Kolumne: Das Altpapier am 12. September 2023 Das Problem heißt Anti-Intellektualismus
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12. September 2023, 11:33 Uhr
Auf die Idee, dass Alice Weidel eine Maske getragen habe, die sie sich gerade erst im "Sommerinterview" in der ARD "vom Gesicht gerissen habe", muss man auch erst einmal kommen. In München demonstrieren Schriftsteller gegen die "kulturelle Verzwergung" des BR. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Die Angst öffentlich-rechtlicher Interviewer
Die Reaktionen auf ein ARD-"Sommerinterview" mit Alice Weidel und ein Interview, das die "Süddeutsche Zeitung" mit Sandra Maischberger anlässlich ihres 20. Jubiläums als ARD-Talkerin geführt hat, geben mal wieder Anlass, sich mit der Berichterstattung über die AfD zu befassen. Über die Sendung mit Weidel schreibt Christoph Schwennicke bei t-online.de:
"Sie hat sich am Sonntag im Sommerinterview selbst die Maske vom Gesicht gerissen. Zum Vorschein kam eine Fratze, die mit nationalkonservativ nicht mehr hinreichend beschrieben ist. So wie Weidel in der ARD denken und sprechen Nazis an ihren Lagerfeuern beim Flaschenbier."
Ich frage mich natürlich: Welche Maske?
Die Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp ordnet das Interview in einem Facebook-Post instruktiv ein:
"Ich bin ratlos wegen der medialen Aufregung über Alice Weidels Sommerinterview und darüber, dass das offenbar immer noch nicht als eine Strategie erkannt ist, sondern alle so tun, als hätte sie sich mal wieder was Schlimmes geleistet. Leute, das ist Absicht! Der identitäre Faschist Martin Sellner beschreibt das Vorgehen in seinem Buch "Regime Change von rechts", und Alice Weidel (ebenso wie Höcke und andere) hält sich drehbuchmäßig daran. Die Strategie heißt "anschlussfähige Provokation": Demnach muss man immer ein Stückchen über die Grenze des Sagbaren hinausgehen, um so nach und nach den Diskurs zu verschieben. Die Faschisten setzen auf diesen Mechanismus: Wenn die Provokation von gestern das Normale von heute ist, wird die Provokation von heute das Normale von Morgen. Wenn zum Beispiel der Tagesspiegel titelt "'Niederlage des eigenen Landes’: AfD-Chefin Weidel empört mit Aussage zur Kapitulation Nazi-Deutschlands", dann ist das genau die Schlagzeile, die beabsichtigt war. Das Interview war also für den faschistischen Regime Change ein voller Erfolg, Weidel hat geliefert."
Christina Dongowski nimmt das "Sommerinterview" zum Anlass, in einem Mastodon-Thread ihre "Arbeitshypothese" zu präsentieren, "warum gerade ÖRR-Redaktionen AfD-Interviews so brav führen": "Die konkreten Interviewer*innen", so Dongowski, hätten "Angst", "als 'links' und damit unprofessionell" zu gelten, "wenn sie in ihren Fragen oder beim Nachhaken auf die Verfassungswidrigkeit von Haltungen hinweisen oder nachfragen, wie konkret denn irgendwelche eliminatorischen Wunschträume umgesetzt werden sollen".
Die zwischen Illusions- und Bauerntheater changierenden Aufführungen rechter Meinungsmacher, in denen der ÖRR als "links" dargestellt wird, haben also ihre Wirkung hinterlassen. Die Angst, als "links" zu gelten, spüre man aber auch bei anderen Gesprächen, so Dongowski:
"Robert Habeck oder Bodo Ramelow extrem aggressiv und gerne auch mit mittelkorrekten Fakten anzugreifen, wird innersystemisch als kritisch und besonders professionell gelesen."
In dem erwähnten SZ-Interview mit Sandra Maischberger geht es unter anderem um die Präsenz der AfD in Nachrichtensendungen:
"(I)ch zucke immer wieder zusammen, wenn in Nachrichtensendungen ein Kommentar von Björn Höcke zu diesem oder jenem im Beitrag ist. Das geht sicher nicht anders, aber so wird die Vorstellung etabliert, dass sie eine Partei wie jede andere ist. Wir stehen in der Berichterstattung alle vor dem gleichen Dilemma."
Warum "geht das nicht anders"? Dazu zweierlei: Wenn eine Nachrichtensendung etwas, was Björn Höcke gesagt hat, für meldungsrelevant hält - dann ist das eine redaktionelle Entscheidung. Natürlich kann man auch anders entscheiden, es stehen jeden Tag unzählige Äußerungen von Politikerinnen und Politikern zur Verfügung, mit der sich die kurze Sendezeit stattdessen fülle ließe. Das wäre der realpolitische Einwand. Einen fundamentalistischen habe ich aber auch parat: Was Politiker sagen, ist viel zu oft Anlass für eine Meldung. Nachrichtensendungen müssten ganz anders gebaut werden als bisher.
