Kolumne: Das Altpapier am 5. September 2023 They party like it’s 1923
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05. September 2023, 12:51 Uhr
Hubert Aiwanger stilisiert sich "zum Helden eines angeblichen Konflikts zwischen den normalen Bürgern und den elitären Medien", kritisiert ein Kommunikationsberater. Friedrich Merz hat eine "Bitte an die Medien", die aber ganz und gar nicht wie eine Bitte klingt. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- Das Jagdopfer-Narrativ eines FAZ-Redakteurs
- Friedrich Merz in Feierstimmung
- Altpapierkorb (Springers aktuelle Witwenschüttler-Champions, Benachteiligung der sogenannten Sonstigen an Wahlabenden, 25 Jahre Google, Verfahren gegen Twitter wegen Datenherausgabe an saudische Behörden, Verfahren wegen Hausfriedensbruch gegen ND-Redakteurin eingestellt)
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Das Jagdopfer-Narrativ eines FAZ-Redakteurs
Der Begriff der Stunde könnte "Medienkampagne-Kampagne" lauten. Er stammt vom Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje, und er bezieht sich auf die aktuelle Angriffsstrategie eines neuen deutschen Volkshelden. Das DLF-Magazin "@mediasres" hat mit Hillje über den Fall Aiwanger gesprochen und das Gesagte folgendermaßen zusammengefasst:
"Ist Hubert Aiwanger Opfer einer Medienkampagne? (…) Hillje zweifelt an dieser Erzählung. Man könne die SZ für die Stilistik ihres ersten Seite-Drei-Artikels (kritisieren). 'Aber das halte ich für die Gesamtbewertung des Themas und auch der Vorwürfe für nebensächlich' (…) Hubert Aiwanger verschiebe den Fokus der Debatte von den Inhalten der Berichterstattung auf eine Diskreditierung der Berichterstattenden und führe so 'im Grunde eine Medienkampagne-Kampagne'."
Hillje analysiert des Weiteren, Aiwanger mache sich "zum Helden eines angeblichen Konflikts und im Grunde Wettstreits zwischen den normalen Bürgern und den elitären Medien". Der DLF-Interviewpartner spricht hier von einer "neuen Form einer 'Medienopfer-Erzählung'."
Mit großer Freude dürfte Aiwanger gerade gelesen haben, was der FAZ-Redakteur Philip Eppelsheim über ihn geschrieben hat, denn der sieht ihn, den Politiker, nicht nur als Medienopfer, sondern als Jagdopfer. Die Doppelüberschrift des Textes lautet jedenfalls: "Lindemann und Aiwanger: Wenn die Jagd begonnen hat."
Dass Eppelsheim (siehe auch ein sehr altes Altpapier, nämlich eines von 2012) hier den Rammstein-Sänger in den Aiwanger-Debatten-Mix schmeißt, reizt mich erst mal zu der Spekulation, dass eine Kreuzung von Till Lindemann und Hubert Aiwanger - nennen wir sie mal Hubert Lindemann - wahrscheinlich gute Chancen hätte, Bundeskanzler zu werden.
Aber konzentrieren wir uns auf die medienkritischen Aspekte. Eppelsheim tut so, als wären all die Recherchen zu Lindemann und Aiwanger dadurch hinfällig, dass eine Staatsanwaltschaft Ermittlungen einstellt und ein Bruder "Ich war’s" sagt.
Zu Lindemann schreibt Eppelsheim, dass "dieser Fall zu einem weiteren Beispiel dafür geworden (ist), was passiert, wenn die Unschuldsvermutung nicht mehr gilt und im Journalismus aktivistische Meinungen mehr zählen als Fakten. Dass so die Leben Unschuldiger zerstört werden, ist dann nur ein Kollateralschaden im Kampf für das angeblich Gute".
Eine der Bauernregeln der Medienkritik lautet ja: Wenn ein Journalist anderen Aktivismus vorwirft, weiß man immer, dass der Aktivist der ist, der den Vorwurf erhebt.
Eppelsheim weiter:
"Alle, die (Aiwanger) seit Tagen öffentlich an einen Pranger stellen, als Antisemiten und als Menschenfeind brandmarken, sollten sich also lieber zurückhalten, so wie sie es auch bei Lindemann hätten tun sollen."
Andrea Geier (Uni Trier) kommentiert Eppelsheims Artikel so:
"Wie kann ein Journalist überhaupt über intensive Recherchen von Kolleg:innen ein so undifferenziertes Urteil fällen? Was ist das für ein Verständnis von Journalismus?"
