Kolumne: Das Altpapier am 23. Juni 2023 Googeln kann jeder, recherchieren nicht
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23. Juni 2023, 10:11 Uhr
Die Schicksale zweier Schiffsunglücke sind medial weiter sehr präsent – und zeigen, wie Journalismus echte Nähe schafft. Die ARD findet derweil große Worte für kleine Reformschritte. Die Medienthemen des Tages kommentiert Annika Schneider.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Wie Recherche Nähe schafft
Es sieht so aus, als käme die Berichterstattungswelle zum verschollenen Tauchboot "Titan", die gestern hier im Altpapier schon Thema war, nun zu einem traurigen Ende: Die fünf Insassen seien nach Einschätzung der US-Küstenwache wahrscheinlich ums Leben gekommen, meldet die "Tagesschau".
Wer die Verunglückten waren, darüber ist – bis hin zu ihren Hobbys – inzwischen viel bekannt. Vermutlich hat fast jeder irgendwo Fotos von den Bootsinsassen gesehen. Das unterscheidet die mutmaßlich Toten von den mehreren Hundert Menschen auf dem Fischkutter, der vor der griechischen Küste gekentert ist und um den es hier gestern ebenfalls schon ging:
"Die Menschen auf dem Schiff haben kein Gesicht, keinen Namen und vor allem keine Geschichte, die Anknüpfungspunkte an das eigene Leben liefern könnten",
schrieb mein Altpapier-Kollege Ralf Heimann gestern. Was Ralf sagen will, ist klar – klar ist aber auch, dass die Menschen auf dem Schiff natürlich Gesichter, Namen und Geschichten haben. Und ganz im Sinne des gestrigen Altpapiers ist es eine ureigene Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten, diese zu recherchieren.
Wie gestern beschrieben: Verschollene Billionärssöhne googlen oder Social-Media-Diskussionen nacherzählen (zum Beispiel hier), kann jeder. Das bekommt sogar KI hin. Wie echte Recherche geht, zeigt "Spiegel online" (Tweet): Dort braucht es vier Journalistinnen und Journalisten in drei Städten, um zu rekonstruieren, wieso das überfüllte Schleuserboot im Mittelmeer kenterte – und um zumindest die Geschichten einiger Menschen auf dem Boot zu erzählen. Dass dabei ebenfalls große (emotionale) Nähe entstehen kann, zeigt der Text sehr eindrücklich.
Gesicht(er) zeigen
Auch die "Süddeutsche Zeitung" hat nach der "Schiffskatastrophe im Mittelmeer" weiter recherchiert und macht sie heute zum "Thema des Tages" – unter anderem, indem sie prominent die Gesichter von einigen der Vermissten zeigt: Oben auf der Seite sind drei Fotos von jungen Männern zu sehen. Diese Fotos werden wiederum in Händen gehalten von ihren Angehörigen, was die emotionale Zugänglichkeit quasi verdoppelt – eine kluge Wahl des Motivs.
Über das Tauchboot-Unglück berichten "Spiegel online" und SZ trotzdem weiter ausführlich, unter anderem in einem Stück von "Spiegel"-Wissenschaftsredakteur Christoph Seidler mit ganzen 16 Minuten Lesezeit (Tweet). Wenn es um die beiden Ereignisse geht, sollte man natürlich nie Äpfel mit Birnen vergleichen – manchmal aber vielleicht doch, wie Arno Frank, ebenfalls bei "Spiegel online" schreibt (Tweet). Er ergänzt in seiner Betrachtung der Berichterstattung zu den beiden Booten noch einen Aspekt, der hier gestern nicht zur Sprache kam:
"Möglicherweise gehört das eine Geschehen der popkulturellen Sphäre an, während das andere leider politisch ist."
ARD-Reform: Es wird (ein bisschen) konkret
Sie hätten "verdammt hart gearbeitet" und nun gebe es bei den Reformen "kein Zurück": Der ARD-Vorsitzende Kai Gniffke gab sich gestern Nachmittag alle Mühe, den Eindruck zu vermitteln, der Senderverbund würde bei seinem Reformprojekt flott vorankommen. Bei einer Pressekonferenz berichtete Gniffke gemeinsam mit der Programmdirektorin Christine Strobl von den Ergebnissen des Intendantentreffens diese Woche in Stuttgart.
