Kolumne: Das Altpapier am 23. Oktober 2023 Hier geht es nicht um Precht
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23. Oktober 2023, 09:53 Uhr
Sondern um das, was die Medien aus ihm machen. Und warum jeder personalisierten Journalismus irgendwie feiert. Heute kommentiert Johanna Bernklau die Medienberichterstattung und wirft einen Blick in die Kommunikationsforschung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Wo sind die Faktenchecks?
Bin ich die Einzige, die das nervt? Das, was man aus der politischen Berichterstattung schon lange kennt, trifft seit einiger Zeit auch die Medienmedienbranche: Personalisierung, Personalisierung, Personalisierung. Constantin Schreiber, von Stuckrad-Barre, Richard David Precht.
Letzterer verbreitete im Podcast "Lanz & Precht" mit Co-Host Markus Lanz ein antisemitisches Klischee und war in den kommenden Tagen Dauerthema auf "X" und in den journalistischen Medien.
Selbstverständlich ist es berechtigt und sogar dringend notwendig über antisemitische Vorurteile von einem Host eines der meistgehörten gesellschaftspolitischen Podcasts zu berichten. Und ja, im Zuge dessen muss man wohl oder übel auch über Precht berichten. So häufig, wie ich den Namen in den letzten Tagen gelesen habe, so gerne möchte ich ihn jetzt eigentlich nicht mehr erwähnen. Doch das ist das Dilemma der Medienkritik.
Hier und hier haben meine Altpapier-Kollegen bereits auf den ausführlichen Faktencheck vom Antisemitismus-Beauftragten und CDU-Politiker Michael Blume aus Baden-Württemberg verwiesen. Ich tue das jetzt auch nochmal, weil es ein wunderbares Beispiel dafür ist, wie Medien (nicht) funktionieren:
Blumes Beitrag und ein Bericht aus der "Süddeutschen Zeitung" (€), der den Faktencheck wiederum aufgreift, sind die einzigen auffindbaren Artikel, die sich ausführlich mit den Problemen der fragwürdigen Podcastfolge befassen, anstatt nur dieses eine Zitat und die Erklärung des ZDF zu wiederholen.
Die Leute wollen Namen, Gesichter, Menschen
Warum eigentlich? Faktenchecks sind offenbar nicht sexy genug. Die Leute wollen Namen, Gesichter, Menschen – sie wollen Personalisierung. Die Journalismus- und Kommunikationsforschung hat dazu schon so einige Forschung gemacht bzw. Theorien aufgestellt, die vor allem die politische oder ökonomische Berichterstattung betreffen. Aber sie passen auch auf den vorliegenden Fall Precht ganz schön.
Von der Nachrichtenwerttheorie hat vermutlich jeder Journalist schon einmal etwas gehört – je mehr Nachrichtenfaktoren auf eine Nachricht zutreffen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie von Redakteuren auch als solche publiziert wird.
Ein Faktor ist, surprise, Personalisierung. Mehrere Forschungen zu dem Thema konnten belegen, dass Journalisten Nachrichten als relevanter einschätzen, wenn sie Personen thematisieren – je bekannter die Personen sind, desto besser natürlich. Das schreiben Günter Bentele und Birte Fähnrich in diesem Fachbuch, das sich für eine weitergehende Lektüre zum Thema gut anbietet und auf dem auch die folgenden wissenschaftlichen Thesen fußen.
Wenn wir uns jetzt einmal das Beispiel "Lanz & Precht" ansehen, liegt der Witz ja schon im Namen. Beide Herren sind medienerfahren und wissen, wie das Personalisierungs-Business funktioniert. Sie wissen vermutlich auch, wie ihr Publikum funktioniert. Denn das schenkt lieber echten Menschen sein Vertrauen als anonymen Institutionen oder (noch schlimmer) dem öffentlich-rechtlich finanzierten ZDF. Noch dazu kennt man Prechts und Lanz’ Gesichter aus dem Fernsehen, ihre Stimmen aus dem Podcast. Dadurch wirken sie nahbar.
Wie viele Leute aktuell den Podcast von Lanz und Precht hören, ist schwierig herauszufinden. Er ist jedoch Stand heute auf Platz zwei der meistgehörten gesellschaftspolitischen Podcasts auf Spotify (nach "Ronzheimer" übrigens, der einen ebenso genialen Namen trägt und um den es in diesem Altpapier schon mal ging).
