Das Altpapier am 16. Oktober 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 16. Oktober 2023 Manche Medienlogiken sind auch keine Lösung

16. Oktober 2023, 09:17 Uhr

Wie berichtet man angemessen über die AfD und populistische Parteien generell? Über eines sollten Medienschaffende jedenfalls mehr nachdenken: wie anfällig Medien selbst für Mechanismen des Populismus sind – für Dramatisierung, Komplexitätsreduktion und Konflikt? Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Die langjährige "Normalisierung"

Wenn der Journalismus noch einmal von vorne anfangen würde, bei einem weißen Blatt Papier: Was müsste man darauf schreiben? Worüber muss Journalismus informieren? Welche Rolle hat Journalismus bei der Meinungsbildung? Wen muss er kritisieren und kontrollieren, und wie geht das?

Klar ist: Journalistinnen und Journalisten müssen Fragen stellen, kritisieren, einordnen. Sonst können sie’s lassen. Die ZDF-Journalistin Nicole Diekmann hat am Wochenende von Leuten berichtet, die es "unverschämt" fänden, wenn Journalisten AfD-Chef Chrupalla in einer Pressekonferenz kritischen Fragen stellen. "Was haben die eigentlich für ein Verständnis von Presse?", fragt Diekmann. "Nächstes Mal erkundigen wir uns nach seinem Beautygeheimnis? Empfehlen ihm Ärzte? Oder was?"

Was für Journalistenohren allerdings ganz selbstverständlich klingt – dass man skeptisch ist und nicht einfach schluckt, was seltsam riecht –, ist nicht für alle Mediennutzerinnen und -nutzer gleichermaßen selbstverständlich. Das ist das Problem, das mit dem Erstarken des internationalen Rechtspopulismus über die Medien gekommen ist: Journalistinnen und Journalisten müssen nicht einmal etwas falsch machen. Um beschuldigt zu werden, schlecht zu arbeiten, reicht es schon, wenn sie etwas richtig machen.

Dem Journalismus sind in den vergangenen Jahren ein paar Gewissheiten abhanden gekommen. Da war zum Beispiel ein US-Präsident, dem man, weil er immerzu log, kein Wort glauben konnte, über dessen Worte man aber trotzdem berichten musste. Der Mann war gewählt. Schrieb man nicht über ihn, war das falsch, weil man seinen Job nicht machte und das Publikum annehmen durfte, es werde von "den Medien" etwas verschwiegen – genau wie der Präsident behauptete. Oder wie es in der Kommunikationswissenschaft heißt: "Man kann nicht nicht kommunizieren."

Schrieb man über ihn, musste man mit zum Teil unglaublichem Stuss arbeiten, der nie durch ein Fact-checking gekommen wäre. In dieser Situation, 2017, schrieb der New Yorker Journalismus-Professor Jay Rosen in seinem Blog "PressThink", wie Journalisten Donald Trumps Präsidentschaft normalisieren würden. Sie wüssten um seine fehlende Kompetenz, darum, dass er nicht lernwillig sei, nachweislich lüge und Menschen bedrohe und verletze. Aber sie hätten Respekt vor dem Wählerwillen und vor der Jobbeschreibung des White-House-Berichterstatters. "Was sie zu berichten haben, ruiniert das, was sie respektieren", schrieb Rosen. Den Konflikt, der dadurch entstehe, würden sie dadurch auflösen, dass sie über Trump berichten, als sei er irgendein weiterer Präsident. Das sei diese "Normalisierung".

"Die AfD kann ihre Feinde gut gebrauchen"

Sechs Jahre und viele hitzige auch fachinterne Debatten später wissen wir Journalistinnen und Journalisten, wie es besser geht. Aber vielleicht oft nur theoretisch. Das Dilemma, dass man selbst dann, wenn man alles richtig macht, eigentlich etwas falsch machen kann, bleibt. "Hilflosigkeit" im Umgang mit der AfD hat Aurelie von Blazekovic jedenfalls in der jüngsten Wahlberichterstattung beobachtet und schrieb für die Samstagsausgabe der "Süddeutschen Zeitung" einen essayistischen Text darüber. Das Gespräch von MDR-Moderator Lars Sänger mit dem Rechtsextremisten Björn Höcke (Altpapier), das sie unter dem Strich als missglückt beurteilt, ist darin ein Beispiel, genau wie das Interview des "Stern" mit AfD-Chefin Alice Weidel (Altpapier).