Anders als Eppelsheim kennt FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube die Unterschiede zwischen Journalisten und Staatsanwälten, und er sieht das Thema Aiwanger und die Medien dann auch ganz anders als der Kollege aus dem Haus:
"Müssen wir (…) dem Bruder glauben? Wir müssen gar nichts glauben. Wir müssen auch gar nichts beweisen, denn wir sind keine Staatsanwälte, und niemand steht vor einem ordentlichen Gericht. Die Unschuldsvermutung wäre auch dort eine Vermutung, keine Garantie des Freispruchs. Politik ist kein Gerichtsverfahren. In der politischen Öffentlichkeit, diesseits der Gerichte, geht es um Plausibilität und um Vertrauen in Personen. Ist es also plausibel, dass Hubert Aiwanger sich an so gut wie nichts erinnern kann, was sich vor 36 Jahren an seinem Gymnasium zutrug? Können wir Vertrauen in jemanden haben, der sich so aus der Affäre zu ziehen versucht und seine Verteidigung mit Attacken auf die 'Süddeutsche Zeitung' und ehemalige Lehrer garniert?"
Und Kaube hat noch mehr Fragen:
"Wie kann er ein 'reines Gewissen' haben, wenn er sich in den entscheidenden Fragen nicht erinnern kann oder mag? Wieso lässt jemand, der ein reines Gewissen hat, auf Pressekonferenzen zum Thema keine Fragen zu? (Auch dies ein Problem, das weit über Aiwanger hinaus das ganze politische Spektrum betrifft.)"
Wichtige Einschätzungen zum Aiwanger-Komplex hat die taz eingeholt, unter anderem von Rechtsextremismusforscher Miro Dittrich vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie, und von Christoph Heubner, Vizepräsident des Auschwitz-Kommittees. Die taz schreibt:
"Für (…) Dittrich ..ist der Fall (…) nicht abgeschlossen. Denn: 'Wir erleben über die Jahre eine Verschiebung. Dinge, die als unsagbar galten, für die man früher zurücktreten musste, werden heute so toleriert’ (…) Die Neumitgliedsanträge bei den Freien Wählern, von denen Medien berichten, und die jubelnden Unterstützer Aiwangers in den Bierzelten würden für große Ressentiments sprechen."
Und Heubner warnte der taz gegenüber:
"vor den gesamtgesellschaftlichen Folgen. Der 'politische Flurschaden', den Aiwanger mit seinen 'egomanischen Redereien' weiter anfache, werde 'zunehmend größer und greift mittlerweile auf die gesamte Bundesrepublik über'. Jeder öffentliche Auftritt von ihm werde 'zu einer demonstrativ beklatschten Unterstützung seiner Flugblatt-Aussagen.'"
Das ist vielleicht der entscheidende Punkt: Die Berichterstattung über das antisemitische Flugblatt ist zum Fanal für ein Milieu geworden, das derzeit stärker auf dicke Hose macht, als jemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik.
Friedrich Merz in Feierstimmung
Der Auftritt von Friedrich Merz beim aktuell viel erwähnten Gillamoos-Volksfest hatte auch einen für diese Kolumne relevanten Aspekt, nämlich die Stelle, wo er an eine Einschätzung des Falls Aiwanger folgende Worte anschließt:
"Ich habe (…) auch eine Bitte an die Medien. Überlegen Sie sich gut, welche Verantwortung Sie auch haben in Deutschland. Und ich meine Sie im Plural: die öffentlich-rechtlichen genauso wie die privaten. Und man kann von den Medien schon beanspruchen, dass sie ein Spiegelbild dieser Gesellschaft sind, dass sie wenigstens zulassen, dass (…) in den Medien, vor allem denjenigen, die aus Gebühren (sic!) bezahlt werden müssen, ein breites Meinungsspektrum auch zum Ausdruck kommt."
Man muss das nicht nur lesen, man muss es sehen, entweder den zitierten Ausschnitt oder die gesamte von Phoenix übertragene Rede: Merz’ Körpersprache, die Betonungen einzelner Wörter und Silben, seine Mimik in den Jubelpausen, die Art, wie er dem Beifall zustimmt - selten hatte etwas, was wörtlich als Bitte deklariert wurde, so wenig mit dem Charakter einer Bitte zu tun. Der Tonfall ist eher der von nicht mehr jungen Männern, die gern "Pass mal auf, Freundchen" sagen. Man merkt hier auch: Merz geht’s bombe. Meine, äh, Lieblingsstelle, ist übrigens die, wo er Markus Söder zuruft:
"Lieber Markus, du stehst in einer Reihe mit großen Persönlichkeiten der Nachkriegsgeschichte."
Es ist noch nicht so lange her, da hätte man es für eine gnadenlose Verhöhnung mit Mitteln der grotesken Übertreibung gehalten, wenn ein CDU-Vorsitzender so über einen CSU-Vorsitzenden spricht, aber ich würde dazu tendieren, dass Merz das wirklich ernst meint.
