Das Altpapier am 1. September 2023: Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 1. September 2023 Ratz und Rübe und der Ukraine-Krieg

01. September 2023, 11:16 Uhr

Der kindliche Fernsehkonsum nimmt wieder ab – ob das gut oder schlecht ist, lässt sich diskutieren. Und der Begriff "Clans" bedarf einer genaueren Betrachtung. Heute kommentiert Jenni Zylka die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Was gucken Kinder?

"Fernsehen ist lustig, das Fernsehen ist schön / da kann man die Cowboys sich totschießen sehen.
Fernsehen ist blöde, das Fernsehen ist schlecht / und was man da sieht das ist meistens nicht echt."
(Ratz und Rübe, Rappelkiste)

Ob man das genauso weise auch über Social bzw. Digital Media sagen könnte…? Aber anders als Teenager und Erwachsene schauen vor allem handy- und tabletlose Kinder tatsächlich noch viel fern. Dazu ist eine soeben veröffentlichte Untersuchung zweier ARD-Journalistinnen in der vom hessischen Rundfunk herausgegeben Fachzeitschrift "Media Perspektiven" interessant, die man hier einsehen kann. Die beiden haben das lineare Fernseh-Nutzungsverhalten drei- bis 13jähriger Kinder im Jahr 2022 untersucht, und kommen zu folgendem Ergebnis:

"Fernsehen ist eine der häufigsten Freizeitaktivitäten der Sechs- bis 13-Jährigen. 92 Prozent der Kinder sehen in der eigenen Wahrnehmung mindestens wöchentlich, 67 Prozent sogar täglich fern. Daneben sehen sich drei von fünf Kindern regelmäßig Bewegtbild im Internet an, jedes fünfte täglich."

Weiterhin stellen sie fest, dass das Fernsehen zwar im Jahr 2020 vom Corono-Cocooning profitierte, dass dieser Effekt jedoch bereits 2021 perdu war:

"Nachdem im ersten Coronajahr 2020 der sukzessive Rückgang der Fernsehnutzung der vergangenen Jahre gestoppt schien, verlor das klassische Fernsehen im Jahr 2022 wieder an Bedeutung."

Ist das gut oder schlecht?

Ist das jetzt gut oder schlecht? Kommt wohl auf die Inhalte an, und darauf, was die Kinder ansonsten noch so alles (nicht) machen. Erstaunlich jedenfalls, dass sich die Sehdauer, also die Zeit, die ein Kind täglich vor dem Fernseher auf dem Sofa oder dem Boden herumpurzelt, weil das Stillsitzen und Gucken eigentlich gegen seinen kindlichen Bewegungsdrang geht, dadurch der Verweildauer genähert hat, die eh von Pädagog:innen empfohlen wird: Unter drei Jahren, so lautete jedenfalls die Faustregel bis zur Jahrtausendwende, als die Teletubbies mit ihrem penetranten "Ah-Oh" und einer psychedelischen Sonne mit Babygesicht auch Strampelanzug-Steppkes vor das Gerät zogen, sollten Kinder am besten gar nicht gucken; ab drei Jahren seien 30 Minuten am Tag zumutbar, so hieß es 2011 in einer Broschüre des Bundesfamilienministerium mit dem auch schon etwas angestaubten Titel "Geflimmer im Zimmer". Man könne danach sukzessive nach Alter erhöhen, bis zu 60 Minuten am Tag für ab 10jährige. Die erwähnte ARD-Studie untermauert aber, dass den Kindern anscheinend wieder eingefallen ist, wo der Ausschaltknopf ist:

"Betrachtet man die durchschnittliche Sehdauer, sind auch hier massive Verluste zu erkennen. Kinder haben 2021 noch 46 Minuten am Tag ferngesehen, im Jahr 2022 nur noch 37 Minuten. Dies ist im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang von rund 9 Minuten. Zehn Jahre zuvor schauten die Kinder noch eineinhalb Stunden am Tag fern (2012: 90 Min.). Erstmals verbringen die Kinder weniger als 40 Minuten am Tag mit dem linearen Fernsehen. Die Drei- bis Fünfjährigen (– 10 Min.) und die Zehn- bis 13-Jährigen (– 8 Min.) schauen mit einer täglichen Sehdauer von 36 Minuten am kürzesten täglich fern, während noch vor rund zehn Jahren die ältesten Kinder mit deutlichem Abstand die längste Sehdauer aufwiesen."

Was sollen sie denn sonst machen?

