Kolumne: Das Altpapier am 7. Juli 2023 Nicht ignorieren, nicht ikonisieren
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07. Juli 2023, 08:31 Uhr
Der "Stern" führt die Diskussion über sein Alice-Weidel-Cover weiter. SPD-Medienpolitiker Carsten Brosda argumentiert, die EINE gemeinsame öffentlich-rechtliche Mediathek brauche es nicht. Und an Artikeln übers Sparen in ARD-Anstalten wird auch heute nicht gespart. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Darf man?, fragt der "Stern"
Eine Woche zu spät fragt sich der "Stern": "Darf man mit Alice Weidel reden?" Vergangene Woche hatte das Magazin die AfD-Politikerin auf dem Titel und innen im Heft ein langes Interview. Nun fragt er, viel kleiner, aber auch noch auf dem Titelblatt, ob man das denn so machen kann. Die Frage, ob man mit Weidel reden dürfe, ist insofern wässrig, als die Diskussion vor allem darum kreiste, in welchen Formaten man mit ihr reden (Altpapier) und ob man mit ihr hinguckermäßig titeln sollte (Altpapier). Aber gut, man kann es auch so sehen: Man stellt sich im "Stern" immerhin der Diskussion.
Zielführender ist die Frage, mit der dann das Gespräch zum Coverteaser im Inneren des aktuellen Hefts überschrieben ist: "Wie sollte man mit Rechten reden?" Es führen zwei Externe: Natascha Strobl und Hasnain Kazim. Einerseits ist Weidel die derzeit wohl gesichtsbekannteste Figur einer im Bundestag vertretenen Partei, die momentan bei Umfragewerten steht, die eine Nichtbeachtung nicht rechtfertigen. Ignorieren könne man Rechte nicht, sagt Journalist Kazim: "Menschen laufen doch erst recht zu diesen Extremisten, wenn man sie ignoriert." Andererseits: "Die Ikonisierung ist das Problem", sagt Strobl, die sich mit ihren Analysen rechter Kommunikationsstrategien einen Namen gemacht hat.
Beide Thesen sind nicht neu. Aber es führt auch nicht weit, die Debatten über den medialen Umgang mit der AfD nach News abzusuchen. Eher muss man sie mit dem hermeneutischen Zirkel nachmessen: Wer eine Sache verstehen will, bringt schon Vorverständnis mit, und zusammen ergibt sich ein anderes Verständnis der Sache… Zum Beispiel dieses: Zwischen Ignorieren und Ikonisieren gibt es noch ein paar Möglichkeiten.
Die beiden Denkschulen, die momentan den Diskurs über den medialen Umgang mit stramm rechten Parteien prägen, sind im "Stern"-Gespräch freilich gut erfasst:
- Schule 1: Man darf nicht auf die politische PR reinfallen, die die AfD in Gestalt von Weidel betreibt.
- Schule 2: Das Abwertungsgefühl von Leuten, die die AfD attraktiv finden, wird durch Wegschauen eher noch größer.
Die zweite Position vertrat in dieser Woche der Jenaer Soziologe Klaus Dörre in einem "Spiegel"-Interview. (Sein Münchner Kollege Armin Nassehi sah in Dörres Erkenntnissen Parallelen zu einer Studie über potenzielle Trump-Wähler in den USA.) Als Dörre gefragt wurde, warum so viele Menschen eine Partei wie die AfD attraktiv fänden und was er als Strategie empfehle, antwortete er:
"Ein Anfang wäre, die Berechtigung vieler Entwertungsgefühle anzuerkennen. Die Lohnungleichheit ist real, auch die Geringschätzung nach dem Motto: Arbeiter wird nur, wer nicht studieren und ins Büro gehen kann. Für Politik, Kultur und Medien sind die Arbeiter verschwunden, obwohl es so viele von ihnen gibt. Wie viele Beiträge hat der SPIEGEL in der Pandemie über das Homeoffice veröffentlicht – und wie viele über die Millionen, die jeden Tag in Kraftwerke, Heime und Supermärkte mussten, um alles am Laufen zu halten?"
