Kolumne: Das Altpapier am 21. September 2023 Tödliche Dringlichkeit
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21. September 2023, 13:45 Uhr
Der herausragende Dokumentarfilm "Vergiss Meyn nicht", der dem im Hambacher Forst bei der Arbeit verunglückten Filmemacher Steffen Meyn gewidmet ist, wird erfreulich oft besprochen. Thomas Knüwer weist nach, dass Mathias Döpfner keine Ahnung von KI hat. Und Frank Plasberg wünscht sich Anstand. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Jenseitige Lebendigkeit
Am Dienstag jährte sich zum fünften Mal der Tod des Dokumentarfilmers Steffen Meyn. Er verunglückte, als er den sechsten Tag der Räumungsaktion im Hambacher Forst dokumentierte. Heute kommt "Vergiss Meyn nicht" in die Kinos, ein Dokumentarfilm von Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff, die mit Meyn an der Kunsthochschule für Medien in Köln studiert haben. Sie verwenden von ihm gedrehtes Material und kombinieren es mit reflexionstiefen Interviews mit Umweltaktivistinnen und Umweltaktivisten, die in den Baumhäusern im Hambacher Forst gelebt haben und mit dem Verstorbenen während dessen Filmarbeit in Kontakt gekommen waren.
In der jüngeren Vergangenheit ist ein deutscher Indie-Dokumentarfilm selten so ausführlich besprochen worden wie dieser, und das ist erfreulich, weil "Vergiss Meyn nicht" zu den herausragenden Werken in der jüngeren Geschichte des politischen Dokumentarfilms zählt.
Am Wochenende ging es im "Spiegel" (€) los, zu Wochenbeginn folgten das ND und Amnesty International, und direkt zum Start erschienen Texte - unter anderem - in der taz, der "Frankfurter Rundschau", der "Rheinischen Post" und bei mmm.verdi.de.
Wer über den Film noch nichts gehört hat, kann sich am besten vielleicht anhand dieser Passage aus Daniel Kothenschultes FR-Rezension ein Bild machen:
"Meyn, der sich zwar bei seinen Kameraeinsätzen meist als Journalist vorstellte, aber zugleich einen künstlerischen Ansatz verfolgte, hatte sich für seine Langzeitbeobachtung eine spezielle 360-Grad-Kamera gekauft. Man könnte mit dem Material auch eine virtuelle Installation herstellen, aber die drei haben sich für einen abendfüllenden Dokumentarfilm entschieden, der seit der Berlinale weltweit auf Festivals läuft. Er ist nicht nur das Selbstporträt eines toten Filmemachers. Er gibt auch eine seltene Innenansicht in eine faszinierende politische Subkultur. Die 360-Grad-Technik bietet in der Nachbearbeitung die Möglichkeit, darin buchstäblich einzutauchen wie in eine versunkene Welt. Man kann schwenken und Details hervorholen, was eine manchmal etwas unheimliche, jenseitige Lebendigkeit erzeugt."
Welche Rolle Meyn während der Besetzung des Waldes spielte, beschreibt Filmemacher Kilian Kuhlendahl gegenüber der "Aachener Zeitung" (€, Dienstagsausgabe) unter anderem folgendermaßen:
"Es ist ja so, dass Steffens Arbeit dazu da war, Polizeigewalt zu verhindern. Ursprünglich wollte er nur dokumentieren, aber es hat sich schnell herausgestellt, dass er die Aktivistinnen und Aktivisten aktiv schützen kann, wenn er offensichtlich und auffällig Journalismus betreibt."
Wobei man in diesem Kontext noch einmal an den "aus heutiger Sicht unfassbaren Übereinsatz von Polizei durch den noch immer amtierenden NRW-Innenminister Reul" erinnern muss, wie es Daniel Kothenschulte in der bereits erwähnten FR-Rezension tut.
Wenn man allzu viele Schlüsselszenen beschriebe, nähme man dem Film vielleicht zu viel von seiner Wirkung. Ich will mich daher auf eine beschränken. Tilmann P. Gangloff schreibt bei mmm.verdi.de:
"Seine letzte Aufnahme dokumentiert den tödlichen Sturz von einer Hängebrücke in gut fünfzehn Metern Höhe, als er die Position wechseln wollte, um einen besseren Blick auf die Räumungsaktion der Polizei zu haben."