Wobei "massive Verluste" eine negative Konnotation hat - dabei kommt es wie gesagt drauf an, was die Kinder stattdessen machen: Sammeln sie in den wenigen nicht abgebrannten Wäldern die letzten Kastanien, um daraus kleine Männchen zu basteln, wie das ihre Eltern am liebsten wollen, die dann allerdings nicht wissen wohin mit den Männchen? Oder verkürzen sie ihre Aufmerksamkeitsspanne durch sexistische, politisch fragwürdige und von der chinesischen Regierung zensierte TikTok-Videos?

Für die Studienerstellerinnen bestimmt tröstlich ist jedenfalls die Erkenntnis, dass der öffentlich-rechtliche Sender Kika sich als Marktführer im Kindersegment behaupten kann:

"Mit einem Marktanteil von 12,7 Prozent (Mo-So, 3.00 – 3.00 Uhr) bleibt der KiKA von ARD und ZDF auch 2022 das meistgenutzte Angebot. Super RTL (10,7 %) verzeichnet einen Rückgang von 2 Prozentpunkten und liegt auf dem zweiten Rang, Disney Channel (9,8 %) und RTL (6,9 %) führen das Ranking fort. Das Erste erreicht durch die Fußball-WM im Dezember mit 6,4 Prozent den fünften Rang."

Schaut man sich allerdings an, welche Sendungen drei-13jährige am meisten geguckt haben, könnte man denken, die Studie habe doch aus Versehen die Kukident-Zielgruppe erforscht: "Wetten, dass?" vom November 2022 ist auf Platz 2, "Dinner for One" auf Platz 6, dazu findet sich unter den Top Ten zweimal der anstrengende "Kevin – Allein zuhaus" bzw. "Kevin – Allein in New York". Aber natürlich gehören letztere zum Weihnachtsprogramm, und vermutlich bestehen eher die Eltern als ihre Kinder auf die Silvestertradition, der aus heutiger Sicht recht langsam vorgetragenen Stolperparade mit Mr. Winterbottom, Admiral von Schneider und Mr. Pommeroy von 1963.
Auf Platz Eins liegt übrigens das EM-Endspiel der deutschen gegen die englischen Fußballerinnen (die Männer-EM wurde nicht mitausgewertet).

Sehr neugierig wäre ich auf eine Umfrage darüber, ob jene untersuchte Kindergruppe, die laut der Studie übrigens auch sehr viele Nachrichten über den Ukraine-Krieg geschaut hat, denn den Medieninhalten glaubt, die sie konsumiert, und wie überhaupt die Medienkompetenz einzuschätzen ist. (Vorgestern stellte das Altpapier hier ja eine Studie vor, die ergab, dass ein Fünftel der Deutschen glaubt, die Massenmedien würden die Menschen "systematisch belügen". Diese Frage lässt sich natürlich jetzt nicht wirklich gut in Bezug auf "Meine Freundin Conni" oder das "Sandmännchen" anwenden. Aber trotzdem.)

Und dann noch Pornos

Dass jedes dritte Kind zwischen elf und 17 Jahren in Deutschland schon einmal einen Porno gesehen hat, wie die FAZ hier berichtet, liegt wieder an ganz anderen Dingen:

"Kinder und Jugendliche kommen früh und meist unfreiwillig mit pornographischen Inhalten in Berührung. So hat jeder Dritte in Deutschland im Alter zwischen elf und 17 Jahren schon einmal einen Porno gesehen. Das beeinflusst die eigene Sexualität der Kinder und wirkt sich auf ihr sexuelles Verhalten aus. Demnach hat jeder fünfte Jugendliche bereits 'gesextet', also eine erotische Nachricht oder ein Foto versendet. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Befragung unter 3000 Kindern dieser Altersgruppe, welche die Agentur KB&B Family Marketing Experts im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW unternommen hat."

Immerhin: das Fernsehen ist daran jedenfalls nicht schuld. Um nochmal mit Ratz und Rübe zu sprechen:

"Da kann doch was nicht stimmen / das kriegen wir schon raus / und zeigt die Flimmerkiste Mist / wird nachgedacht, wird Schluss gemacht / dann schalten wir sie aus."

Der ambivalente Clan-Begriff

Aber auditiv dürfen wir zum Glück dranbleiben. (Dazu fällt mir der hübsche alte Anti-Fernseh-Spruch ein: "Wenn man nicht hinschaut, ist Fernsehen fast so schön wie Radio".)

