Das Altpapier am 17. Juli 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab.
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 17. Juli 2023 Korrekturen der Korrekturen

17. Juli 2023, 10:10 Uhr

Eine Hitzeprognose für Sizilien wurde am Wochenende zum Zankapfel: Die einen blieben bei ihrer falschen Berichterstattung. Die anderen korrigierten die Korrektur einer eigentlich korrekten Meldung. Und: Was der Rat für deutsche Rechtschreibung zur Nutzung von Genderbinnenzeichen entschieden hat – und was das bedeutet. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Wie das Klima zum Kulturkampfthema gemacht wird

Es gibt im Journalismus viele Menschen, die naheliegende Fragen rund um den Klimawandeljournalismus diskutieren, weil man sie diskutieren muss: Ist es eine gute Idee, Hitze-Meldungen mit Badespaßfotos zu bebildern? Müsste man viel mehr Daten, Statistiken, Zusammenhänge liefern? Sollte man dem Klimawandel eine eigene W-Frage widmen: Wer hat wo wann was wie und warum getan, und was bedeutet das für die Klimazukunft?

Es gibt im Journalismus aber auch Leute, die so tun, als seien die Folgen des Klimawandels kein epochaltypisches Schlüsselproblem der Menschheit, sondern irgendein Aktivistenquatsch. Das neue rechtspopulistische Portal "Nius" – die neue Homebase von Julian Reichelt – behauptet zum Beispiel: "Wir werden über die Folgen des Klimawandels belogen." Reichelt berichtet falsch, andere Medien (und zwar "nahezu alle Medien im Land und die Bundesregierung") hätten falsch berichtet, in Italien seien 48 Grad gemessen worden. Dabei habe es sich aber gar nicht um die Luft-, sondern die Bodentemperatur gehandelt; so stehe es in einer Mitteilung der europäischen Weltraumagentur Esa.

Nun, die besagte Esa hat ihrer Mitteilung an entscheidender Stelle später noch ein "air" hinzugefügt, um klarzumachen: Doch, es ging sehr wohl um die Lufttemperatur. Aber nachdem der Vorwurf, Medien würden sogar Boden- mit der Lufttemperatur verwechseln, eine Weile durch die Social Media gegangen war, hatten spiegel.de und tagesschau.de tatsächlich ihre Meldungen korrigiert. Die Korrekturen waren falsch, und Reichelt lag doppelt falsch. Denn bei der Esa-Mitteilung handelte es sich überdies noch um eine Prognose und nicht um eine Messung (wie praktisch überall richtig stand, außer bei "Nius").

Lars Wienandt ging bei t-online.de der 48-Grad-Berichterstattung (mit der sich gleich mehrere "blamiert haben", so Andrej Reisin) en detail auf den Grund. "Nius" habe sich "völlig lächerlich" gemacht, befand er, aber von Verschlimmbesserungen der Meldungen von "Tagesschau" und "Spiegel" schrieb er auch. Bei den beiden stehen online unter den Meldungen daher mittlerweile Anmerkungen zu den Korrekturen. tagesschau.de formuliert ihre so:

"In einer vorherigen Version dieses Artikels hieß es fälschlicherweise, auf Sizilien seien 'bis zu 48 Grad Bodentemperatur' möglich. Dabei war die ursprüngliche Aussage bis zu 48 Grad' richtig. Die entsprechende Stelle haben wir wieder korrigiert."

Nur gut, dass sich der ARD-Vorsitzende Kai Gniffke nicht bereits entschuldigt hatte.

Genderbinnenzeichen: nicht verordnet, aber nicht falsch

Wenn es um umkämpfte Themen geht, Gendern etwa, lohnt sich stets ein vergleichender Blick auf die Schlagzeilen. Am Samstag meldete die "Süddeutsche Zeitung" auf Seite 1 in einer acht Agenturzeilen langen Meldung: "Keine Entscheidung zu Genderstern". Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" nahm dagegen einen 57 Zeilen langen Artikel auf die 1, über dem stand: "Rechtschreibrat sieht Genderstern kritisch". Beide Überschriften sind korrekt; eine Factchecking-Abteilung hätte jedenfalls wohl nichts zu monieren.