Aurelie von Blazekovic und Peter Laudenbach fragen außerdem:
"War es schwierig, andere Gäste zu gewinnen, als Sie im Juni den AfD-Bundessprecher Chrupalla in Ihre Sendung eingeladen haben?"
Maischberger dazu:
"Es ist nicht so, dass alle politischen Diskutanten mit Freude zusagen, wenn wir jemanden von der AfD einladen. Einige sagen ab mit dem Argument: Das ist eine faschistische Partei, mit denen sitzen wir nicht öffentlich im Fernsehen. Das ist nicht meine Haltung, aber ich muss das respektieren."
Schön, dass es noch Prominente gibt, die ethische Mindeststandards haben. Dass es vielleicht sogar Politikerinnen oder Politiker gibt, die die AfD wenigstens dann als faschistische Partei bezeichnen, wenn sie Absagen an Talkshowredaktionen formulieren. Wem fehlen die Mindeststandards? Dazu reicht ein Blick in eine Nachkritik zu besagter Sendung mit Chrupalla, zum Beispiel eine in der "Welt".
Wenn Prominente protestieren
Die "Süddeutsche" und die FAZ waren am Montag vor Ort, als vor dem Funkhaus des Bayerischen Rundfunks eine Protestaktion gegen die geplante Abschaffung von Kultursendungen bei Bayern 2 stattfand, zu der die Initiative "Störsender" aufgerufen hatte. Die "Reformen" waren in den vergangenen Wochen immer mal wieder Thema im Altpapier (zuerst in diesem, zuletzt in diesem).
Die Reporter sahen und hörten prominente Demonstrierende (zum Beispiel Amelie Fried) und prominente Rednerinnen und Redner (zum Beispiel Uwe Timm).
"Außerdem beteiligten sich etliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Bayern 2 an dem Protest gegen ihren Arbeitgeber",
schreibt Stefan Fischer in der SZ.
Timm, so Fischer weiter, habe kritisiert, dass "ein explizit 'antielitäres, nicht diskursives und aufs Regionale sich konzentrierende' Kulturprogramm" drohe - bzw. eine "kulturelle Verzwergung".
Und:
"Sein Schriftsteller-Kollege Jonas Lüscher schlug in dieselbe Kerbe: Er sehe hier einen Anti-Intellektualismus am Werk, der dem von politischen Populisten gleiche."
Was diesen Aspekt angeht, wurde Timm an anderer Stelle seiner Rede offenbar konkreter, jedenfalls zitiert ihn die FAZ folgendermaßen:
"Die Konzentration auf bayerische Themen deutete er als 'Verzerrung', schlimmer noch: (Programmdirektor) Björn Wilhelm komme damit den Forderungen von Freien Wählern und AfD entgegen – frenetischer Applaus."
Um auf Lüscher zurückzukommen. Ohne den Anti-Intellektualismus, der sich in den vergangenen Jahren in vielen öffentlich-rechtlichen "Reformen" Bahn gebrochen hat, wäre der Aufstieg der "Populisten" - die ich freilich anders nennen würde - gar nicht möglich gewesen.
Am Tag, als die Demo stattfand, würdigte das ND einen Radiomacher, der auf der Seite der Protestierenden gestanden hätte: den langjährigen BR-Mitarbeiter Carl-Ludwig Reichert, der in der vergangenen Woche im Alter von 77 Jahren verstorben ist.
Christof Meueler geht in dem Nachruf auch darauf ein, was im öffentlich-rechtlichen Hörfunk eigentlich auf breiter Ebene möglich sein müsste. Reichert wirkte zum Beispiel regelmäßig mit an der 1968 entstanden Sendung "Pop Sunday":
"Das Besondere an dieser Sendung, die Sonntagabend um 23 Uhr lief, war, dass es keine Moderation gab, sondern von den Radiomachern ausgesuchte und/oder selbstverfasste Texte zu der von ihnen ausgesuchten Musik. Radio mit unabhängigem, künstlerischem Anspruch, das demokratisch zugänglich ist – gab es damals nicht und gibt es auch heute fast gar nicht. Eine solche Position ist im quotenfixierten Gedudel verboten, die Ausnahmen sind so wichtig wie rar: 'Im Sumpf’, Sonntagabend auf dem Wiener FM4 oder täglich der 'Zündfunk' auf Bayern 2, ein legendäres Jugendmagazin, für das auch Reichert arbeitete."
