Das Altpapier am 9. Oktober 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 9. Oktober 2023 Orientierung und Verstehen

09. Oktober 2023, 11:01 Uhr

Die Hamas-Angriffe auf Israel werden mit "Brennpunkten" und "Spezials" breit aufgegriffen. Aber eine offene Frage ist: Ist die Nahost-Berichterstattung auch tief genug? Und: Bluesky sorgt für Diskussionen. Ist der neue Kurznachrichtendienst die Zukunft, und wenn ja, welche? Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Zur Nahostberichterstattung

Die ersten Hochrechnungen am gestrigen Wahlabend waren verlesen, die "Berliner Runde" hatte in der ARD getagt. Da kam noch ein weiterer "Brennpunkt", so wie beim ZDF kurz zuvor auch ein "Spezial" gesendet worden war. Aber nun ging es um die "Eskalation in Nahost". Die Frage, ob ARD und ZDF eine relevante Nachricht erkennen, wenn sie sie sehen, ist schon oft aufgebracht worden. Brand in Notre Dame, und die Öffentlich-Rechtlichen übertragen das geopolitisch minderrelevante Feuer nicht durchgehend? Gepennt. Ein Warlord rückt mit Söldnern auf Moskau vor? Da hätte man das Samstagvormittags-Kinderprogramm aber wirklich unterbrechen müssen! Was auffällt diesmal, da die Terrororganisation Hamas Israel angriff: dass diese Baustelle kaum bearbeitet wurde.

Dass das Fernsehen, speziell das öffentlich-rechtliche, die Relevanz in Israel nicht erkannt und einfach stur weiter Tierdokus oder Unterhaltung gesendet hätte, hat diesmal niemand behauptet. Na gut, fast niemand – die Ausstrahlung von "Verstehen Sie Spaß?" am Samstagabend wurde schon kritisiert. Und die Zusammenstellung der "Tagesschau" am Sonntag – erst Wahl, Wahl, Wahl, dann irgendwann Israel – auch. "Eine deutsche Selbstbezogenheit, die sprachlos macht", kritisierte der ehemalige SPD-Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhovel. Weltpolitisch war das auch nicht schlüssig, das hätte man anders entscheiden können. Die zwei "Tagesthemen"-Ausgaben machten es später am Sonntagabend besser: Erst lief ein Teaser zu den Wahlen, im Aufmacher ging es dann um Israel, erst danach ging es ausführlich um die Landtagswahlen.

Aber zusammengefasst: An "Brennpunkten", "Spezials" und auch "Newstimes" und "Aktuells" bei Sat.1 und RTL mangelte es nicht, wie das dem Fernsehen gegenüber faire Fernsehportal dwdl.de festhielt. Eine offene Frage ist aber, wie gut, also auch wie tief die Berichterstattung über den Terror der Hamas bislang war. (Offen heißt: Eine Antwort kann ich derzeit nicht geben; es ist wirklich eine Frage und nicht einmal eine rhetorische.) Führte die Berichterstattung auch zu Orientierung und Verstehen? Aus früheren Forschungen über Journalismus in anderen Krisensituationen ergibt sich, dass man das nicht als selbstverständlich betrachten kann. Das Schlagwort "Reporting more, informing less" (mehr Berichterstattung, weniger Information) geht auf eine Studie zurück, die sich mit der schwedischen Berichterstattung über den 11. September 2001 befasst hat.

Nadia Zaboura, Kommunikationswissenschaftlerin und Host des Medienpodcasts "Quoted" von "Süddeutsche Zeitung" und Civis, hat am Wochenende auf Forschung der FU Berlin zum Thema hingewiesen (wobei man dazu sagen muss: Es handelt sich nicht um eine tagesaktuelle Studie, sondern basiert auf der Beobachtung der Nahostberichterstattung über lange Zeit): Darin heißt es, die lange Dauer des Nahostkonflikts sorge für eine immer wiederkehrende Thematisierung, "sie bewirkt aber auch, dass gewalthaltige Ereignisse für sich stehen und nicht notwendigerweise kontextualisiert werden". Das Kernproblem sei die "Unterkomplexität der Berichterstattung". Die Analyse mündet in die rhetorische Frage: "Wie zielführend ist es (…) für ein Verständnis des Konflikts die Toten und Verletzten zu zählen?"

Man kann natürlich nicht mal eben einen Fernseh-Halbstünder aus dem Ärmel schütteln. Aber an solchen Zahlen fehlte es am Wochenende jedenfalls nicht.

Zur Diskussion über Bluesky

Alles in allem gab es am Wochenende nur wenige Themen, die von mehreren Medienressorts aufgegriffen wurden. Am ehesten war es Bluesky (siehe dazu auch ein Altpapier von vergangener Woche).