Aber während die "FAZ" betonte, dass der Rat "seine Entscheidung aus dem Jahr 2021 bekräftigt" habe, "die geschlechtersensiblen Schreibungen mit Binnenzeichen nicht in das amtliche Regelwerk aufzunehmen", bot die "Süddeutsche" – im Feuilleton von Marie Schmidt ausführlich – eine andere Interpretation an: "Wie schon in seinen Erklärungen zum Gendern in den Jahren 2018 und 2021 beteuert der Rat, die Entwicklung des Sprachgebrauchs in dieser Sache weiter beobachten zu wollen, und gibt keine neuen Empfehlungen ab."

Tja, was stimmt? Der doch etwas verzweifelt klingende Leitartikel der heutigen Montags-"FAZ" deutet leise darauf hin, dass das Gendern vom Rat nicht wirklich verworfen wurde ("Wer hält das Gendern auf?"). Aber zunächst einmal ist die Angelegenheit tatsächlich etwas verwirrend: Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat wohl zum einen entschieden, die geschlechtersensiblen Schreibungen mit Binnenzeichen nicht in das amtliche Regelwerk aufzunehmen. Aber er hat zum anderen nicht entschieden, sie nicht aufzunehmen. Noch verwirrender wird es, weil der Rechtschreibrat aus Menschen mit offensichtlich sehr unterschiedlichen Positionen zusammengesetzt ist, die hinterher nicht alle dasselbe sagten.

"Diese Wortbinnenzeichen gehören nicht zum Kernbestand der deutschen Orthografie", steht etwa über einem Video bei welt.de, in dem ein Mitglied des Rats zu Wort kommt, Peter Schlobinski, der sich als ausgewiesener Gegner einer geschlechtergerechten Sprache äußert. Der Germanistikprofessor Henning Lobin dagegen, ebenfalls Mitglied im Rechtschreibrat und offensichtlich kein ausgewiesener Gegner, wird bei spiegel.de von Arno Frank zitiert:

"Es wurde ein einstimmiger Beschluss gefasst, und dieser ordnet die Genderzeichen unter die Sonderzeichen ein. Im amtlichen Regelwerk der deutschen Rechtschreibung gibt es aber bislang keinen Passus zu Sonderzeichen. Dieser wird nun ergänzt, und die Genderzeichen werden darin mit erfasst. Dies ist ein ganz wichtiger Schritt, ein echter Fortschritt."

Kurz gesagt, und das ist es, was ich nach Lektüre diverser Artikel als unumstritten betrachten würde: Genderstern und Co. sind nach wie vor etwas anderes als Punkt und Komma. Aber, und das ist nun offensichtlich neu, sie sind ein eigenes Sonderzeichen-Phänomen – und ihre Nutzung kein Fehler. Genau das waren sie bislang aber nach Meinung vieler, die die Formen ablehnen. Die "Welt" schreibt in einem weiteren Beitrag (an den man sich beim nächsten Clickbait-Beitrag der Redaktion zum Thema "linke Cancel Culture" erinnern sollte):

"Schlagzeilen machen regelmäßig Prüflinge, die behaupten, sie hätten schlechtere Noten bekommen, weil sie nicht gendern. Das ist meist schwer nachweisbar und wird von den Bildungseinrichtungen regelmäßig bestritten. Ganz unbestritten und offensichtlich ist aber das Gegenteil: Es gibt Lehrer und Dozenten, die gegenderte Formen als Fehler anstreichen.  (…) An Gymnasien existieren Lehrer, die gegenderte Formen als Fehler anrechnen – oft nicht nur einmal, sondern mehrfach. Üblich ist eigentlich die Praxis, 'Wiederholungsfehler' nur einmal als notenrelevant zu zählen."

Und dafür fehlt nun die Grundlage. Zumindest laut Germanist Lobin:

"Die Beschlüsse des Rechtsschreibrats haben zumindest klargestellt, dass die Verwendung von Genderzeichen nicht einfach als Rechtschreibfehler gewertet werden sollten. Man könnte sie markieren, da nicht orthografisch, aber nicht als Fehler werten, da es sich um sich derzeit etablierende Sonderzeichen handelt."