Entwertungsgefühle anerkennen: Das vertritt auch Hasnain Kazim, der sich nicht nur im "Stern" äußert, sondern der auch in der "Zeit" zum Thema schreibt. Und wie Dörre stellt auch er einen Medienbezug her:
"Argumentative Entkräftung und Entlarvung der AfD wird nicht reichen, denn nach meiner Wahrnehmung spielen Emotionen eine weitaus wichtigere Rolle als Inhalte. Man muss die AfD gar nicht entzaubern, denn das ist sie längst. Ich habe lange Zeit befürwortet, dieser Partei keine Bühne zu geben, ihr keinen Raum zu lassen, ihrem Wort kein Gehör zu schenken. Aber ich erkenne das Argument an, dass sie das letztlich nur stärkt – weil man damit bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung das Gefühl verstärkt, nicht einmal gehört zu werden, nicht dazuzugehören und schlechte Menschen zu sein, dumm und charakterlich degeneriert."
Natürlich ist das ein Teufelskreis: Wenn Menschen, weil sie sich nicht zugehörig fühlen, eine Partei wählen, die auf ihrer rechten Seite nicht einmal mehr eine Grenze andeutet – dann sollen sie gehört werden, damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlen? Das Ende der Debatte wird das nicht sein. Aber dass es einfache Strategien gäbe, hat auch wieder niemand behauptet. Klaus Dörre übrigens, wenngleich auch etwas ratlos wirkend, betont eher die Bindungs- und Adressierungsfähigkeit der Gewerkschaften als die der Medien.
Brosda will "die Handbremse lösen"
Viel spezieller um die gesellschaftlichen Aufgaben von Medien, noch spezieller der öffentlich-rechtlichen Medien, geht es in einem Rundumschlag-Interview, das Diemut Roether für epd Medien mit Carsten Brosda geführt hat, dem Hamburger Mediensenator (SPD), der Mitglied der Rundfunkkommission der Bundesländer ist. Er sagt zum Beispiel: "Diese Haltung zu sagen: Was ich mache, ist richtig, verwundert mich manchmal am Journalismus und den Medien." Wenn Politiker Medienkritik üben, ist das oft ein durchsichtiges Manöver: Da hat jemand nicht so berichtet, wie es genehm ist, also gibt’s jetzt eine Retourkutsche. Brosda kann man das nicht vorwerfen. Er spricht über Strukturfragen und die Architektur der Medienlandschaft, ohne konkrete Inhalte zu kritisieren.
Picken wir nur einen Aspekt heraus: Wie können öffentlich-rechtliche Angebote die ganze Gesellschaft erreichen, wozu sie "programmatisch und staatsvertraglich verpflichtet" sind, wenn das Programm, wie es digital geschieht, zunehmend entbündelt wird und die Mediatheken das Lineare ablösen? Brosda:
"(D)ie, die künftig alt werden, gucken in dem Alter nicht mehr linear, die werden sich weiterhin über die Mediatheken informieren. Und da brauchen wir eine Personalisierung. Was jetzt das Lineare schafft, wird künftig in den Mediatheken nur gelingen, wenn wir das angeboten bekommen, was uns auch interessiert. Natürlich sollten öffentlich-rechtliche Angebote auch da immer dem Allgemeinheitsanspruch genügen. Aber sie müssen mehr ausprobieren: Eine öffentlich-rechtliche Mediathek muss keine Eins-zu-eins-Nachbildung von Netflix sein. Da müssen wir auch medienpolitisch die Handbremse lösen, um das Ausprobieren beim Rezipieren von öffentlich-rechtlichen Inhalten zu ermöglichen."