Die Debatte über das neue sog. soziale Netzwerk fühlt sich ein wenig an wie 2009, als Menschen in Breitcordhosen in ihre Papierfeuilletons hineinmeinten, Internet sei ein totaler Schmarrn. Was die da reden. Lauter Idioten. Und 2023 geht’s mit Bluesky nun noch einmal neu los. Nur ganz anders. 2023 werden nicht alle, die sich dort aufhalten, als jugendliche langhaarige Roflcopter mit Schnapsideen charakterisiert, die nicht wissen, wie ein Buch riecht, und ohne Vernunft alles Alte abräumen wollen. Nun wird die Diskussion über Bluesky – wie so viele Themen – direkt in einen eher rechten Diskurs eingespeist: Nun sind dort alle angeblich, na klar, links und damit ein weiterer zurechtkonstruierter Beleg für eine woke o.ä. Hegemonie:

"Verweilt man etwas länger an Bord, ist man seltsam gelangweilt. Irgendwie sind sich hier alle sehr einig. Ausserdem wird auffällig viel gewarnt. Vor allem vor unerwünschten Journalisten und Meinungsmachern, die es herüber schaffen könnten, und vor Elon Musk. Der gilt auf Bluesky und für viele Medienvertreter, die sich dort aufhalten, als das personifizierte Böse. (…) Hat man sich einmal durch den 'blauen Himmel' gescrollt, will man die App am liebsten geschlossen lassen."

Das schreibt die "Neue Zürcher Zeitung". Ob sie beim Einmaldurchscrollen die Tür zum Ende des Internets gefunden hat, bleibt leider offen. Wenn die "NZZ" allerdings zu einem Urteil über die angebliche Gleichgesinntheit und Blocktägigkeit "vieler Medienvertreter" kommt, sollte man vielleicht noch einmal genauer hinschauen; einen zweiten Blick hat sich die Redaktion mit vielen aufgeblasenen "Cancel-Culture"-, "Mainstreammedien"- und Anti-"Woke"-Takes redlich verdient. Hat "man" sich am Ende womöglich nur Accounts angeschaut, die in die These passen? Timelines sind schließlich nur so subjektiv schlecht, wie man sie selbst kuratiert hat.

Die These vom abgeschotteten Bluesky vertraten allerdings auch schon ein paar andere. Die elitäre Einladungspolitik trägt dazu bei – ohne Code derzeit kein Einlass. Aber problematisiert wird vor allem eine offensichtlich wahrgenommene Unter-sich-haftigkeit von Safe-Space-Fans. I’m not convinced, auch wenn es bei Bluesky Äußerungen in diese Richtung geht (aber einzelne Äußerungen findet man im Internet nun einmal immer, wenn man etwas zeigen will, und auch das Gegenteil). Die "taz", die die Kritik so nicht teilt, fasst sie so zusammen:

"Verschiedene Springer-Journalist*innen sehen in Bluesky bloß ein Antifa-Forum, auch die FAZ kommentiert, hier treffe sich nur 'die linke Blase' zum Abfeiern. Das Ganze führe dann wahlweise zur 'Spaltung der Gesellschaft’, dem 'Ende der Meinungsfreiheit' oder es rüttele an den 'Säulen der Demokratie'."

Dass es als Ende der Meinungsfreiheit verkauft wird, wenn Leute ein Netzwerk bevorzugen, auf dem man nicht derart von Boshaftigkeiten überrollt wird, wie zuletzt auf Twitter/X: Das ist natürlich Unsinn.

Das Problem ist wohl eher: Bluesky ist mit 1,45 Millionen Usern noch recht übersichtlich. Und vielleicht auch ein bisschen langweilig. Aber nicht weil nicht so viele Polarisierungsunternehmer da wären wie auf Twitter/X. Sondern weil viele tolle Leute aus aller Welt bislang wohl noch nicht mitmachen. Harald Staun nimmt diese nutzererlebnisnahe Perspektive in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" ein:

"Dass, wer sich nun auf Bluesky anmeldet, zunächst einmal auf einen kleinen, engen Freundeskreis zurückgeworfen wird, ist ganz unabhängig von der eigenen politischen Haltung eine frustrierende Erfahrung. Dass es ein Leben jenseits aller Blasen und Meinungen gibt, einen Reichtum an Ideen, Informationen, Themen, konnte auf Twitter jeder erleben, der ein wenig Arbeit ins Kuratieren seiner Timeline steckte. Nun fängt das ganze Spiel von vorne an."