Neues Thema: Im immer hörenswerten Medienpodcast "quoted" der SZ zusammen mit Civis geht es in der aktuellen Ausgabe um den Begriff "Clans", zu Gast ist der Soziologe Özgür Özvatan, der im Frühling eine Studie zum Thema veröffentlichte.

Der Begriff sei eine "große journalistische Herausforderung für alle Medien" sagt die Gastgeberin und Linguistin Nadia Zaboura. Es würden im Zusammenhang mit dementsprechender Berichterstattung oft "martialische" Begriffe wie "die Macht der Straße" benutzt. Sie betont eine "rassifizierte Komponente", zudem werde das Wort "Clan" oft deckungsgleich mit dem Begriff "Kriminalität" benutzt. Dabei gibt die Definition das gar nicht her, man könnte einfach "auch Großfamilie" sagen, betont der Journalist und Podcaster Nils Minkmar. "Es hat einen starken Neidfaktor in der medialen Erzählung", sagt Minkmar weiter, der würde ergänzt um "Narrative der Vergeltung und Bestrafung" ergänzt Zaboura, und zitiert dazu aus einem Spiegel-Artikel.
Sie verweist auch auf einen Artikel aus der FR, in dem das Ganze so zusammengefasst wird:

"Der Begriff 'Clan-Kriminalität' ist nur ein Symptom für eine rassistische Gesellschaft – denn in Wirklichkeit gibt es in Deutschland kein tiefgreifendes Problem mit 'Clan-Kriminalität', aber ein Rassismus-Problem."

Der Podcast-Gast Özvatan weist unter anderem auch auf fehlende Sprechpositionen bei der oft kriminalisierenden Medienberichterstattung hin:

"Die einzigen Menschen oder Sprechposition die da zu Wort kommen, sind Menschen, die in Behörden arbeiten, also Personen aus dem BKA, Expert:innen, denen zugeschrieben wird für den Staat zu sprechen, insbesondere für die staatliche Sicherheit. Die andere Personengruppe, (…) zum Beispiel der damalige Innensenator Geisel, die dann als Helden stilisiert werden und relativ viel Platz bekommen, um zu erklären, wie sie durchgreifen."

Weiterhin geht es um die schon erwähnte Definitionsfrage kann man denn gar nicht mehr über die Familienstrukturen reden, fragt Minkmar, und der Soziologe unterstreicht die Problematik des "familiären Generalverdachts":

"Was ist denn mit einer Person, die an den Aktivitäten beteiligt ist, aber kein Familienmitglied ist – ist die dann Teil des Clans oder nicht? Wenn wir das so machen möchten, müssen wir das auch so definieren. (…) Wir schließen qua Name Menschen von Partizipationsmöglichkeiten, von Teilhabe an Gesellschaft aus."

Weiterhin geht es um die Zuschreibung in Richtung Türkei, Libanon oder Palästina, und um die "Ethnisierung", die in Wortschöpfungen wie "Die arabische Gefahr" vorgenommen wird. Unbedingt anhören, bevor man den nächsten "Insider-Bericht" verfasst.

Altpapierkorb (Intendantengehälter, Schmerzensgeld wg Böhmermann und die Neuerfindung des Journalismus)

+++ Hurra, endlich wieder eine Gehaltsliste der ARD-Intendantinnen und -Indendanten zum Vergleichen!! Gewonnen hat WDR-Intendant Tom Buhrow (Jahresgrundgehalt inklusive Zulagen: 433.200 Euro) Ganz anders der RBB, wie der Tagesspiegel berichtet: Hier könnte es wie angekündigt einen Deckel geben, bei mageren 180 000.

+++ U.a. die Berliner Zeitung schreibt, dass Arne Schönbohm, der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Cybersicherheit in der Informationstechnik, 100.000 Euro Schmerzensgeld vom ZDF fordert, weil ein Bericht in Jan Böhmermanns Magazin Royale ihn seinen Job gekostet habe.

+++ Die taz (siehe auch Altpapier von Donnerstag) fordert nichts Geringeres, als dass der Journalismus sich neu erfindet, und fasst das folgendermaßen zusammen: "Wir sollten häufiger über radikale Rückbesinnung als über radikale Neuerfindung sprechen. Und nicht nur über Nachhaltigkeit als journalistisches Thema nachdenken, sondern über die Nachhaltigkeit des journalistischen Arbeitens an sich. Also fragen: Welchen demokratischen Mehrwert hat journalistische Berichterstattung? Wie evidenzbasiert ist sie? Und erfüllt sie tatsächlich den Anspruch, dem Gemeinwohl zu nutzen?"

Das nächste Altpapier schreibt am Montag René Martens.

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