Es müsse seiner Ansicht nach auch nicht die eine Mediathek geben:
"Ich glaube, dass auch ein kluges wechselseitiges Verschränken der Angebote möglich ist. Ich fände es spannend, wenn wir über die ARD-App auch mehr ZDF-Inhalte bekämen oder Inhalte von France TV oder spanische Inhalte. Ich würde nicht zwingend sagen, wir brauchen DIE deutsche oder europäische Plattform. Da würde man sich zehn Jahre streiten, wie sie heißt, wer sie überwacht, wer sie leitet und hätte beim Markteintritt wahrscheinlich viel Geld verbrannt, bis man überhaupt an den Start kommt. (…) Man könnte das noch weiterdenken und sagen: Mein Eintrittspunkt in die digitale Welt ist 'Zeit.de', dann könnte ich auch über 'Zeit.de' öffentlich-rechtliche Inhalte bekommen."
Handbremse lösen, das Netz als Netz…
Nicht im Haushalt: die Pressezustellförderung
… und gleichzeitig geht es auf einer anderen Baustelle um eine klemmende Säge im Bereich Print: die von Verlagen gewollte Förderung durch die Bundesregierung. Die hat den Bundeshaushalt 2024 vorgelegt; medial für Debatten haben vor allem die Änderungen beim Elterngeld gesorgt. Aber auch für die Pressezustellförderung gibt es Konsequenzen: Es wird im nächsten Haushalt kein Geld dafür geben, Stand heute jedenfalls – epd Medien baut ein "noch" in die Meldung ein. Wenn es so kommt, könnte das nicht nur am Finanzhaushalt, sondern auch an der ungeklärten Zuständigkeit liegen.
"Vor dem Regierungswechsel lag diese im Bundeswirtschaftsministerium, das 2021 auch ein Gutachten zum Thema veranlasste. Doch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sieht sich hier nicht mehr verantwortlich", heißt es auf den Seiten des Deutschlandfunks. Und ob das Staatsministerium für Kultur und Medien einspringt, sei auch nicht entschieden. Wird dessen Leiterin, Claudia Roth, von der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA) zitiert.
Und nun? Presseförderungsexperte Christopher Buschow von der Uni Weimar sehe nun stärker die Bundesländer in der Verantwortung, sagte er im Deutschlandfunk. "Das kann im besten Fall auch eine in der Rundfunkkommission der Länder – die eigentlich eine Medienkommission der Länder sein müsste – abgestimmte, gemeinsame konzertierte Aktion für die Förderung des Journalismus sein."
Die "FAZ"-Medienseite aber, die die von den Verlegern geförderte Presseförderungsdebatte intensiver als andere überregionale Medienredaktionen begleitet, klingt (derzeit nicht online) doch schwer resigniert:
"Zuletzt hatte Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt (SPD) auf dem Kongress der Zeitschriftenverleger – des Medienverbands der Freien Presse (MVFP) – Ende Juni in Berlin die Branche vertröstet. Es gebe 'noch keine fertigen Lösungen', 2024 gehe es weiter. Folgt man den von KNA übermittelten Worten Claudia Roths, muss es wohl heißen: Nach 2024 geht es – vielleicht – weiter. Neue Erkenntnisse über das Zeitungssterben und Regionen, in denen die Presse auf Papier nicht mehr verteilt wird, dürfte es bis dahin sicherlich geben."
ARD, SpARD
Eine andere größere Geschichte ist offiziell beendet: "Der neue Rundfunk Berlin-Brandenburg hat begonnen – er ist raus aus der Krise." Gut, offiziell im Sinn von: RBB-Interimsintendantin Katrin Vernau hat das in ihrer letzten Rundfunkratssitzung gesagt, zumindest wird sie bei tagesspiegel.de so zitiert. Das hätten, berichtet Joachim Huber, allerdings nicht alle so gesehen, erstens weil nach der Schlesinger-Affäre der abschließende Compliance-Bericht der beauftragten Kanzlei noch nicht vorliege. Zweitens: definiere Krise! Auf den Artikel über den RBB, in dem es nicht irgendwie auch ums Sparen geht, muss man jedenfalls auch noch warten.