Für die weitere Berichterstattung über die kulturkämpferischen Anwandlungen von derzeit vor allem konservativen männlichen Politikern ist das ist nicht uninteressant: Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat, bei aller Uneinigkeit, ein bisschen Luft aus dem Ballon gelassen.

Warum Politiker Fragen nicht beantworten

Man muss Philipp da Cunha nicht dankbar sein. Aber einen kleinen Beitrag zum allgemeinen Verständnis politischer Kommunikation hat er durchaus geleistet. Der SPD-Politiker war von einem NDR-Reporter gefragt worden, wie viel Geld man für die Miete des Hotels bezahlt habe, das die mecklenburg-vorpommersche SPD für ein Bürgerform angemietet hatte. Das Hotel gehört dem Partner der Vize-Vorsitzenden der SPD-Fraktion. Der NDR berichtete im Fernsehen, denn es gibt zumindest "ein Geschmäckle" (spiegel.de).

Was da Cunha allerdings auf die Frage nach dem Preis antwortet, ist keine Antwort auf die Frage: Die SPD führe "seit 15 Jahren im ganzen Land Bürgerforen" durch. Das besagte Hotel sei nicht die erste Wahl gewesen, der Preis dafür "ein ortsüblicher". Das sagt er immer wieder auf die immer wieder gestellte Frage, wie hoch der Preis denn nun gewesen sei. Vier Minuten lang geht das so: "Wie teuer war das?" – "Die SPD führt seit 15 Jahren Bürgerforen im ganzen Land durch." Vier Minuten können erstaunlich lang sein.

Es gab in den letzten Tagen deshalb eine ziemliche Welle, obwohl das Interview schon am 3. Juli auf ndr.de zu sehen war. Das ist seit knapp 15 Jahren bei Twitter ortsüblich, aber sie erreichte auch redaktionelle Medien ("Gaga-", "Blabla-", "wirres Interview"). Markus Reuter ging bei netzpolitik.org eine Stufe weiter und erklärte, wie es zu einem solchen Interview kommen kann:

"Das Vorgehen von da Cunha ist nichts Besonderes. Es wird in Medientrainings unter dem Motto 'Stay on the message' so gelehrt. Grund dafür sind die Mechanismen, die vor allem das lineare Fernsehen geprägt hat. Demnach haben Interviewte in der Regel nur ein Zeitfenster von etwa 15 Sekunden, um ihre Kernbotschaft unterzubringen. Weichen sie von ihrem Text ab, werden sie ihre Kernbotschaft nicht platzieren können. Äußern sie dagegen auf Biegen und Brechen ihre gewünschte Botschaft, dann werden die Medien diese Botschaft in der Regel übernehmen."

Philipp da Cunha hat den Trick angewandt wie ein Zauberer, der einen Hasen aus einem durchsichtigen Zylinder zaubert. Reuter schreibt:

"Das Interview ist nicht wirr, es ist alltäglich. Die breite Öffentlichkeit ist es nur nicht gewohnt, die Umstände eines Statements so transparent nachvollziehen zu können."

Mittlerweile ist der Preis für die Hotelanmietung offengelegt worden. Philipp da Cunha sei "zerknirscht", ist zu lesen. Und wir alle sind ein bisschen besser geschult in der Deutung ausweichender Antworten. In diesem Sinne: Vielen Dank für das Gespräch!

PS: Boris Rosenkranz hat im "Übermedien"-Newsletter ergänzt, dass Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin und Vorsitzende der SPD in Mecklenburg-Vorpommern, auf Fragen zu der Hotelbuchung "weitaus unsympathischer" reagiert: da Cunha, schreibt er, "wendete offenbar sein PR-Trainings-Wissen an. Schwesig hingegen kanzelt, kühl und professionell, mit vielen Jahren Erfahrung, kritische Journalisten-Fragen in einer Weise ab, die tatsächlich Politikverdrossenheit befördern kann."