"Bei der ARD ist man vom eigenen Tempo ganz berauscht, auch wenn es von außen betrachtet gemächlich erscheint",
brachte es Uwe Mantel bei DWDL auf den Punkt. FAZ und SZ sind die Ankündigungen der Sender auf ihren Medienseiten jeweils nur wenig Platz wert. Während die FAZ bei den Fakten bleibt, kann sich Claudia Tieschky in der SZ ihren Ärger über unkonkrete Antworten in der Pressekonferenz nicht verkneifen.
Eine gute Zusammenfassung bietet Joachim Huber im "Tagesspiegel". Ganz so konkret wie von Gniffke angepriesen wird es bei der Reform tatsächlich noch nicht. Aber auf ein paar Dinge haben sich die Intendantinnen und Intendanten schon geeinigt.
Hörspiel-Planung remote
Die schon angekündigten journalistischen Kompetenzzentren, bei denen jeweils ein Sender federführend die Inhalte zu den Oberthemen Verbraucher, Klima und Gesundheit übernehmen soll, sollen 2024 starten. Welcher Sender was macht, steht noch nicht fest, aber es sind wohl weitere Zentren angedacht, unter anderem zu den Themen KI, Reise und Touristik sowie Ernährung und Kulinarik. Bei der umstrittenen Zusammenlegung von Ressourcen im Bereich Hörspiel soll es auf eine "virtuelle Gemeinschaftsredaktion" hinauslaufen, in der bisherige Hörspielredaktionen aufgehen. "Niemand muss umziehen", versprach Gniffke den Hörspielredaktionen der Sender.
Auch an anderer Stelle sollen Programmkooperationen Ressourcen sparen, indem Radiosender voneinander Programm und Beiträge übernehmen und die Gemeinschaftsprogramme, die einige Sender schon jetzt nachts betreiben, bereits um 20 Uhr beginnen könnten. Auch für die Dritten Programme soll es nach einen Baukastensystem Programmmodule geben, die sie übernehmen können.
Der Austausch mit dem Publikum soll ebenfalls gestärkt werden, unter anderem indem erfolgreiche Beteiligungsformate in einzelnen Häusern auf andere Sender ausgeweitet werden. Außerdem will Gniffke sich öfter direkt den Fragen und der Kritik des Publikums stellen. Als Beispiel nannte er ein Fragenevent auf Instagram sowie die jüngste Fragestunde mit ihm auf der re:publica in Berlin – wobei letztere ein schlechtes Beispiel ist, weil die Teilnehmenden dort überwiegend ARD-Beschäftigte waren, wie mir mein Deutschlandfunk-Kollege Stefan Fries, der dabei war, berichtet hat.
Sparen am falschen Ende?
All das geht grundsätzlich in Richtung der Forderungen, die die Politik seit einiger Zeit gebetsmühlenartig wiederholt: Ressourcen sparen durch mehr Kooperation und Zusammenarbeit. Uwe Mantel kommt bei DWDL zu einem positiven Schluss:
"Man hat in der ARD inzwischen endlich verstanden, dass die Zeichen angesichts kaum durchsetzbarer Beitragserhöhungen auf Kooperation und Arbeitsteilung stehen müssen."
Der Deutschlandfunk zitiert allerdings auch weniger positives Feedback, nämlich von Olaf Steenfadt von der Initiative "Unsere Medien":
"Was hier als Reform verkauft wird, ist ja eigentlich ein Sparprogramm, und zwar an der falschen Stelle."
Denn gespart werde an der Regionalität und im Informationssektor, nicht jedoch im Unterhaltungssektor und bei den Sportrechten. Für ihn ist die Reform "kein großer Wurf".
Kai Gniffke äußerte sich ebenfalls kurz nach der PK im Deutschlandfunk im Interview mit Sebastian Wellendorf und verteidigte dort seine Pläne. Durch die Bündelungen werde die ARD die Kraft gewinnen,
"um genau im Regionalen noch stärker werden zu können, um mehr Regionalität zum Beispiel in der Mediathek oder der Audiothek abbilden zu können. Wir werden die digitale Verlagerung und Transformation viel, viel besser gestalten können, wenn wir uns nicht verschleißen in Parallelarbeit."
Er spricht von einem "Paradigmenwechsel". Ich würde sagen: In den Reformideen steckt tatsächlich viel Potential. Wie groß die Änderungen tatsächlich ausfallen und welche Folgen das für die journalistischen Inhalte in den einzelnen Sendern hat, hängt aber sehr stark von der Umsetzung ab. Es lohnt sich also, in nächster Zeit sehr genau hinzusehen, wie sich Sendungen und Programmschemata verändern.