Was von Blazekovic aber auch thematisiert, ist, wie sie hochgeschreckt wurde durch die "ungewöhnliche Härte in der Stimme" der ARD-Journalistin Kerstin Palzer, als diese in der "Berliner Runde" dem AfD-Vertreter einmal das Wort entzog. Von Blazekovic schreibt:

"Die ausgeprägte Distanz mag man verstehen, sie zu demonstrieren, hat aber einen fatalen Effekt. Selbst beim arglosen Nebenbeizuschauer kann es den Impuls auslösen, man müsste den Geschäftsführer der AfD – ein Drittel ihrer Mitglieder gelten laut Verfassungsschutz als 'gesichert rechtsextrem', sie ist die zweitstärkste politische Kraft nun auch in Hessen und nur sehr knapp nicht in Bayern – in Schutz nehmen."

Vermutlich ist das so. Das ist eines der Probleme, denen Journalistinnen und Journalisten im Umgang mit der AfD nicht auskommen: Theoretisch mag alles über diese Partei bekannt sein, was man über sie wissen muss. Praktisch aber wird die AfD durch den Filter des Journalismus wahrgenommen, und das schadet der Partei nicht zwangsläufig. "In der ZDF-Satiresendung Die Anstalt wurde in dieser Woche eine Petition 'Prüft ein AfD-Verbot' beworben, das vom Anti-Fake-News-Blog 'Volksverpetzer' initiiert wurde. Da bleiben keine Haltungsfragen offen. Was es bringt, weiß niemand", schreibt von Blazekoviv. "Die AfD kann ihre Feinde gut gebrauchen, sie wandelt die Energie der Bekämpfung für ihre Zwecke um."

Wieder das Problem: Ohne den Filter des Journalismus geht es aber auch nicht. Es gibt eine von Journalismus autonome Öffentlichkeit, auch eine rechte bis sehr sehr weit rechte, der man nicht das Feld überlassen kann – zumal sie noch gespeist wird von Angeboten, die als journalistisch wahrgenommen werden, obwohl sie genau das tun, was sie anderen Redaktionen fälschlicherweise vorwerfen: verdrehen und lügen. (Den an dieser Stelle vor ein paar Tagen schon einmal verlinkten "Übermedien"-Text über das "Demagogen-Portal Nius" kann man in diesem Zusammenhang nur noch einmal empfehlen.)

Es ist aber natürlich auch nicht so, dass Medienschaffende keinen eigenen Beitrag leisten würden. Dazu zitiert von Blazekovic Paula Diehl, Kieler Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte: Die rechtspopulistische Logik füge sich perfekt in die Aufmerksamkeitslogik von Medien, sagt sie,

"im 'Drang zur Komplexitätsreduktion', in der Neigung zur Zuspitzung, Emotionalisierung und Personalisierung etwa. Populisten bieten, so Diehl, durch ihre Logik der Gegensätze "ein konfliktträchtiges Narrativ" für Medien. Es ist der Populismus der AfD, der Journalisten vor so große Probleme stellt, weil er sich so ähnlicher Mechanismen bedient wie sie."

Wollte man hier ansetzen, um einen angemessenen Umgang mit populistischen Parteien zu finden ("wollte" – das ist Irrealis), was würde das bedeuten? Um an René Martens’ Altpapier-Kolumne vom Freitag anzuschließen, in der er mit Georg Restle von der "sogenannten Migrationskrise" sprach: Wenn behauptet wird, es gebe eine Migrationskrise, müsste man erstmal hinterfragen, ob es denn wirklich eine gibt. In den "Tagesthemen" lief kürzlich zum Beispiel ein Beitrag über eine neue Unterkunft für Geflüchtete in einem norddeutschen Dorf, dessen Bewohner dagegen protestiert hatten. Dargestellt wurde das lokale Problem aber nur in seiner Eigenschaft als wahrgenommenes Problem. Worin es genau besteht, wurde nicht klar. Klar wurde: Die Unterkunft liegt mehrere Kilometer entfernt vom nächsten Supermarkt. So wurde die "Migrationskrise" durch ihre Thematisierung in der Wahrnehmung als Krise bekräftigt: Es gibt eine Krise, weil es doch Leute gibt, die das sagen.

Umgekehrt ist es journalistisch natürlich wichtig, dorthin zu schauen, wo eine Krisendarstellung verfängt. Um herauszufinden, aus welchen Gründen sie verfängt. Ob es gute Gründe sind. Aber auf einen Zug aufzuspringen, nur weil quasi alle anderen Medien ja auch darauf mitfahren, ist problematisch. Auch so kann aus einem politischen Thema dann ein in Umfragen besonders drängend scheinendes Thema werden – obwohl es vielleicht bei Licht besehen gar nicht wirklich drängend sein muss.