In der Nacht zuvor hat sich Meyn unter einem Vorwand Zugang zum Wald verschafft - nachdem tags zuvor die Polizei das Gelände abgeschottet hatte, so dass Pressevertreter keinen Zugang zum Geschehen hatte. Die letzten Worte, die Meyn am Morgen seines Todestages direkt an sein Publikum spricht, lassen den Schluss zu, dass er zu diesem Zeitpunkt der einzige Medienvertreter vor Ort ist. Auch dieses (gefühlte oder tatsächliche) Alleinstellungsmerkmal dürfte zur Dynamik beigetragen haben, die eine Aktivistin im Film so beschreibt:
"In dieser Situation war das nicht eine Sache von Abschätzen, sondern es war die Akkumulation von so vielen Dingen, die gleichzeitig passiert sind: Diese Räumung hat stattgefunden, und es waren so viele Leute, die rumgewuselt sind und versucht haben, irgendwas zu tun. Seine Idee war: Meine Aufgabe ist es jetzt, hier zu filmen, deshalb ist er da rübergegangen."
Vermutlich hat Meyn also aufgrund der Dringlichkeit, eine unübersichtliche Situation zu dokumentieren und das zu zeigen, was andere nicht zeigen können, das Thema Sicherheit nicht mehr präsent gehabt.
Die Gesamturteile der Kritiker lauten unter anderem: "erhellender und bewegender Film über Menschen in der Revolte" ("Spiegel") und "kraftvoller und differenzierter Film" (taz). Eher mittelgut fand den Film dagegen die Kollegin oder der Kollege von KNA, die/der die Kritik in der "Rheinischen Post" geschrieben hat.
Döpfners Ahnungslosigkeit
Da gestern weltkindertagsbedingt kein Altpapier erschienen ist, gilt es heute noch auf einen im Laufe des Dienstags veröffentlichten Artikel einzugehen, in dem Thomas Knüwer nachweist, dass Mathias Döpnfer keine Ahnung von KI hat. Es geht um einen in der WamS erschienenen Artikel, der hier am Montag Thema war.
Knüwer schreibt dazu in seinem Blog "Indiskretion Ehrensache":
"Eigentlich könnte man über diesen Text schweigen, doch gibt es da ein Problem: Es existieren sehr viele Entscheiderinnen und Entscheider, die glauben, Döpfner sei kompetent in den Themen, über die er schreibt."
Diese Frage stelle ich mir so ähnlich beim Schreiben beinahe jeder Kolumne: Soll man Quatsch Quatsch nennen oder lieber ignorieren?
Das "ernste Problem" des "bemerkenswert inkonsistenten Traktats" sei, so Knüwer:
"Wie so viele Entscheiderinnen und Entscheider hat sich Döpfner nicht mit der Funktionsweise generativer KI beschäftigt oder er hat dies, ist aber intellektuell überfordert. Denn er schreibt: 'ChatGPT oder Bard sind Antwortmaschinen.' Nein. Sind sie nicht." Sondern: "Sie sind Wahrscheinlichkeitsmaschinen, die aufgrund der Erkenntnisse aus Daten, mit denen sie trainiert wurden, mit einer einzustellenden Wahrscheinlichkeit zu erahnen versuchen, welches Wortteil oder welcher Pixel als Nächster die ihnen gestellte Aufgabe am besten erfüllen könnte. Und das bedeutet eben auch, dass sie keinerlei Wissen im eigentlichen Sinne haben und man ihnen keine Fragen stellen sollte, um inhaltlich korrekte Antworten zu erhalten.Trotzdem kann man das natürlich machen und der menschliche Affekt ist es, dies zu tun, weil wir Eingabefelder direkt mit Google assoziieren. Aber: Es ist falsch zu glauben, dass Generative KI-Systeme über Wissen verfügen."
Haltung und Anstand
Als "ein Zwischenruf - und eine Lebensbilanz" ist ein Aufsatz von Frank Plasberg für die SZ-Medienseite (€) gelabelt, in dem er unter anderem zum Ausdruck bringt, dass ihm ein "unter Journalisten oft gebrauchte(s) Tugendwort" missfällt. Es geht, welch Wunder, um Haltung. Er schreibt:
"Haltung ersetzt keine Recherche."
Ein beliebter Schein-Gegensatz. Tatsächlich ist Haltung ja das Resultat von Recherche.
Was Plasberg auch schreibt:
Haltung zeigen, das ist für mich ein Platzhalter geworden, um die Grenzen zwischen Journalismus und Aktivismus aufzuweichen."
Tja, da hat der Frankie mal kurz auf den Formulierungs-Grabbeltisch gegriffen, und dann ist er durch offene Türen gesprintet. Aber mal im Ernst, liebe sehr geschätzte Kolleginnen bei der SZ: Man kann doch nicht "Lebensbilanz" drüber schreiben, wenn im Text etwas Hirnlahmes steht, was man ungefähr jeden Tag irgendwo lesen kann.
