Kolumne: Das Altpapier am 11. Juli 2023 Gute Unterhaltung
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11. Juli 2023, 10:29 Uhr
Warum besorgte Bürger sich um Schönheitswettbewerbe sorgen und was Seifenopern zum gesellschaftlichen Diskurs beitragen. Die Medienthemen des Tages kommentiert Annika Schneider.
Inhalt des Artikels:
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
News von Nius
Wussten Sie, dass die Wahl zur "Miss Nederland" in diesem Jahr eine trans Frau gewonnen hat? Falls Sie das gerade zum ersten Mal lesen, haben Sie sich die neue Plattform Nius, die vergangene Woche an den Start gegangen ist, wahrscheinlich noch nicht näher angeschaut. Denn dort gehört die Miss-Wahl in den Niederlanden gerade zu einem der Top-Themen, das in gleich mehreren Beiträgen abgehandelt wird – mit welchem Tenor, können Sie sich vermutlich denken.
"Niemand versteht die Lebensrealität, den Alltag, die Freuden und Sorgen, die Nöte und Hoffnungen der Mehrheit der Menschen in unserem Land besser als NIUS. Uns kümmert, was die Menschen kümmert."
So beschreibt Nius-Chefredakteur Jan David Sutthoff, der nach eigenen Angaben vorher für die Funke-Mediengruppe tätig war, das Anliegen des Portals. In der Redaktion scheint man also davon auszugehen, dass ein Schönheitswettbewerb in unserem Nachbarland die Menschen aktuell stark beschäftigt – außerdem die Friseurkosten von Angela Merkel und das Recycling von alten Windrädern…
Bloß nicht zu viel Aufmerksamkeit
Es ist zu vermuten, dass in deutschen (Medien-)Redaktionen sehr genau beobachtet wird, was die Nius-Redaktion gerade auf die Beine stellt. Immerhin sind neben Ex-"Bild"-Chef Julian Reichelt auch Ex-"Bild"-Politikjournalist Ralf Schuler und "Focus"-Kolumnist Jan Fleischhauer mit an Bord. In der Berichterstattung halten sich die großen Blätter trotzdem auffallend zurück. Nachdem der "Medieninsider" vorab Hintergründe zu der Finanzierung von Nius durch den Milliardär Frank Gotthardt recherchiert hatte, blieb der tatsächliche Start der Plattform am vergangenen Donnerstag medial weitgehend unbeachtet. Bloß nicht zu viel Aufmerksamkeit für den Newcomer, lautet vermutlich die Devise.
Die kritische Einordnung übernahmen in diesem Fall die öffentlich-rechtlichen Medienmagazine. Moderator Sebastian Sonntag half im gestern hier schon erwähnten WDR5-Medienmagazin erst einmal bei der Kategorisierung:
"Rechtskonservativ: Damit meint die Politikwissenschaft eine Ausrichtung rechts von der CDU, aber nicht verfassungsablehnend – das wäre die Grenze zu rechtsextrem, auch wenn die nicht immer so einfach zu ziehen ist."
So erklärte er in seiner Anmoderation, was Medien wie NZZ, Welt, "Tichys Einblick" und eben auch Nius gemeinsam haben. "Medieninsider"-Chefredakteur Marvin Schade sagte in einem @mediasres-Beitrag von meiner Kollegin Brigitte Baetz, es dürfe seiner Interpretation nach aus Sicht von Julian Reichelt "rechts seiner Medien kein anderes großes Medium geben" (wobei Reichelt ja keineswegs Inhaber oder Chef von Nius ist). Das sei immer wieder auch eine Gratwanderung "auf einem sehr schmalen Grat zum vielleicht Rechtspopulismus und inhaltlich auch in Richtung der AfD".
Umdeuten, weglassen und ganz viel Unverständnis
Im WDR5-Beitrag von Michael Meyer beobachtet Simone Rafael von der Amadeu-Antonio-Stiftung bei Nius einen Stil, der sie an Ex-Fox-News-Moderator Tucker Carlson erinnert:
"Das schürt halt eine Demokratiefeindlichkeit, die ganz gefährlich enden kann."
