kulturreform im Hörfunk nicht von oben herab verordnet worden sei, sondern von der Belegschaft mitentwickelt wurde. ... 'Der BR ist die Kultur-Institution seit 75 Jahren. Uns ist es wichtig, diese starke Position nicht nur zu halten, sondern auszubauen und weiterzuentwickeln', so BR-Programmdirektor Björn Wilhelm. ... Man wolle Raum für Vertiefung, Debatte und Diskurs schaffen."

Am Bericht der Nachrichtenagentur epd könnte auch auffallen, wie oft das Trendwort Künstliche Intelligenz auftaucht, sowohl als Werkzeug, das beim Sparen und Noch-Besser-Werden helfe ("Mithilfe von KI suche man auf den BR-Kanälen nach konstruktiven Sachargumenten von Userinnen und Usern, die man dann in den eigenen Formaten aufnehme"), wie auch als etwas, gegen das der öffentlich-rechtliche Rundfunk Akzente setzt. Wiederum dwdl.de zitiert den schönen Satz "Der Mensch als Journalist wird niemals überflüssig sein" des BR-Programmdirektors Thomas Hinrichs.

Darüber ließe sich immerhin tatsächlich länger nachdenken. Hoffentlich macht der Mensch sich nicht nur als Journalist, sondern auch als Mensch niemals überflüssig.


Altpapierkorb (RTLs "Revenue Officer", tagesschau.de-Korrekturen, Chatkontrolle, Reporter ohne Grenzen & Microsoft)

+++ Blöde Anglizismen gibt es nicht nur, aber besonders doch im Medienbereich viele. Noch neu: der Titel "Chief Product & Revenue Officer", den RTL nun einführte. "Man wunderte sich vor Monaten, warum ein Ex-Medienmanager so vehement dafür eintrat, dass Gruner-Titel ruhig sterben sollten. Nun hat er einen neuen Job: bei Thomas Rabe und RTL News. Zufälle gibt‘s", postete "SZ"-Redakteurin Anna Ernst zu der Personalie. Einst arbeitete RTLs künftiger Einnahmen-Offizier auch bei der "Süddeutschen". +++

+++ Gut gefüllt ist die "Korrekturen"-Seite auf tagesschau.de. Doch würden die ohnehin nicht hohen "Erwartungen ... noch unterboten", schrieb Frederic Servatius bei uebermedien.de (Abo). +++

+++ Während die ursprünglich für morgen angesetzte Abstimmung im EU-Innenausschuss über das umstrittene Gesetz "zur Bekämpfung des sexuellen Kindesmissbrauchs" bzw. zur Chatkontrolle erneut, auf Mitte November verschoben wurde, findet ebendort heute eine Anhörung der zuständigen EU-Kommissarin Ylva Johansson statt. Die war zuletzt auch wegen einer gegen EU-Gesetze verstoßenden Werbekampagne auf X/ Twitter (Altpapier) in die Kritik geraten. Netzpolitik.org berichtet nicht bloß darüber, sondern beantwortet auch einen Offenen Brief Johanssons mit einem eigenen Brief. +++

+++ Ob die (internationalen) Reporter ohne Grenzen sich und dem Journalismus einen großen Gefallen tun, eine "Partnerschaft mit Microsoft", dem alles andere als unanfechtbaren Datenkraken, einzugehen, könnte man dann auch noch fragen. +++

Das nächste Altpapier schreibt am Donnerstag Ralf Heimann.

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