Kolumne: Das Altpapier am 28. August 2023 Unter Verdacht
Hauptinhalt
28. August 2023, 11:50 Uhr
Die "Süddeutsche Zeitung" hat eine Recherche über Bayerns Wirtschaftsminister Aiwanger veröffentlicht. Die Vorwürfe wiegen schwer – in Teilen stellt sich die Berichterstattung aber dann als nicht wasserdicht heraus. Und Medienrechtler diskutieren, ob sie zulässig ist. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Über die Aiwanger-Recherche
Eines der großen Themen des Wochenendes – ein politisches, aber, was für unsere Medienkolumne entscheidender ist, auch ein journalistisches Diskussionsthema – war die Recherche der "Süddeutschen Zeitung" über Hubert Aiwanger, Bayerns Wirtschaftsminister, Gesicht und Lautsprecher der Freien Wähler, zudem Spitzenkandidat für die Landtagswahl im Oktober.
Er "soll als Schüler" ein "antisemitisches Flugblatt verfasst haben". Das titelte die "Süddeutsche Zeitung" am Samstag und widmete der Recherche den Aufmacher auf Seite 1 und die Reportage-Seite 3. Abgebildet war auch das Flugblatt, um das es ging. Die "SZ" nannte es das "Auschwitz-Pamphlet" bzw. in der Nachberichterstattung "rechtsextremistisches Pamphlet"; andere nannten es ein "widerliches, antisemitisches Pamphlet" (die bayerische Landtagspräsidentin Ilse Aigner, CSU), ein "scheußliches Pamphlet" (Bayerns Freie-Wähler-Landtagsfraktionschef Florian Streibl), der NDR "Nazi-Pamphlet", und die "Neue Zürcher Zeitung" "abscheuliches Pamphlet".
So (naja, weitgehend) unumstritten wie die Einordnung des Flugblatts, sind aber viele andere Aspekte nicht. Und seit der Veröffentlichung wird nun diskutiert (u.a. der Bayerische Rundfunk fasst den Fall zusammen, auch Reaktionen der in Bayern relevantesten Parteien). Aber auch und gerade über mediale Aspekte der Recherche. Über Presserecht. Über Bedingungen für Verdachtsberichterstattung. Darüber, ob wenige Wochen vor Wahlen ein angemessener Zeitpunkt für exklusive Veröffentlichungen über einen Spitzenkandidaten ist. Über einen blinden Fleck der Recherche.
Und Stefan Niggemeier schreibt bei uebermedien.de in der bislang klarsten medienjournalistischen Analyse vor allem auch über die Darstellung des Falls in der "SZ" vom Samstag, die er als "problematisch" erachtet. Er hält der Zeitung unter anderem vor:
"Vor allem die Seite-3-Geschichte, die sie am Samstag veröffentlichte, ist problematisch, weil sie nicht nüchtern über die Vorwürfe berichtet, sondern all jenen Munition gibt, die ihr unterstellen, eine Agenda zu haben: Aiwanger kurz vor der Wahl wegzuschreiben. (…) Der SZ-Artikel hatte zweifellos die Wirkung, dass der zentrale Verdacht, Aiwanger habe ein antisemitisches Pamphlet verfasst, trotz diverser Fragezeichen im Text von vielen als Tatsache verbreitet wurde. (…) Und er hatte auch zweifellos die Wirkung, dass zahlreiche Gegner des etablierten Journalismus sich in ihrer Ablehnung aus Übelste bestätigt sahen."
Eines der Probleme ist: Hubert Aiwanger hat zwar mittlerweile eingeräumt, ein Exemplar oder mehrere in der Schultasche gehabt zu haben und dafür von der Schule belangt worden zu sein. Er bestreitet aber, das Pamphlet verfasst zu haben. Und es gibt vor allem auch jemanden, der als Verfasser an die Öffentlichkeit gegangen ist: Aiwangers Bruder. Was zudem einen Strang der Recherche infrage stellt, demzufolge das Flugblatt und Hubert Aiwangers Facharbeit "sehr wahrscheinlich auf ein und derselben Schreibmaschine geschrieben worden sind", wie ein Gutachter im Auftrag der "SZ" es formuliert hat (nachzulesen im Artikel "Das verräterische W"). Die Brüder könnten durchaus Zugang zur selben Schreibmaschine gehabt haben.