Es lohnt sich an dieser Stelle noch einmal in einen DWDL-Text von April hineinzulesen, in dem Timo Niemeier Julian Reichelts YouTube-Kanal analysiert und dort einen "Strudel aus immer scheußlicheren Weltuntergangsszenarien" beobachtet hat.
"Reichelt bedient sich eines einfachen Tricks: Er bespricht aktuelle Themen, beleuchtet dabei aber nicht alle Seiten. Im Gegenteil: Meistens stellt er genau die Seite ins Schlaglicht, die ihm am besten in den Kram passt. […] Umdeuten, weglassen und ganz viel Unverständnis draufkippen: Das ist das Prinzip von Julian Reichelt."
Ganz ähnlich mutet nun auch das "journalistische" Vorgehen von Nius an – nur dass es sich hier nicht um ein an eine Person geknüpftes Format wie "Achtung, Reichelt!" handelt, sondern um ein Portal mit dem Anspruch, aktuelle Nachrichten zu liefern. Oder, wie Nius es formuliert: ein "journalistisches Fundament" für die Meinungsmach-, pardon, Meinungsbildung.
Dabei nutzen diese und ähnliche Medien den Eindruck mancher Menschen, andere Medien seien zu "links". Warum dieser Eindruck überhaupt entsteht, erklärt bei WDR5 der Medienwissenschaftler Benjamin Krämer, der an der LMU München zu rechtskonservativen Medien forscht. Manche Themen seien eben mit politischen Lagern assoziiert, sagt er:
"Es ist ja nicht ganz falsch, dass wenn ein Thema prominent ist in den Medien, dass dann bestimmte politische Lager davon profitieren und andere weniger. Das ist beim Zuwanderungsthema genauso der Fall wie beim Klimathema."
Will heißen: Solange der Klimawandel in der aktuellen Debatte so präsent ist (was inzwischen ja zum Glück der Fall ist), lässt sich die Berichterstattung als politisch einseitig auslegen – dahinter steckt allerdings ein grundlegendes Missverständnis von journalistischem Arbeiten auf Rezipientenseite. Was nicht heißen soll, dass daran ausschließlich die Rezipientinnen und Rezipienten schuld sind.
Gute Unterhaltung wünscht ein Gastbeitrag
Dauergast in dieser Kolumne ist die Debatte zur Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen. Sie wird zwar intensiv geführt wie lange nicht, weist aber trotzdem große Defizite auf – zu diesem Schluss komme nicht nur ich, auch Stefan Niggemeier weist bei "Übermedien" immer wieder darauf hin, zuletzt anlässlich der CSU-Forderung, das öffentlich-rechtliche Jugendangebot Funk zu verbieten.
"Beim ZDF hat man kein Interesse daran, die Öffentlichkeit (und damit die Beitragszahler) vernünftig und transparent zu informieren. Und der CSU-Bundestagsfraktion geht es nicht ernsthaft um eine Debatte um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den Umgang mit angeblichen unverbesserlichen Problemen. Es geht ihr um eine markige Schlagzeile in der ‚Bild‘-Zeitung, es geht ihr darum, mit einer populistischen Forderung billige Punkte bei Wählern zu machen."
Woran die Debatte krankt, damit beschäftigen sich in einem Gastbeitrag auf der FAZ-Medienseite auch fünf Medienmenschen, vier davon aus dem Umfeld des Grimme-Instituts. Harald Gapski, Frauke Gerlach, Gerd Hallenberger, Tanja Weber und der Publizistik-Professor Christoph Neuberger sehen zwar einen "Schlüsselmoment" in der Debatte über die Öffentlich-Rechtlichen, finden die Diskussion allerdings mangelhaft. Sie sei verkürzend, an Einzelinteressen ausgerichtet und beteilige Bürgerinnen und Bürger zu wenig. Vor allem das Thema Unterhaltung müsse anders diskutiert werden, heißt es:
"Indirekt, aber dafür umso nachhaltiger thematisieren Unterhaltungssendungen gesellschaftliche Normen und Werte, unsere Vorstellungen von gelingendem Leben und zivilgesellschaftlichem Zusammenhalt: Wie wollen wir leben? Was ist uns wichtig? Wie gehen wir mit unseren Mitmenschen um? Was ist tolerabel und was nicht? Wohin wollen wir uns entwickeln? All diese Fragen spielen in Unterhaltungssendungen eine wesentliche Rolle, weil sie Wertvorstellungen im praktischen Einsatz zeigen: vom Quiz, das unsere Vorstellungen von Wissen und Bildung spiegelt, über die Talkshow, die neben Themen über den Stand unserer Gesprächskultur informiert, bis zu allen fiktionalen Genres. Krimis kann man beispielsweise entnehmen, wovor wir Angst haben und wie wir wollen, dass mit diesen Ängsten umgegangen wird; Soap Operas stellen einen kontinuierlichen Diskurs über alltägliche Probleme der jeweiligen Zielgruppen dar."