Altpapierkorb (Holger Friedrich, Klimaaufmacher, HR, SWR, Schauspielerstreik, "Politico")

+++ Die Urteile, die den Quellenschutz betreffen und die der Verleger der "Berliner Zeitung", Holger Friedrich, vergangene Woche zum Anlass nahm, eine "Einladung zu einer Debatte" auszusprechen (Altpapier), sorgen für weitere Berichterstattung. Ronen Steinke schrieb in der Samstags-"SZ": "Es sind zwar bislang nur zwei erstinstanzliche Gerichtsentscheidungen. Vielleicht sind es nur Ausreißer. Vielleicht werden sie noch korrigiert." Er zitiert einen Presserechtler, "der nun gar nicht im Verdacht steht, die Bedeutung von Journalisten für die Demokratie überzubetonen" – Christian Conrad von der Kölner Kanzlei Höcker: "'Wenn das Schule machen würde', sagt Conrad, 'dann erschwert das die Arbeit der Presse ganz erheblich.' Die absehbare Folge wäre: Jeder Informant müsste künftig erst einmal einen ausdrücklichen Verschwiegenheitsvertrag von der Redaktion verlangen, ein 'non disclosure agreement’ inklusive einer Vertragsstrafe. Und das ist dann doch eine ziemlich unrealistische Vorstellung."

+++ Harald Staun zieht in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" in Zweifel, dass man Julian Reichelt in diesem Fall wie einen Whistleblower behandeln sollte: "Wollte Reichelt seine Informationen also überhaupt geheim halten? Schließlich hat er sich nicht an eine Zeitung gewandt, damit diese zur Sache schweigt. (…) Reichelt ist ein Verräter in eigener Sache. Er hatte selbst ein Interesse an einer Berichterstattung – ein Recht, sie zu kontrollieren, hat er nicht."

+++ Die Zahl der Aufmacher, die den Klimawandel zum Thema haben, habe sich auf Onlineseiten erhöht, so Stefan Paulus von der Datenanalyse-Plattform Azernis, in einem Podcast des Bayerischen Rundfunks: Der Krieg in der Ukraine generiere erheblich mehr Aufmacher, die Royals weniger. Aber "vielleicht sind die Royals ein bisschen zu viel im Vergleich zum Klimawandel", so Paulus.

+++ "Hessischer Rundfunk liegt mit 14 Millionen Euro im Plus" (faz.net), aber auch: "Der Südwestrundfunk (SWR) schließt das vergangene Geschäftsjahr mit einem operativen Minus von 61,4 Millionen Euro ab" (Print-FAZ).

+++ Der Streik der Schauspielerinnen und Schauspieler in den USA hat erste, hm, Konsequenzen für Deutschland: "Wegen des Schauspielerstreiks in den USA werden die Darsteller des "Barbie"-Films Ryan Gosling (42) und Margot Robbie (33) nicht zur Deutschlandpremiere nach Berlin kommen", schreibt die Onlineredaktion der "Frankfurter Rundschau".

+++ Aber Schauspieler Hans-Werner Meyer, Vorstandsmitglied des Bundesverbands Schauspiel, hat zumindest die Möglichkeit eines Streiks auch in Deutschland gegenüber der "dpa" skizziert: "Wir sind noch nicht an dem Punkt, dass wir streiken müssten", aber "(a)uch in Deutschland steigt die Unzufriedenheit mit den Gehältern".

+++ Die Medienmarke "Politico", die es auf US- und EU-Ebene bereits gibt, soll auch in Deutschland starten, hat der Springer-Konzern angekündigt. Wann, wurde noch nicht bekannt. "Fest steht aber bereits, dass die Marke in Deutschland zusammen mit Media Pioneer betrieben werden soll", schreibt u.a. dwdl.de. An Media Pioneer ist Axel Springer beteiligt (Altpapier).

+++ Unter der neugierig machenden Überschrift "Unmut wegen Artikel" berichtet "Der Spiegel","Die Regierung von Kanzler Konrad Adenauer (CDU) erwog bereits 1954 – acht Jahre vor der sogenannten SPIEGEL-Affäre – gegen das Hamburger Nachrichten-Magazin wegen Landesverrats vorzugehen."

Das Altpapier am Dienstag schreibt Christian Bartels.

Mehr vom Altpapier

Kontakt