"Strukturelle Hysterie"

Etwas andere, aber doch verwandte Baustelle: "Journalistische Medien spitzen katastrophische Nachrichten noch weiter zu, und Social-Media-Algorithmen spielen diese immer wieder aus. Statt informiert fühlen Menschen sich immer öfter überwältigt und entmutigt." Das schreibt Christian Jakob in der "taz" und unterbreitet fünf Vorschläge, wie sich das ändern ließe. "Entdramatisieren statt zuspitzen" und nicht hysterisch berichten etwa. Und auch hier geht es exemplarisch um die Migrationsberichterstattung.

"Der Kulturwissenschaftler Werner Schiffauer hat an der Universität in Frankfurt (Oder) Mediendynamiken bei Migrationsthemen untersucht. Sobald eine größere Zeitung auf ein zugkräftiges Thema anspringe, kämen andere in Zugzwang, sagt er. 'Wir haben das auf Redaktionssitzungen beobachtet: Man kann dann nicht mehr nicht darüber berichten, und man kann nicht das Gleiche berichten.' Das Mindeste sei eine 'zusätzliche Facette'. Es sei sehr verführerisch, dass diese aus einer Dramatisierung bestehe. Unter keinen Umständen wollten Journalist:innen den Anschein erwecken, Sachverhalte zu verharmlosen. Also werde 'immer noch eins drauf dramatisiert', sagt Schiffauer. In dieser Logik gefangen, steigerten sich Medien in etwas hinein, was er 'strukturelle Hysterie' nennt."

Die falsche Behauptung vom "Genderzwang"

Wie es aussehen könnte, eine zusätzliche Facette hinzuzufügen, ohne zu dramatisieren; wahrgenommenen Problemen, Krisen, einer politischen Agenda nicht einfach hinterherzuberichten, sondern ihre Relevanz empirisch zu hinterfragen: Das hat Anne Haeming bei "Übermedien" (Abo) gezeigt. Indem sie einfach mal großflächig nachfragte, bei welchen Redaktionen es den so gern behaupteten "Genderzwang" gibt, der Medien und speziell den Öffentlich-Rechtlichen gerne vorgeworfen wird – auch von Redaktionen.

Ergebnis: Es gibt einen solchen Zwang natürlich nicht. Es gibt ein buntes Allerlei an Formen, viele Versuche, nicht ausschließend zu formulieren, aber keinerlei Einheitlichkeit, schon gar nicht in der Nutzung der so heftig kritisierten Gender-Sonderzeichen.

Wer "den Medien" einen "Genderzwang" unterstellt und nicht selber lachen muss, kann in der Mediennutzung eigentlich nicht breit aufgestellt sein. Man liest drei Artikel oder sieht drei Nachrichtensendungen und stellt in mindestens zwei fest: keine Gendersonderzeichen. Und das war auch noch nie anders. Wie schwer kann es sein, die eigenen Thesen zu hinterfragen, bevor man sie als Prämisse formuliert? Das wäre dieses berühmte "Sagen, was ist" – im Unterschied zu Ahnen oder Fühlen, was ist.

Mit Paula Diehl, der oben zitierten Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte, gedacht: Zur Medienlogik gehört es, zuzuspitzen, zu emotionalisieren, den Konflikt zu suchen. Das kann auf die Konten populistischer Parteien einzahlen.


Altpapierkorb (Hamas-Berichterstattung der BBC, Quellenlage im Nahostkonflikt, Richard David Precht, Beitragsservice)

+++ Die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen BBC über den Hamas-Überfall auf Israel und seine Folgen ist in Großbritannien ein großes Thema. Während die BBC, wie die "Süddeutsche" (Abo) heute schreibt, von einer palästinensischen Gruppe beschuldigt werde, "Zustimmung für Israels Kriegsverbrechen zu produzieren", wird sie von anderen vor allem dafür kritisiert, im Zusammenhang mit der Hamas nicht dezidiert von "Terroristen" zu sprechen, sondern Bezeichnungen wie 'militants' oder 'gunmen' zu verwenden. Die BBC verweist wohl auf ihre Richtlinien, in denen es heißt, das Wort "Terrorist" könne "eher ein Hindernis als eine Hilfe zum Verständnis sein (…). Wir sollten unserem Publikum die volle Tragweite der Tat vermitteln, indem wir beschreiben, was passiert ist. Wir sollten Wörter verwenden, die den Täter genau beschreiben, wie ,Bombenleger', ,Angreifer', ,Bewaffneter', ,Entführer', ,Aufständischer' und ,Kämpfer'. Wir sollten uns die Sprache anderer nicht zu eigen machen. Unsere Aufgabe ist es, objektiv zu bleiben und so zu berichten, dass unsere Zuhörer selbst beurteilen können, wer wem was antut." (Übersetzung der "SZ").