Als instruktive Entgegnung sei hier zitiert, was der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller (Princeton University) im April dieses Jahres schrieb:
"Rather than framing the issue as 'journalism versus activism,' a more useful distinction is that between reporting and advocacy (which is not the same as 'opinion journalism' offered by figures who routinely comment on all kinds of issues). Both practices have to rely on facts, and both ask their audiences to keep an open mind. While reporters’ primary emphasis is on informing, advocates focus on reforming."
Und, ganz wichtig:
"Dieses Ziel muss sie nicht davon abhalten, investigative Arbeit zu leisten - im Gegenteil, es ist oft das, was einer solchen Arbeit ihre Kraft verleiht."
Mit einer Passage in Plasbergs Text kann ich aber meinen Frieden machen:
"Für den Journalismus wie für jeden anderen Beruf mit gesellschaftlicher Wirkung sollte es doch reichen, statt Haltung Anstand zu zeigen."
Wüchse unter Journalistinnen und Journalisten der Anstand, hätte ich nix dagegen.
Warum redet niemand mehr über die Kieler NDR-Affäre?
In der kommenden Woche jährt sich zum ersten Mal die Strafversetzung von zwei damaligen Führungskräften des NDR-Funkhauses Kiel. Die Maßnahme war der Höhepunkt der Kieler NDR-Affäre. Funkhaus-Direktor Volker Thormählen begründete die Trennung bei einer Mitarbeitenden-Versammlung damals so:
"Hier sind ausweislich im Fernsehbereich Dinge geschehen, die nicht hinnehmbar sind. Kolleg*innen haben sich unter Druck gesetzt oder abgewertet gefühlt, sind eingeschüchtert worden."
Und: Zu oft seien "Widerspruch, kritische Haltung oder gegenteilige Meinungen abgebügelt oder nicht zugelassen worden". Dass Thormählen die, wie man in längst vergangenen Zeiten mal sagte: politische Verantwortung für das "nicht Hinnehmbare" hatte, blieb ohne Konsequenzen.
Eine zentrale Rolle in der Anfangsphase der Berichterstattung hatte - wie auch beim RBB-Skandal - der "Business Insider" gespielt, der Zugang zu vertraulichen Dokumenten einer NDR-Mitarbeitendenvertretung hatte. Die Kritik des Portals galt unter anderem einem nicht geführten Interview mit dem vom Ministerpräsidenten Daniel Günther (CDU) zum Rücktritt gedrängten Innenminister und Parteikollegen Hans-Joachim Grote.
Zum RBB-Skandal haben Medien in den vergangenen Wochen zahlreiche Nachbetrachtungen veröffentlicht, und sie bringen uns auch immer wieder über neue Entwicklungen auf den Stand: Die gerade abgetretene Interimsintendantin Katrin Vernau blickte in einem "Business Insider"-Interview zurück auf ihr Wirken im "Krisenjahr" nach dem Skandal und schrieb für die FAZ einen gefühlt meterlangen Gastartikel (Altpapier). Die SZ beschäftigte sich kürzlich in diesem Monat unter anderem mit der Verantwortung des weiterhin amtierenden RBB-Chefredakteurs (Altpapier) und in der vergangenen Woche mit den Auswirkungen des Skandals auf den künftigen RBB-Staatsvertrag (Altpapier). Und tagesaktuell berichtet zum Beispiel der "Tagesspiegel" über die gescheiterte Kündigungsschutzklage eines Mitglieds der früheren RBB-Nomenklatura.
Über die Kieler NDR-Affäre - zu einigen Aspekten siehe dieses ausführliche Altpapier - schreibt dagegen niemand mehr. Die Berichterstattung tröpfelte aus, nachdem der Sender im Dezember 2022 ein Gutachten der Firma Deloitte vorgestellt hatte. Intendant Joachim Knuth sagte damals, "der Vorwurf einer systematischen politischen Einflussnahme" habe sich nicht bestätigt. Daher könnten sich "die Norddeutschen darauf verlassen, dass im Landesfunkhaus Schleswig-Holstein unabhängig und nach nachvollziehbaren journalistischen Kriterien gearbeitet wird."
Seitdem steht ein großes Rätsel im … ja, es steht eben nicht im Raum, wie es sonst oft heißt, sondern eher in einer Abstellkammer der Öffentlichkeit: Wie konnten Journalistinnen und Journalisten "unabhängig" (Joachim Knuth) arbeiten, wenn sie doch, um Funkhausdirektors Volker Thormählens Wortwahl aus dem September 2022 aufzugreifen, "eingeschüchtert" und "unter Druck gesetzt" worden waren?