Gewiss ist: Man kann streiten – zumindest über Bluesky. Martin Fehrensen, der auch im "Übermedien"-Podcast "Holger ruft an" befragt wurde, und Simon Hurtz vom "Social-Media-Watchblog" taten es in einem Pro und Contra in einem Mail-Briefing. Um hier den optimistischen Zugang von Fehrensen zu zitieren:

"Die App wird Twitter nicht ersetzen, sehr wohl aber ergänzen. Die Social-Media-Landschaft entwickelt sich weg von zentralen Apps, hin zu dezentralen Strukturen und Angeboten. Wenn wir in mehr als zehn Jahren Social Media Watchblog eines gelernt haben, dann das: Auch in der Nische lebt es sich gut. Was für Indie-Journalismus gilt, trifft auch auf Plattformen zu. Bluesky kann relevant werden und bleiben, ohne die gleiche Größe wie Twitter zu erreichen."

Einem Ort, an dem man sich austauschen kann und nicht gleich von Trollen niedergebrüllt wird, komme Bluesky jedenfalls näher als andere Plattformen, die er ausprobiert habe. Über die Nachteile und offenen Fragen, die Simon Hurtz zu Moderation, Finanzierung und Zukunft zurecht aufwirft, werden wir aber schon auch noch einiges lesen.


Altpapierkorb ("Welt"-Team bedroht, Malcolm Ohanwe, "Stern"-Preis, Caren Miosga)

+++ Kreise zog medial eine Demonstration in Berlin-Neukölln, bei der nach ihren Terroraktionen in Israel die Hamas gefeiert wurde. Ein Team des Fernsehsenders "Welt" soll dort auch bedroht worden sein: Man habe es "gezwungen (…), Bildaufnahmen zu löschen. Das Fernsehteam hatte vorher Passantinnen und Passanten interviewt und dabei zu ihrer Meinung zum Angriff der Hamas auf Israel befragt", schreibt dwdl.de. In der Berichterstattung der "Welt" selbst kommt auch Jörg Reichel zu Wort, Landesgeschäftsführer der Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union in der Gewerkschaft Verdi, der die Situation wie die Reporter schildert.

+++ Der Bayerische Rundfunk und Arte wollen sich nicht für den freien Mitarbeiter Malcolm Ohanwe in Haftung nehmen lassen, nachdem der in einem Tweet den Terror der Hamas gerechtfertigt hatte. Beide hätten die Zusammenarbeit mit ihm beendet, meldet unter anderem spiegel.de

+++ Die "Spiegel"-Geschichte über Julian Reichelt behält ihren "Stern"-Preis für die "Geschichte des Jahres", formerly known as Nannen-Preis. Das hätten Chefredaktion und Beirat des "Stern" entschieden, wie der Verlag Gruner + Jahr am Freitag mitteilte. Der Preisträger stand infrage, weil der "Spiegel" "kürzlich Veränderungen im Text vor- und eine Nachbemerkung aufnahm", wie es die "FAZ" formuliert. Ob dadurch die Geschichte infrage steht oder sich am Kern des Artikels nichts ändere, dazu vertraten Reichelts Anwalt und "Spiegel" selbstredend unterschiedliche Ansichten. Der "Stern" vertritt die Position, der Kern des Artikels werde von der Korrektur nicht berührt. "Laut Mitteilung war zudem ein wesentlicher Grund für die damalige Auszeichnung der Mut der Reporterinnen und Reporter, die Recherche zu veröffentlichen, obwohl ihr Arbeitgeber sie zu verhindern suchten - 'auch daran hat sich nichts geändert'" (tagesspiegel.de).

+++ Nach dem Abschied von Caren Miosga von den "Tagesthemen" (sueddeutsche.de, Agenturen…) übernimmt sie Anne Wills Platz als Sonntagstalkerin, mutmaßlich unter einem neuen Titel. Arbeitstitel: "Miosga" (tagesspiegel.de). Auf jeden Fall aber tut sie es mit einer neuen, wohl eigenen Produktionsfirma.

+++ Möglicherweise haben wir es am Freitag an dieser Stelle ein klein wenig übertrieben mit dem Soziologenjargon. "Wahrheitskrise zweiter Ordnung", "Allmählichkeitsschaden von Affektpolitik",  "Die polemische Technik der Antagonisierung" – und das waren nur die Zwischenüberschriften. Schön, dass die Onlineredaktion von spiegel.de es möglich macht, heute auch auf die Germanistik einzugehen. Sie hat sich den Preis für die "Kicker"-Überschrift des Wochenendes verdient. "Nagelsmann schraubt an der Hammer-Elf" stand am Freitagnachmittag über einem Fußballtext. Da kam der ganze journalistische Werkzeugkasten zum Einsatz.

Am Dienstag schreibt das Altpapier Christian Bartels.

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