Soll man sie glauben, die Brüder-Geschichte? Peter Carstens klingt in der "FAZ" nicht überzeugt:
"Die politische Laufbahn des Hubert Aiwanger hing übers Wochenende an einem seidenen Faden. Dann eilte sein Bruder Helmut ihm zu Hilfe, warf sich vor ihn und opferte seinen Ruf für den des Jüngeren."
Und Alan Posener kommentiert sie bei "Zeit Online" in einer auch im Ganzen lesenswerten Analyse so:
"Man muss nicht glauben, dass hier die Familiensolidarität über die Wahrheit geht, aber man kann kaum umhin, wenigstens die Möglichkeit in Betracht zu ziehen."
Umgekehrt muss man aber auch sagen: Wenn man auch kaum umhin kann, die Möglichkeit einer brüderlichen Selbstopferung in Betracht zu ziehen, ist die Ausgangsveröffentlichung der "Süddeutschen" in einem entscheidenden Detail ("soll … verfasst haben") nicht wasserdicht.
Rechtliche Fragen
Die presserechtliche Debatte, die begonnen hat, geht aber darüber hinaus. Vor allem geht es um die Frage, ob die Berichterstattung zulässig ist. Das Stichwort heißt: Verdachtsberichterstattung. Verdachtsberichterstattung ist an Bedingungen geknüpft. Unter anderem: Es muss abgewogen werden zwischen dem öffentlichen Interesse, der Kontrollfunktion der Medien und Persönlichkeitsrechten. Es muss stets klar sein, dass ein Verdacht nur ein Verdacht ist. Betroffene müssen Stellung nehmen dürfen. Und: keine Vorverurteilung.
Die Juristen Udo Vetter und Thomas Stadler vertreten bei X (also Twitter) unterschiedliche Ansichten, ob die Berichterstattung der "SZ" zulässig ist oder sein könnte. Vetter schrieb, hier ein Auszug aus einem langen Posting:
"Die Süddeutsche Zeitung wird sich in diesem Fall fragen lassen müssen, ob sie nicht unzulässige Verdachtsberichterstattung betreibt. (…) Es fehlt (…) insgesamt an einem Mindestbestand an sogenannten Beweistatsachen. Genau diese Beweistatsachen fordert die Rechtsprechung aber für eine Verdachtsberichterstattung."
Das sah Stadler am Sonntag anders:
"Zum Thema Mindestmaß an Beweistatsachen. Aiwanger räumt ein, Flugblätter im Schulranzen gehabt zu haben und kann sich nicht mehr erinnern, ob er welche verteilt hat. Er wurde von der Schule sanktioniert. Es gibt noch ein paar Zeugen, von denen die SZ möglicherweise eidesstattliche Versicherungen hat und von denen wir nicht im Detail wissen, was sie der SZ berichtet haben. Das könnte schon reichen für eine Verdachtsberichterstattung."
Der Medienrechtler Carsten Brennecke geht in einem Thread auf einen weiteren Punkt ein und nennt die Ausgangsberichterstattung sogar "klar rechtswidrig": "Der abträgliche Verdacht wird frei abrufbar gestreut, Aiwangers Dementi wird aber frech hinter der #Paywall versteckt, so dass nur Abonnenten es wahrnehmen können."
Andere Fragen, die Brennecke in den Raum stellte ("Wie lange hatte die SZ die 'Story' in der Tasche und hat die SZ die Veröffentlichung etwa bewusst verzögert erst kurz vor der Wahl platziert, um Aiwanger maximal zu schaden?"), hatten auch andere. Fragen nach dem Zeitpunkt und auch nach den Quellen der Recherche etwa: "Warum taucht dieses Papier ausgerechnet jetzt auf: dreieinhalb Jahrzehnte später, aber nur eineinhalb Monate vor der nächsten Landtagswahl im Freistaat?", fragte die "NZZ" am Wochenende. Und Jasper von Altenbockum schreibt in der "FAZ" heute:
"Der taktisch günstige Zeitpunkt einer Veröffentlichung scheint in solchen Fällen so wichtig zu sein wie die beabsichtigte moralische Empörung im Wahlkampf, was deren Glaubwürdigkeit nicht nur für die Anhänger Aiwangers mindern dürfte."
