Das Altpapier am 19. Juli 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 19. Juli 2023 Kettensägenmassaker in der FAZ

19. Juli 2023, 11:15 Uhr

Die CDU nutzt einen Zeitungsbeitrag für eine programmatische Attacke. Eine Studie zur AfD zeigt, dass die bei Medien beliebte Protestwähler-These empirisch nicht haltbar ist. Einem vermeintlichen Nachrichtenportal sind Artikel über Freibäder wichtiger als Beiträge zum Ukraine-Krieg. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Frei dreht frei

Vielleicht ist der Bedeutungsverlust von Zeitungen ja doch nicht so groß, wie es manchmal scheint - jedenfalls, wenn man bedenkt, dass die CDU/CSU ihre "erste große programmatische Anpassung ans 21. Jahrhundert" in der FAZ verkündet. Das Zitat stammt von Jonas Schaible aus dem Hauptstadtbüro des "Spiegel", und vollständig lautet es:

"Die erste große programmatische Anpassung ans 21. Jahrhundert besteht also nicht in einem Plan für den Umgang mit den ökologischen Krisen, sondern in einem Abschied vom individualisierten Menschenrechtsregime des 20. Jahrhunderts."

Bei besagtem Artikel handelt es sich um einen Gastbeitrag von Thorsten Frei, dem parlamentarischen Geschäftsführer der Union im Bundestag. Er plädiert dafür, das individuelle Asylrecht abzuschaffen. Vielmehr solle "Europa (…) jährlich ein Kontingent von 300.000 oder 400.000 Schutzbedürftigen direkt aus dem Ausland aufnehmen und auf die teilnehmenden Staaten (…) verteilen".

In solchen Fällen wird ja gern die Metapher "Dammbruch" bemüht. Die scheint mir hier aber zu schwach zu sein. Freis Text ist eher eine Dammsprengung. Von einem Angriff auf die "zivilisatorischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts" spricht Filiz Polat, Freis Fraktionsgeschäftsführungs-Pendant bei den Grünen. Wobei: Angesichts ihres Mitwirkens an der nicht so zivilisatorischen aktuellen Flüchtlingspolitik sollten Grüne bei diesem Thema lieber nicht auf dicke Hose machen.

"Es ist ein Debattenbeitrag, mit dem die CDU ihr Profil in Migrationsfragen scharf nach rechts rückt",

schreibt Cem-Odos Güler zum Einstieg eines taz-Überblicks zu Reaktionen auf Freis FAZ-Text (weitere Zusammenfassungen siehe u.a. "Legal Tribune Online" und zdf.de). Disclosure: Die sehr naheliegende und dennoch sehr gute Headline des taz-Artikels diente als Inspiration für unsere Zwischenüberschrift. Frei selbst sieht mit seinem Vorschlag übrigens "Rechtspopulisten den Boden entzogen" - obwohl er ihnen gerade ein Betonfundament der Extraklasse gelegt hat.

Die vielleicht treffendsten Worte findet Jan Bielicki in der SZ: Indem Frei das individuelle Grundrecht auf Asyl abschaffen wolle, lege er "die Kettensäge an einen tragenden Pfeiler des Völkerrechts", kommentiert Bielicki fürs Meinungsressort seiner Zeitung.

Ansonsten: Viele Texte zu Frei, aber wenig klassische Meinungsbeiräge. Einer in der "Frankfurter Rundschau" ist mir noch aufgefallen:

"Thorsten Frei ist (…) Jurist - er müsste ziemlich genau wissen, dass sein Ruf nach dem Ende des individuellen Rechts auf Asyl in Europa mit EU-Recht nicht vereinbar ist",

schreibt Ursula Rüssmann dort. Aber möglicherweise gehe es "der CDU-Führung" ja gerade darum, die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention "selbst anzugreifen. Auch Jens Spahn hat die zwei Flaggschiffe des Menschenrechtsschutzes als überholt diffamiert".

Letzteres bezieht sich auf einen Aufritt Spahns im Mai bei "Markus Lanz", wo der CDU-Politiker "unverantwortliche Fantasien" präsentierte ("Frankfurter Rundschau" seinerzeit). Ein Text in einer Zeitung hat aber noch mal ein ganz anderes Gewicht als Äußerungen in einer Talkshow. Der FAZ-Artikel dürfte das Ergebnis eines ausgiebigen Abstimmungsprozesses in der Parteispitze gewesen sein.