"#Gillamoos verbreitet zusehends dieses spezielle Bayern-1923-Feeling",
kommentierte Lutz Hachmeister. Das wiederum bezog sich auf die viel zitierte "Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland"-Äußerung, die in der Rede zweimal fiel - und in der ersten Variante noch um das seltsamerweise seltener zitierte "Nicht Berlin ist Deutschland" ergänzt wurde. Jene, die sich hier über die Jahreszahl 1923 wundern, verweisen wir hier auf Beiträge des Deutschen Historischen Museums und des Bayerischen Rundfunks.
Und wie es manche Leute, die da beim Gillamoos feierten, mit der Pressefreiheit halten, steht bei t-online.de. Die Kollegen berichten dort von ihren Erlebnissen mit einem "CSU-Pressesprecher".
Altpapierkorb (Springers aktuelle Witwenschüttler-Champions, Benachteiligung der sogenannten Sonstigen an Wahlabenden, 25 Jahre Google, Verfahren gegen Twitter wegen Datenherausgabe an saudische Behörden, Verfahren wegen Hausfriedensbruch gegen ND-Redakteurin eingestellt)
+++ Trotz aller Journalismuswandel-Prozesse der vergangenen Jahre: Der Typ des Witwenschüttlers bzw. Hinterbliebenenfledderers bleibt gefragt - zumindest bei Medien, deren Menschenfreundlichkeit nicht überaus ausgeprägt ist. Über die aktuelle Arbeit zweier Witwenschüttler berichtet bildblog.de unter der Headline "'Bild' und 'B.Z.' behelligen 14-Jährige, deren fünfjähriger Bruder einen Tag zuvor gestorben ist."
+++ Dass "bei der Berichterstattung am Abend der Landtagswahlen in Bayern und Hessen kleinere Parteien wahrscheinlich weiterhin von ARD und ZDF benachteiligt werden" - darauf geht die FAZ ein. Die Zeitung hatte bei diversen Sendern nachgefragt. Anlass des Rundrufs und des Artikels: ein Erfolg der Tierschutz-Partei vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg.
+++ "Mit etwas Fachwissen, Geduld und Mühe kann man auch alternative Android-Derivate als Betriebssystem für das Smartphone nutzen. Da werden keine Daten an Google geliefert. Aber: Oft ist man trotzdem noch auf Googles Ökosystem angewiesen. Der größte Konkurrent auf diesem Markt ist natürlich Apple. Wer beim Smartphone nicht auf kleine Orchideen-Projekte setzen will, hat deshalb oft leider nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Hier müssen dringend mehr und bessere Alternativen her." Mit unter anderem diesen Worten widmet sich Markus Beckedahl bei netzpolitik.org dem Thema 25 Jahre Google. Weitere Texte zum "Jubiläum"? Siehe zum Beispiel FAZ und Deutschlandfunk Kultur.
+++ Die Plattform, die früher Twitter hieß, war schon vor der Übernahme durch Elon Musk, sagen wir mal: politisch problematisch. Das zeigt ein Bericht des "Guardian" über ein Verfahren gegen Twitter: "Im Mittelpunkt stehen die Ereignisse rund um die Infiltration des kalifornischen Unternehmens durch drei saudische Agenten, von denen sich zwei in den Jahren 2014 und 2015 als Twitter-Mitarbeiter ausgaben. Dies führte schließlich zur Verhaftung (des Bruders der Klägerin) und zur Enthüllung der Identität Tausender anonymer Twitter-Nutzer, von denen einige später Berichten zufolge im Rahmen des harten Vorgehens der Regierung gegen Andersdenkende festgenommen und gefoltert wurden." Der "Spiegel" fasst den "Guardian"-Artikel zusammen und baut einen sachdienlichen Link zu den saudischen Twitter/X-Geldgebern ein.
+++ Im Mai 2022 dokumentierte Louisa Theresa Braun, Redakteurin des ND, "wie zwei Klimaaktivist*innen die Pumpstation einer Ölpipeline der PCK-Raffinerie Schwedt im uckermärkischen Strasburg, das bei Neubrandenburg liegt, abdrehten" - doch weil sie zu nah dran war, drohte eine Vorstrafe wegen Hausfriedensbruch. Darauf geht in eigener Sache nun ihre Zeitung ein. Der aktuelle Anlass: Das Verfahren wurde am Montag eingestellt. Braun ist damit nicht vorbestraft, muss aber 700 Euro zahlen. Das zuständige Gericht entschied auch: Dass die Polizei zwei Wochen lang Brauns Arbeitsgeräte beschlagnahmt hatte, war rechtswidrig.
Das Altpapier am Mittwoch kommt vom Autor der heutigen Kolumne.