Zu diesen und anderen Fragen verhält sich die "SZ" nun am heutigen Montag auf einer weiteren Seite 3 (etwa hier zitiert):
"Neulich, bei der Abi-Feier an Aiwangers früherem Gymnasium, habe der Direktor über Demokratie gesprochen – und Aiwanger namentlich als schlechtes Beispiel genannt. Daraufhin habe er den Direktor über die Vorfälle von vor 35 Jahren informiert, sagt der Lehrer. Dann meldete er sich bei der SZ."
Demnach wäre die Geschichte also der Zeitung erst kürzlich zugespielt worden. Das würde bedeuten, dass sie sie nicht extra bis kurz vor die Landtagswahl aufgehoben hat, sondern sie zügig recherchiert hat, nachdem sie ihr zugetragen worden war. Das gleich am Samstag zu schreiben, wäre aber gut gewesen. Ebenso wäre es sicher besser gewesen, sie hätte schon in der ersten Geschichte geschrieben, wann sie Aiwanger die Gelegenheit zur Stellungnahme gab. Auch das schreibt sie erst am heutigen Montag ganz explizit:
"Dreimal konfrontiert ihn die SZ mit dem Verdacht, der Urheber des Flugblatts gewesen zu sein, am 17. August, am 20. August, am 24. August. Dreimal bestreitet Aiwanger die Vorwürfe. Er habe 'so etwas nicht produziert', lässt er am Freitag mitteilen, 24. August. Und dass er im Fall einer Veröffentlichung juristisch 'gegen diese Schmutzkampagne' vorgehen werde."
Worum es auch geht
Die Sache ist für Aiwanger nicht geklärt und ausgeräumt. Es gibt Widersprüche in verschiedenen Stellungnahmen, und es geht hier auch nicht darum, dass er als Teenager mal ein Deo geklaut hat. Das wäre – mehrfach bemühte Kategorie seiner Verteidiger – eine "Jugendsünde". Vielmehr geht es um ein antisemitisches Flugblatt, auf dem in einem fiktiven Wettbewerb ein 'Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz' ausgelobt wurde.
Dass unter anderem Aiwangers Erdinger Rede (bei der er sagte, die "schweigende große Mehrheit" müsse sich "die Demokratie wieder zurückholen") einen schweren rechtspopulistischen Drall hatte; dass er, wie Alan Posener argumentiert, die Chance gehabt hätte, "sich zu erklären und darzulegen, wie aus dem dummen Jungen von damals ein verantwortlicher Politiker wurde", sie aber seiner Ansicht nach nicht genutzt hat: Das darf man nicht vergessen. "Vor diesem Hintergrund wiegen die neuen Vorwürfe schwerer, als sie das eventuell bei einem des Rechtspopulismus völlig unverdächtigen Politiker täten", findet Dominik Baur in der "taz". Die Berichterstattung lässt sich aus dieser Perspektive meines Erachtens als politisch und gesellschaftlich relevant ansehen und rechtfertigen, auch wenn die Beweislage schwierig ist und die Vorfälle, um die es geht, lange zurückliegen.