Ideologischer Fixpunkt Putin

Die Otto-Brenner-Stiftung (OBS) legt heute ein Arbeitspapier zur AfD vor - unter dem Titel "Radikalisiert und etabliert". Den Veröffentlichungstermin wählte die OBS mit Blick auf den Bundesparteitag der AfD am übernächsten Wochenende und die zu erwartende Vorberichterstattung. Einen der Schwerpunkte des Arbeitspapiers der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder (Uni Kassel) und Bernhard Weßels (Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Uni) benennt die Stiftung in der Pressemitteilung folgendermaßen:

"Die AfD (ist) eine Partei der 'Metamorphosen', die in Putins autoritärer und antiliberaler Politik einen ideologischen Fixpunkt findet."

Die entsprechenden Verbindungen werden unter anderem mit Hinweisen auf häufige Auftritte von AfD-Leuten in russischen Staatsmedien dokumentiert. Als Beispiele nennen Schroeder und Weßels die Bundestagsabgeordneten Steffen Kontré und Eugen Schmidt. Letzterer, so die Autoren, habe Deutschland im russischen Staatsfernsehen

"bereits wiederholt als ein Land dargestellt, in dem Andersdenkende unterdrückt werden. Zudem erklärte er, dass es in Deutschland keine Demokratie gebe und die Medien komplett von der Regierung kontrolliert seien".

Zum Thema AfD und die Medien heißt es in der Studie des Weiteren:

"Die nach rechts offene Mischszene hat mit ihren selbstreferentiellen Kommunikationsnetzwerken ohne Zweifel die Mittel, die Bürger:innen mit Ausgrenzungsgefühlen anzusprechen und entsprechend zu mobilisieren."

Die von den Autoren in dem Zusammenhang genannten "Medienformate": unter anderem "Junge Freiheit", "Deutschland-Kurier", "Compact" und "Tichys Einblick". Das ist nicht falsch, wirkt aber mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen unvollständig - was jetzt nicht als Vorwurf gemeint ist, denn es liegt in der Natur der Sache, dass eine wissenschaftliche Arbeit solche Entwicklungen nicht berücksichtigen kann. Wie auch immer: Wenn "insbesondere bei den konservativen und liberalen Parteien (…) derzeit zu beobachten ist", dass sie "sich inhaltlich und rhetorisch der AfD annähern", wie OBS-Geschäftsführer Jupp Legrand im Vorwort schreibt - dann trägt das ja dazu bei, dass AfD-Positionen auch jenseits von "Compact", Tichy und Co., nämlich in etablierten qualitätsjournalistischen Medien, Nachhall finden. Auch wenn diese Postionen dort dann mit anderen Etiketten versehen werden.

Was die Studie laut Pressemitteilung auch zeigt: Dass die "oft vertretene These", die "Wahlentscheidung für die AfD" sei "allein Ausdruck von Protest und Orientierungslosigkeit", "empirisch nicht haltbar" sei. Das kann man auch als Kritik an Journalistinnen und Journalisten verstehen, bei denen diese "These" - in diesem Kontext eigentlich eine zu hoch gegriffene Formulierung - ja recht beliebt ist.

Als Ergänzungslektüre zum aktuellen OBS-Papier sei noch einmal verwiesen auf die von Wissenschaftlern der Uni Leipzig vorgelegte Studie "Autoritäre Dynamiken und die Unzufriedenheit mit der Demokratie" (siehe dieses Altpapier von Ende Juni).

"Für ein Nachrichtenportal eine spezielle Themenauswahl"

Die Methoden des neuen Medienangebots "Nius" waren am Montag hier bereits anhand eines Beitrags von Julian "Bodentemperatur" Reichelt ein Thema. Für die taz wirft Malene Gürgen nun einen ausführlichen Blick auf die "Nius"-Machart, die der AfD vermutlich nicht missfällt:

"Hier (wird) daran gearbeitet, rechtspopulistische Inhalte mehrheitsfähig zu machen. Die Topthemen der vergangenen Tage: die Wahl einer trans Frau zur Miss Niederlande, die Proteste beim Eritrea-Festival in Gießen, die Berliner Freibäder (…) Zum Freibadthema lässt ein Artikel 17 mit Vornamen zitierte Personen erzählen, warum sie sich im Freibad nicht mehr wohlfühlen. Ein Reporter rennt so lange mit der Kamera um den Badesee, bis er eine Frau findet, die das Problem bei den 'ausländischen Bürgern' sieht. Es gibt einen kitschigen Kommentar zum verlorenen 'Sehnsuchtsort Freibad', eine Chronologie über Gewaltvorfälle in Freibädern mit dem Titel 'Freibadistan' und sechs weitere Beiträge zum Thema. Eine deutlich offensivere Berichterstattung als etwa zum Ukrainekrieg, der bei 'Nius' nur am Rande vorkommt, vielleicht, weil man hier zu Recht Uneinigkeiten im Zielpublikum vermutet. Für ein Nachrichtenportal eine spezielle Themenauswahl."

Wobei Gürgen an der Stelle differenziert:

"Die Selektion von Themen allein wäre, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Journalismus aus einer bestimmten politischen Haltung heraus betrieben wird, kein Grund, 'Nius' zu kritisieren. Zu selektieren und zu gewichten gehört zum Kerngeschäft aller Redaktionen, und nicht nur bei der taz, sondern auch bei der 'Tagesschau' spielen dabei politische Haltungen eine Rolle, denn es gibt keinen Journalismus im luftleeren Raum. Die Luft, in der sich 'Nius’ bewegt, riecht allerdings nach Rassismus, nach Hetze gegen Minderheiten, nach Leugnung der Klimakrise, und das ist das Problem. Dabei wird überspitzt, verkürzt, aus dem Zusammenhang gerissen und manchmal auch schlicht gelogen."

Letztlich ist "Nius" dann doch weniger ein Nachrichten-, sondern eher ein Kulturkampfsport-Portal.


Altpapierkorb (400 Vollzeitstellen weniger bei ProSiebenSat.1, 63,3 Millionen Euro mehr beim ZDF, erste presserechtliche Entscheidung im Fall Lindemann)

+++ Die ProSiebenSat.1-Gruppe "streicht in Deutschland rund 400 Arbeitsplätze (…) Der Abbau entspricht einem Zehntel der etwa 4000 Vollzeitstellen in der Firmenzentrale und in der Unterhaltungs-Sparte." Das berichtet der "Tagesspiegel" unter Rückgriff auf das Material diverser Nachrichtenagenturen. Siehe auch dwdl.de.

+++ Mit einem weiteren Text zur aktuellen Einnahmesituation der Öffentlich-Rechtlichen (siehe Altpapier von Montag) wartet heute die FAZ auf. Das ZDF nahm demnach 2022 aus Rundfunkbeiträgen 63,3 Millionen Euro mehr ein als im Jahr zuvor.

+++ Die Pressekammer des Landgerichts Hamburg hat die "erste presserechtliche Entscheidung im Fall Lindemann" gefällt, und sie bedeutet einen "Zwischen- und Teilerfolg" für den Musiker gegen den "Spiegel", schreibt "Legal Tribune Online". "Was Verdachtsberichterstattung darf und was nicht", lautet die Überschrift eines Michael-Hanfeld-Textes in der FAZ dazu. Den "Spiegel" zitiert Hanfeld mit folgenden Worten: "Das Landgericht Hamburg ist unserer Rechtsauffassung in entscheidenden Fragen gefolgt und hat den Verfügungsantrag von Till Lindemanns Anwalt auch in weiten Teilen zu unseren Gunsten zurückgewiesen. Der Kern unserer Berichterstattung rund um das perfide Casting-System, reichlich Alkohol und die sogenannte, Suck-Box’ bleibt unberührt." Wohingegen der Anwalt des Musikers die Ansicht vertritt, der "schwerwiegendste Vorwurf" gegen seinen Mandaten sei verboten worden. Im bereits erwähnten LTO-Beitrag analysiert Felix W. Zimmermann das Urteil ausführlich. Es sei nicht durchgehend "konsistent", aber "im Grundsatz nachvollziehbar". Da beide Seiten Rechtsmittel einlegen wollen, geht’s demnächst vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht weiter.

Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ralf Heimann.

Mehr vom Altpapier

Kontakt