Konkrete Zahlen verrät Spotify leider nicht, im August letzten Jahres hatte "Lanz & Precht" rund 3,5 Millionen monatliche Zuhörer, auf YouTube hatte die kritikwürdige Folge von letzter Woche fast 800.000 Aufrufe – etwa 500.000 mehr als die übrigen Folgen. Kurzum: Der Reichweite der beiden hat das Ganze natürlich mal wieder nicht geschadet.
Das liegt an dem, was die Kommunikationsforschung unter Publikumsorientierung versteht: Medien vermenschlichen ihre Inhalte, weil es das Publikum (angeblich) so will. Personalisierung hat durchaus ihre Vorteile: Durch sie können Themen anschaulicher und weniger komplex vermittelt werden und bekommen mehr Aufmerksamkeit bei den Rezipienten als unpersönliche Sachverhalte. Obwohl ein trockener Faktencheck im Precht-Fall inhaltlich angemessener gewesen wäre, haben sich viele Medien dagegen entschieden – das Publikum möchte ja schließlich unterhalten werden.
Fokussierung auf Köpfe statt auf Probleme
Das Publikum möchte aber auch, dass Köpfe rollen. Und zwar nicht die von gesichtslosen Strukturen, sondern echte. Es ist im vorliegenden Fall zwar mehr als fair, Precht direkt zu kritisieren – schließlich ist er selbst schuld an seinem antisemitischen Klischee.
Das große Problem der Personalisierung allerdings bringt Marc Eisenegger im oben erwähnten Fachbuch gut auf den Punkt:
"Diese Personenfixierung hat letztlich zur Konsequenz, dass auf gesellschaftliche Krisen eher mit personalen Oberflächenreparaturen reagiert wird, anstatt mit tiefreichenden Systemveränderungen. Krisen werden mit dem Mittel des Köpferollens therapiert, anstatt die erforderlichen Systemreparaturen anzugehen."
Anstatt sich auf Richard David Precht zu fokussieren, wäre ein Fokus auf das Problem und dessen Lösung mal ganz nett. Die "erforderliche Systemreparatur" wäre in diesem Fall, die antisemitischen Vorurteile aus den Köpfen und Worten von Medienschaffenden zu bringen und eine bessere Überprüfung von Redaktionen einzufordern.
Altpapierkorb ("Spiegel"-Cover, TV-Kriegsberichterstattung, Medienkanäle auf WhatsApp, Twitter-Exit)
+++ Der "Spiegel" ist erneut mit einem polarisierenden Heft-Cover zum Thema Migration aufgefallen. Darauf zu sehen ist Scholz und ein Zitat von ihm: "Wir müssen endlich im großen Stil abschieben." Was nicht auf dem Titel steht: Das eigentliche Zitat Scholz’, das der "Spiegel" für sein Cover stark (und meiner Meinung nach Sinn entstellend) verkürzt hat: "Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben."
+++ Über die TV-Kriegsberichterstattung in Nahen Osten schreibt Andreas Bernard in der "Süddeutschen Zeitung" (€) und fragt, welche Live-Aufnahmen gezeigt werden sollten und inwiefern diese zum Verständnis der Geschehnisse beitragen würden.
+++ Die Tagesschau ist jetzt auf WhatsApp und verbreitet dort über einen eigenen Kanal die Nachrichten des Tages. Aktuell haben 197.000 Menschen den Kanal abonniert. Von den klassischen überregionalen Medien sind bis jetzt nur "Zeit" (24.000 Follower), "Bild" (23.500 Follower) und "Welt" (84.200 Follower) auf WhatsApp vertreten. Währenddessen setzen mehrere Lokalzeitungen auf die neue Möglichkeit, die Rezipienten noch näher im Alltag abzuholen, u.a. "Kölner Stadt-Anzeiger", "Weser-Kurier", "Schwarzwälder Bote", "Freie Presse".
+++ Das Hauptstadtstudio des Deutschlandfunk verlässt das ehemalige Twitter "angesichts der Entwicklungen auf dieser Plattform". Auf Bluesky ist es aktuell auch nicht zu finden. +++
Das Altpapier am Dienstag schreibt René Martens.