Medienjournalistisch liegt aber der Fokus heute auf der Berichterstattung der "SZ". Stefan Niggemeier schlägt in seinem "Übermedien"-Artikel nebenbei einen großen Bogen, den nachzuvollziehen sich lohnt. Er macht dabei für mein Empfinden deutlich, worum es in diesem Fall eben auch geht:
"Ich glaube, die Wulff-Berichterstattung, die viele als Hetzjagd einer Medienmeute empfanden, war ein zu oft vergessener Schlüsselmoment, in dem das Vertrauen mancher Menschen in den Journalismus einen Knacks bekam. Inzwischen ist die Unterstellung interessierter Kreise, dass hinter einer Recherche oder einer Veröffentlichung nicht journalistische, sondern politische Motiven stehen, Alltag. So einfach sie dahinbehauptet ist, so schwer lässt sie sich entkräften. Aber Journalisten können zumindest den Versuch machen, ihr nicht zusätzliche Nahrung zu geben – indem sie versuchen, möglichst sachlich zu berichten und nüchtern, nicht besoffen von sich selbst. Weniger meinungsstark, weniger effekthascherisch, weniger voreingenommen: weniger angreifbar."
Altpapierkorb (Republik 21, Wolfgang Schweiger, Ulrike Demmer, Presseförderung, Trump-Mugshot)
+++ In der "FAZ": was die Denkfabrik "Republik 21" – eine parteiunabhängige, der CDU nahestehende Vereinigung – plant, um "den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einer konstanten Prüfung" zu unterziehen. "Zunächst werde man zwei Projekte umsetzen: Eine systematische Analyse der aktuellen politischen Berichterstattung, einseitige und sachlich falsche Berichte werde man regelmäßig auf einer eigens dafür eingerichteten Website dokumentieren. Der Befund werde in einem monatlichen Newsletter zusammengefasst. Zudem lege man eine längerfristig angelegte Studie zum Thema 'Framing im ÖRR' auf." Deren Framing muss man sich dann vielleicht auch mal anschauen.
+++ Die anderen Frankfurter, die "Frankfurter Rundschau", hat derweil ein Interview mit dem Medienforscher Wolfgang Schweiger zur Frage geführt, wie "links" ARD und ZDF seien. In einer Frage geht es um Jan Böhmermann, "heute-show" und "Anstalt". Schweiger sagt: "Satire war schon immer eher links. (…) Heute gibt es mit Dieter Nuhr im Ersten ein konservatives Gegengewicht zu den von Ihnen genannten ZDF-Formaten. Ich habe eher den Eindruck, die Gegner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, allen voran die AfD, nutzen linke Satiriker und ihre Aussagen, um den vorgeblichen Linksdrall von ARD und ZDF öffentlichkeitswirksam anzuprangern."
+++ Dass der RBB-Verwaltungsrat und die designierte RBB-Intendantin Ulrike Demmer noch immer über ihren Vertrag verhandeln, steht bei tagesspiegel.de.
+++ "Der Umgang der Regierung mit der Presseförderung steht beispielhaft für das Desinteresse im Bund an Medienpolitik”, schreibt Mey Dudin bei "epd Medien", frei lesbar bei turi2.de.
+++ Das Listicle gehört zu den Formaten, mit denen man sehr schnell Platz füllen und vielleicht trotzdem noch ein wenig Aufmerksamkeit abgreifen kann. Jedes Aufregerthema lässt sich damit mit einer distanzierten Performance in Unterhaltung umwandeln. Das Listicle wurde quasi herübergerettet aus den schlechten alten Zeiten des Onlinejournalismus, als noch regelmäßig Klickbullshit wie 166 kuriose Fakten über Sex angeboten wurde. Vergangene Woche, nach der superaufregenden Aufregung über die Hinweise bzw. Warnungen, die der WDR vor "Otto-Shows" und "Schmidteinander"-Sendungen gesetzt hat (Altpapier), spendierte der "Tagesspiegel" daher die Liste der "zehn Sendungen, die Warnhinweise verdienen". Der "Spiegel" setzte nun online noch einen drauf und hat ein "Ranking der finsteren Blicke" erstellt. Anlass ist Donald Trumps Mugshot. Der allerdings beim "Spiegel" nur auf Platz 5 landet. Auf Platz 2 steht Greta Thunberg. Und ganz vorne: Grumpy Cat. Dennoch, Trump als Figur der Populärkultur, in einer Reihe mit Anrgy Bird und Grumpy Cat: Das könnte ihm gefallen.
Am Dienstag schreibt das Altpapier Christian Bartels.