In dem Kontext schreibt Meueler:
"Wobei am legendärsten ist, dass der 'Zündfunk' seit fast 50 Jahren überlebt hat. Bemerkenswert auch, dass trotz des offiziell gelabelten juvenilen Anspruchs dieser Sendungen es oft linke, unabhängige Berufsjugendliche im guten Sinne sind, die sie intellektuell am Laufen halten, Leute wie Thomas Meinecke, Klaus Walter, Gudrun Gut (als sie noch Radio machte), Fritz Ostermayer oder Carl-Ludwig Reichert. Weil sie die positiven Erfahrungen von 1968, Hippietum, Punk und Underground weiter transportieren können – als Emanzipationsgeschichte und nicht als eine zwangsläufige Bewegung der Frustration und des Scheiterns."
Dass Reichert für kurze Zeit auch wichtige Akzente im gedruckten Musikjournalismus gesetzt hat, steht bei Meueler auch:
"Anfang der 80er war Reichert bei Rowohlt Mitherausgeber von 'Rock Session', einem sehr lesenswerten 'Magazin der Populären Musik' in Buchform, layoutet wie eine Zeitschrift."
In der vergangenen Woche waren bereits Nachrufe auf Reichert in der taz und in der FAZ erschienen.
Altpapierkorb ("Oxi"-Ende, Vorschläge für neue Art der RBB-Kontrolle, Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis, 1. Hamburger Woche der Pressefreiheit, "Mittagsmagazin")
+++ Dass die finanzielle Situation linker Medien mau ist, war an dieser Stelle bereits Mitte August Thema. Die Notlage der "Titanic" (siehe unter anderem Altpapier von Freitag) kam gerade verschärfend hinzu. Keine Hoffnung gibt es mehr für die Wirtschaftszeitung "Oxi", die im Altpapier hin und wieder lobend erwähnt wurde (etwa hier). "Kurz gesagt geht es in dieser Ausgabe noch einmal um alles: um Klima, Kapital, KI und Kollapsologie – und leider auch um uns selbst. Denn die September-Ausgabe der Monatszeitung OXI wird die letzte ihrer Art sein", heißt es auf der Titelseite besagter Ausgabe, die am Freitag erschienen ist.
+++ Die Vorschläge, die der "erste Entwurf für eine Novelle des RBB-Staatsvertrags" zur zukünftigen Kontrolle des Senders enthält, könnten "zu einer neuen Art der Gremienaufsicht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk führen", meint Volker Nünning in der SZ. "Die Mitglieder des RBB-Verwaltungsrats, der die Finanzen des Senders kontrolliert, sollen künftig für ihre Arbeit vergütet werden. Das Ehrenamt wäre passé. Die Mitgliedschaft soll ein berufliches Nebenamt werden."
+++ Ina Ruck, Leiterin des ARD-Studios in Moskau, und Elmar "E.T." Theveßen, Leiter des ZDF-Studios in Washington, sind die diesjährigen Hanns-Joachims-Friedrichs-Preisträger. Aus der Jury-Begründung: "Dass die Wahl auf Korrespondenten/Studioleiter öffentlich-rechtlicher Häuser fiel, soll erneut als Votum für dauernde Präsenz an solchen Brennpunkten verstanden werden – gegen kaufmännisches Denken, nach dem sich angesichts globaler Informations-Netzwerke Entwicklungen in Moskau, Washington, Peking, Johannesburg oder Brasilia doch auch passabel von einem Laptop in Deutschland aus abbilden lassen - mit Material von Agenturen und aus 'Sozialen Medien'." Einen Sonderpreis bekommen die Chefredakteur*innen dreier ukrainischer Online-Medien: Sevgil Musajeva ("Ukraina Pravda"), Nataliya Gumenyuk (Hromadske), und Olga Rudenko ("Kyiv Independent").
+++ Dass die Geschichte des unabhängigen Journalismus in Russland "vorbei" sei, sagte der "Nowaja Gaseta"-Gründer und Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow laut epd/FAZ zum Auftakt der 1. Woche der Hamburger Pressefreiheit. Eine Aufzeichnung der von Ingo Zamperoni moderierten Veranstaltung, auf der Muratow zu Gast war, findet sich hier.
+++ Zu behaupten, dass im Juli über die künftige Moderation des "Mittagsmagazins" viel diskutiert wurde, wäre wohl eine Untertreibung (siehe Altpapier). Nun hat der MDR, der die Sendung ab Januar verantwortet, bekannt gegeben, wer die "neuen 'Mima'-Gesichter" (dwdl.de) sein werden: Tino Böttcher und Mariama Jamanka. Auch der "Tagesspiegel" berichtet.
Das Altpapier am Mittwoch schreibt Annika Schneider.