+++ Wie wichtig Genauigkeit in der Berichterstattung über einen Krieg oder anderen bewaffneten Konflikt ist, davon handelt Boris Rosenkranz’ "Übermedien"-Newsletter. Er schreibt über die Quellenlage für die kursierende Nachricht, von den Terroristen der Hamas seien Babys enthauptet worden: "Eine Meldung mit so emotionaler Heftigkeit und solcher Tragweite beeinflusst politisches Denken und Handeln, gerade bei einem so aufgeladenen Konflikt wie dem im Nahen Osten. Deshalb braucht es Fakten, um nicht möglicherweise Propaganda auf den Leim zu gehen, irgendwelchen Erfindungen, die womöglich absichtsvoll gestreut werden – zum Beispiel, um ein hartes Zurückschlagen zu rechtfertigen. Es ist nicht klar, ob es in diesem Fall so ist. Dass in Israel schlimme Dinge passieren, dass Jüdinnen und Juden ermordet werden, wofür die Hamas verantwortlich ist, steht außer Frage. Es ist dennoch wichtig, Äußerungen und Handlungen beider Seiten zu hinterfragen."

 +++ Was in Deutschland viel Aufmerksamkeit bekommt: ein Satz von Richard David Precht in seinem Podcast mit Markus Lanz über orthodoxe Juden. Diese, behauptete er, "dürfen gar nicht arbeiten, ein paar Sachen wie Diamantenhandel und Finanzgeschäfte ausgenommen", das sei "grundsätzlich von der Religion her untersagt". Markus Lanz widersprach nicht. So steht es zumindest in den Zusammenfassungen diverser Redaktionen, die sich damit befassen. Hätte er aber tun sollen. Von der israelischen Botschaft bis zur Deutsch-Israelischen Gesellschaft kam Kritik, die viele Medien aufgriffen und zumindest zum Teil die Aussagen klarstellten (etwa spiegel.de). Das ZDF hat den Podcast um die Passage gekürzt und eine Erklärung vorangestellt, die allerdings klarer hätte ausfallen und einen Fehler einfach als solchen benennen können: "Wir bedauern, dass eine Passage in der aktuellen Ausgabe von Lanz & Precht Kritik ausgelöst hat. An einer Stelle wurden komplexe Zusammenhänge verkürzt dargestellt, was missverständlich interpretiert werden konnte", heißt es. "Nicht zu lesen ist, dass das ZDF das Gesagte bedauert", schreibt dwdl.de. Precht hat eine Aufarbeitung im nächsten Podcast angekündigt. Griffig ist die Einordnung der "Jüdischen Allgemeinen": "Das ZDF und Richard David Precht haben versucht, sich für den Antisemitismus-Skandal um den TV-Philosophen zu entschuldigen."

+++ Die "FAZ" (Abo) beschrieb am Samstag ausführlich einen exemplarischen juristischen Streit um den Rundfunkbeitrag. Es ging um den erhobenen Beitrag für eine Nebenwohnung; dagegen klagte ein Paar und gewann der "FAZ" zufolge. "Wer in der Bürokratie des Beitragsservice zu früh die Waffen streckt, verliert. Oftmals unberechtigterweise. Erfolg braucht Ausdauer, gute Sprachkenntnisse und die finanziellen Mittel für einen Rechtsanwalt. Das kann nicht gerecht sein", so Jochen Zenthöfer.

+++ Wie Sachsen-Anhalts Staatskanzleichef Rainer Robra darauf komme, dass "fast 80 Prozent der Programmkosten der [öffentlich-rechtlichen] Sender (…) zuletzt in die überdurchschnittlich teuren Formate bei Sport und Unterhaltung" flossen, fragt Joachim Huber im "Tagesspiegel" und kommt selbst auf 24,8 Prozent.

Am Dienstag meldet sich an dieser Stelle Christian Bartels.

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