Die Unterhaltungsangebote hätten nichts mit "Geschmacksfragen" zu tun, schreibt das Autorenteam, sondern mit dem gesellschaftlichen Auftrag. Außerdem fordert der Beitrag mehr Engagement der Sender im digitalen Raum, unter anderem mit eigenen Plattformen mit offenen Standards – klingt nach einer öffentlich-rechtlichen Alternative zu Twitter und Threads.
Unbekannter bekannter BBC-Moderator im Rampenlicht
Teilweise schon wieder überholt ist die heutige Print-Berichterstattung von FAZ und SZ über aktuelle Vorwürfe gegen einen BBC-Moderator. Eine Mutter wirft dem Mann vor, ihren minderjährigen Sohn für Nacktbilder bezahlt und damit dessen Drogenkonsum finanziert zu haben. Diskutiert wird nun nicht nur über den Fall selbst, sondern auch darüber, ob die BBC schnell genug auf die Vorwürfe reagiert hat.
Veraltet ist diese Berichterstattung deshalb schon wieder, weil das mutmaßliche Opfer die Vorwürfe zwischenzeitlich in einem Brief dementiert haben soll. Das berichtete die FAZ gestern Abend online mit Verweis auf eine dpa-Meldung.
Ganz gut fasst "Spiegel online" das Bekannte zusammen mit dem Satz: "Die Faktenlage: unklar." Zuerst berichtet hatte die britische "The Sun", die ihre eigene Arbeit mit dem Slogan "News, sport, celebrities and gossip" zusammenfasst und das BBC-Thema weiterhin ganz oben auf ihrer Webseite präsentiert.
Nicht einmal die "Sun" nennt den Namen des Moderators, was vermutlich juristische Gründe hat. Sollte sich der Mann als unschuldig herausstellen, wäre zumindest sein Name nicht auf ewig mit dem Thema verknüpft. Andererseits haben bereits mehrere bekannte BBC-Moderatoren erklärt, dass es um sie nicht gehe. Wenn das so weitergeht, bleibt nach dem Ausschlusskriterium irgendwann nur noch einer übrig.
Laut "Spiegel online" ist der Betreffende inzwischen suspendiert, die Polizei ist involviert. Ermittlungen seien aber noch nicht eröffnet worden.
Altpapierkorb ("Spiegel"-Umfragen, Streaming-Budget, Berichte über EU-Außengrenzen und G+J)
+++ "Medienpopulismus" wirft Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite dem "Spiegel" vor, weil der für seine Berichterstattung fragwürdige Umfragen in Auftrag gebe.
+++ Dass Menschen in Deutschland wieder weniger Geld für Streaming-Dienste ausgeben, zeigt eine repräsentative Bitkom-Befragung.
+++ Dass in der Berichterstattung über ertrunkene Migrantinnen und Migranten im Mittelmeer die Betroffenen zu oft anonym bleiben, findet die Journalistin und Podcast-Produzentin Viola Funk. Sie wünscht sich bei @mediasres außerdem mehr Berichterstattung über politische Zusammenhänge: Mit den "immer gleichen Bildern zur gleichen Geschichte" werde Ohnmacht erzeugt.
+++ Der Betriebsrat von G+J warnt in einem internen Schreiben vor Hacker-Angriffen, weil in der IT-Abteilung zu viele Stellen abgebaut worden seien, berichtet Anna Ernst auf der SZ-Medienseite.
Das nächste Altpapier kommt morgen von Christian Bartels.