Sparen: auch ein Thema beim NDR, mit dessen diesbezüglichen Bemühungen sich Helmut Hartung in der "FAZ" beschäftigt: "Der Landesrechnungshof Schleswig-Holstein fordert in seinem Jahresbericht den Norddeutschen Rundfunk auf, dauerhafter zu sparen, langfristiger zu planen und seine Kosten transparent darzustellen", beginnt sein Artikel.
Und noch ein Text, in dem "Öffentlich-Rechtliche" und zumindest einmal auch eine Form des Verbs "sparen" vorkommen, steht in der "Süddeutschen" und stammt vom aus RBB und WDR bekannten Böhmermann-Kritiker, Schriftsteller und Moderator Jörg Thadeusz. Der die RBB-Krise zumindest am Abklingen sieht –
"Langsam wächst wieder Fell nach. Überall an den Stellen, wo die öffentlich-rechtliche Löwin im vergangenen Jahr rasiert worden ist. Von jedem, der zufällig vorbeikam und Bock auf Rache hatte" –,
aber auch findet, das Gute am öffentlich-rechtlichen Rundfunk sei nicht das, was da prominent an Satireformaten laufe, sondern vor allem seine Gründung:
"Die britischen Sieger finden ein Land vor, in dessen Trümmern überzeugte Anhängerinnen einer Diktatur hausen. Am Ende des Krieges waren immer noch mehr als acht Millionen Menschen Mitglieder der NSDAP. Diesen autoritär denkenden Besiegten schenkten die Briten ein raffiniertes Werkzeug ihrer Demokratie, nämlich das Modell der BBC."
Altpapierkorb (Mely Kiyak, "Bundesthesenspiele", ChatGPT)
+++ Mely Kiyak, die bei Zeit Online lange "Kiyaks Deutschstunde" schrieb, hat ihre Kolumne mit einem Abschiedstext beendet, in dem sie nebenbei ein paar Wahrheiten über die Gattung formuliert: "Es gibt in diesem Genre ohnehin nur diese zwei Techniken. Man verkleinert, verniedlicht, bagatellisiert, oder aber man vergrößert und skandalisiert. Ästhetisch gibt die Gattung der Kolumne nicht viel her. Ich habe mich an diesem Format fertig geliebt."
+++ "Man verkleinert, verniedlicht, bagatellisiert, oder aber man vergrößert und skandalisiert": Letzteres ist schön nachzuvollziehen an den Kolumnen über die Reform der Bundesjugendspiele für die dritten und vierten Klassen, die aus Gründen, die dann wohl mit der Gattung Kolumne zu tun haben müssen, zu einer Komplettabschaffung von gravierenden Ausmaßen vergrößert wurde. "Wenig sagt so viel aus über das Deutschland von heute, satt und matt, wie, Achtung: die links- und gefühlsgetriebene Abschaffung der Bundesjugendspiele", schrieb, zum Beispiel, "Spiegel"-Kolumnist Nikolaus Blome. Für freitag.de habe ich mich mit den "Bundesthesenspielen" beschäftigt: "Warum diese Aufladung? Warum diese größtmöglichen Worte? Leiser Verdacht: Der Leistungsgedanke der Bundesjugendspiele hat sich auch im Thesenjournalismus festgesetzt, und so wollen die Besten immer wieder und wieder ihre Punkte in den Disziplinen 'Reaktionen provozieren', 'Sau durchs Dorf treiben', 'Ausrufezeichen setzen', 'Die Linken verantwortlich machen', 'Den Kapitalismus verantwortlich machen' und 'Den Teufel an die Wand malen' sammeln. Denn nur so geht’s zur Ehrenurkunde."
+++ChatGPT – nun auch Thema bei Ultralativ auf YouTube. Protipp dort: skeptisch bleiben, wenn jemand in Künstlicher Intelligenz "den Schlüssel zur Revolution in allen Bereichen" sehe.
Das nächste Altpapier erscheint am Montag. Dann meldet sich hier Johanna Bernklau. Schönes Wochenende!