Altpapierkorb
+++ Eine Mutter soll 2.000 Euro Strafe zahlen, weil sie Videoaufnahmen an den NDR weitergegeben haben soll, die dieser dann nicht ordnungsgemäß verpixelte. Klingt absurd? Die ganze Geschichte gibt es in der taz (Tweet).
+++ Mit Facebook-Anzeigen, die auf gefälschte Nachrichtenseiten von "Spiegel", SZ und anderen bekannten Medienmarken führte, sollen Betrüger versucht haben, Geld zu erbeuten. Über diese "Cybercrime-Masche" berichtet Max Hoppenstedt im Ressort Netzwelt bei "Spiegel online". Eine Meta-Sprecherin spricht von einem "branchenweiten Problem". Auch die FAZ berichtet auf ihrer Medienseite darüber.
+++ "Ein Rausch für 2" lautet der Untertitel einer fragwürdigen Sendung im österreichischen Privatfernsehen, die Timo Niemeier bei DWDL kommentiert. Es geht um Dates, bei denen die Teilnehmenden mindestens ein Promille Alkohol im Blut haben müssen.
+++ Über den Umgang mit Fehlern beim ZDF spricht Wulf Schmiese, Redaktionsleiter des "heute journal" bei Übermedien. In dem Interview mit Frederik von Castell erklärt er unter anderem, warum er Korrekturen lieber nicht öffentlich begründet: "Der legendäre Wolf Schneider wird noch heute von seinen früheren Journalistenschülern zitiert mit dem Satz: ‚Gründe sind die Pest.‘ Das sollte auch beim Umgang mit Fehlern gelten: eingestehen, um Entschuldigung bitten und den Inhalt, um den es eigentlich ja geht, dann richtig darstellen. Die Gründe für den Fehler interessieren außerhalb der Medienbubble wohl kaum jemanden von den Millionen Menschen, die uns schauen."
+++ Nachdem die "Rheinische Post" von einem Cyberangriff getroffen wurde, sind die Folgen auch Tage später noch sichtbar – das digitale Angebot der Zeitung und weiterer Lokalzeitungen, die zum Konzern gehören, ist weiter eingeschränkt.
+++ Der US-Reporter Evan Gershkovich bleibt bis zum 30. August in russischer Untersuchungshaft, ein Einspruch von ihm dagegen ist vorerst gescheitert – nachzulesen unter anderem bei der "Tagesschau".
+++ Sagt Ihnen der Name Gil Ofarim noch etwas? Die hitzige Medienaufregung ist längst abgeflaut, nun berichtet der MDR, dass im November der Prozess gegen den Sänger beginnen soll. Quelle der Meldung ist wiederum die "Bild".
+++ Über die Antrittsrede von Philipp Welte als Vorstandsvorsitzender beim Medienverband Freie Presse schreibt Andrian Kreye auf der SZ-Medienseite unter der Überschrift "Ein Tsunami an Bullshit" – und meint damit nicht die Rede, sondern die Folgen von KI für den Journalismus.
+++ Dass Luke Mockridge vor Gericht mehrere einstweilige Verfügungen gegen den "Spiegel" erwirkt hat, schreibt Michael Hanfeld auf der Medienseite der FAZ. Hintergründe auch in diesem Altpapier.
+++ Mit einem Positionspapier fordern die Kulturvertreterinnen und -vertreter in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkräten mehr kulturelle Inhalte in den Programmen, berichtet die FAZ ebenfalls auf ihrer Medienseite. Dort heißt es auch: "Welche Inhalte die Kulturrundfunkräte genau unter den Begriff ‚Kultur‘ fassen, bleibt unklar."
+++ Einem der "unbequemsten und bestinformierten Investigativjournalisten Kärntens" hat die Kriminalpolizei Computer und Handy abgenommen, weil sie die Daten darauf auswerten will. Über das Vorgehen gegen Frank Miklautz hat schon am Mittwoch sein Kollege Florian Klenk im "Falter" geschrieben, auch @mediasres hat gestern berichtet.
+++ Dass Menschen auf Facebook und Twitter am häufigsten mit politischen Infos und Debatten in Kontakt kommen und auf YouTube und Whatsapp seltener, zeigt eine aktuelle Studie der Uni Düsseldorf, die Thema eines Beitrags in den Media Perspektiven ist.
Das nächste Altpapier kommt am Montag von Klaus Raab. Schönes Wochenende!