Was die externe Untersuchung von Deloitte ergeben hat, lässt sich nur bedingt überprüfen, denn: Der 55-seitige Bericht, in Auftrag gegeben vom Landesrundfunkrat Schleswig-Holstein, ist bis heute nicht veröffentlicht worden, lediglich eine Kurzversion ist für die Öffentlichkeit zugänglich.
Laura Pooth, die Vorsitzende des Landesrundfunkrats, sagt auf Nachfrage, dass es aus "persönlichkeitsrechtlichen Gründen" nur eine Kurzversion gebe. Die in dem Gutachten zitierten Mitarbeitenden des NDR würden zwar nicht namentlich genannt, sie seien "aber für alle erkennbar, die sich mit den dort behandelten Themen beschäftigt haben". Lediglich die elf Mitglieder des Landesrundfunkrats Schleswig-Holstein sowie der Intendant und die stellvertretende Intendantin hätten ein jeweils mit einem Namens-Wasserzeichen markiertes Exemplar bekommen.
Zumindest eine 14. Person verfügt über den Deloitte-Bericht: der Springer-Journalist Georg Altrogge, der im März 2023, also vier Monate nach der Vorstellung des Berichts, in der "Welt am Sonntag" schrieb er, er habe den kompletten Report "aus Politikkreisen exklusiv zugespielt" bekommen. Altrogge hat bei der Lektüre ein "Strickmuster" erkannt. "Oftmals", so sein "Eindruck", habe "das Dementi des Betroffenen zum 'Freispruch' beim Kernvorwurf" gereicht.
Ein hartes Urteil, das aber folgenlos blieb. Um es optimistisch zu wenden: Bis zum einjährigen Jahrestag der Veröffentlichung des Deloitte-Gutachtens ist es noch ein Vierteljahr hin, vielleicht setzt bis dahin ja noch jemand neue Aufarbeitungs-Akzente.
Altpapierkorb (im Ukraine-Krieg getötete Journalisten, Klimaberichterstattungskrise, 6.000 neue "Titanic"-Abonnenten, Verlinkungs-Verweigerer, Klara Indernach)
+++ "At least 15 media workers have been killed in Ukraine since Russia began its full-scale war in February 2022", konstatieren Kelly Bjorklund und Simon J. Smith in einem beim "Nieman Lab" erschienenen Text. Einige Opfer erwähnt der Artikel namentlich, darunter den ukrainischen Journalisten Bohdan Bitik, der "im April 2023 während seiner Berichterstattung für 'La Repubblica' in der Nähe von Cherson im Süden der Ukraine getötet" wurde. "Er und sein Kollege Corrado Zunino wurden von Scharfschützen ins Visier genommen, obwohl sie Warnwesten trugen, die sie eindeutig als Journalisten auswiesen."
+++ Mark Hertsgaard und Kyle Pope, die Gründer von Covering Climate Now, kritisieren im "Guardian" die Klimaberichterstattung in den USA. Dort sei "in den meisten Fernsehberichten über das höllische Wetter dieses Sommers nicht einmal das Wort 'Klimawandel' oder 'Klimakrise' erwähnt" worden, "geschweige denn erklärt, dass die Verbrennung von Öl, Gas und Kohle die Ursache für das höllische Wetter ist. Zu viele Redaktionen betrachten das Thema Klima weiterhin als ein isoliertes Fachgebiet".
+++ Weil "innerhalb von nur zwei Wochen 6000 neue Abos abgeschlossen (…) und 34.000 Euro auf dem Spendenkonto eingenommen" wurden, ist die "Titanic" nun "erst mal für mindestens ein Jahr safe", sagt Chefredakteurin Julia Mateus. Der "Spiegel" berichtet.
+++ Mit Verlinkungs-Verweigerern geht Marvin Schade in seinem "Medieninsider"-Newsletter (€) ins Gericht. Vor allem kritisiert er t-online.de, aber nicht nur: "Selbst erlebt: Der 'Tagesspiegel' (…) schreibt ganze Artikel ab, benennt die Quelle sogar nach Hinweis erst korrekt – verlinkt sie aber trotzdem nicht."
+++ Um noch einmal auf das oben bereits gestreifte Thema KI zurückzukommen: "Klara Indernach", die Text erstellende KI des "Express" (siehe Altpapier von Dienstag), diene dazu, "den Clickbait-Artikelausstoß des Blattes signifikant in die Höhe zu treiben", schreibt Axel Weidemann heute in der FAZ (€). "Und das schon seit Jahren / Rachel stillt ihren Ehemann (30) viermal täglich", lautet eine von "Klaras" Headlines, die Weidemann erwähnt. Der "Express" erzeuge "eine Illusion der Menschlichkeit, ganz ohne Not", kritisiert Johannes Drosdowski in der taz.
Das Altpapier am Freitag schreibt Klaus Raab.