Kolumne: Das Altpapier am 21. Juni 2023 Die ARD will keinen Wildwuchs
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21. Juni 2023, 12:35 Uhr
Die Mehrheit der Bundesbürger befürwortet den Einsatz von Menschen mit fremdsprachigen Akzenten in Radio und Fernsehen. Beim Hörspiel droht ein Verlust an Themenviefalt, und das sollte auch Menschen Sorgen bereiten, die sich nicht für dieses Genre interessieren. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- Es fehlen die Perspektiven von Journalisten, deren Erstsprache nicht Deutsch ist
- Alle reden über Springer, aber …
- Ein Text über die ARD, den man gelesen haben sollte
- Stefanowitsch über Sternchen und das Spaltungs-Narrativ
- Altpapierkorb ("Gegen den Strom", "Irgendwas-mit-Afrika-Fotos", Springers Code of Conduct, teure Parteitags-Berichterstattung)
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Es fehlen die Perspektiven von Journalisten, deren Erstsprache nicht Deutsch ist
"Medien und Diversität", lautete Ende der vergangenen Woche der Titel des diesjährigen Dokumentarfilm-Branchentreffs Dokville in Stuttgart, und überhaupt ist dieses Thema derzeit sehr präsent (was auch immer das für Auswirkungen in der Praxis haben wird). Das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap hat im Auftrag des NDR-Medienmagazins "Zapp" zum Beispiel gerade Folgendes herausgefunden:
"Eine Mehrheit der Bundesbürger (58 Prozent) würde es befürworten, wenn im Fernsehen und Radio auch Menschen eingesetzt würden, an deren Aussprache zu erkennen ist, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist."
Und dann war da ja auch noch die Jahreskonferenz des Netzwerks Recherche (die im Altpapier von Montag kurz erwähnt war): Hier gehörte Diversität zu den Themen, die "im Fokus" standen, wie Adefunmi Olanigan für die taz schreibt. In ihrem Artikel beschäftigt sie sich mit dem Panel "Vom 'Einzelfall' zum Standardprogramm – Wie deutsche Redaktionen vielfältiger werden können":
"Diskutiert wurde darüber, dass es nicht ausreiche, Menschen mit Migrationshintergrund einzustellen, die seit ihrer Kindheit oder Geburt in Deutschland leben und dementsprechend einwandfrei Deutsch sprächen. Vielfalt bedeute auch, Perspektiven von all jenen abzubilden, deren Erstsprache nicht Deutsch ist. Arezao Naiby, eine der Redner*innen, volontierte beim WDR und arbeitet dort mittlerweile als Redakteurin. Naiby arbeitete in Afghanistan als Journalistin und kam erst vor wenigen Jahren nach Deutschland. Nach ihrer Ankunft habe sie zunächst nicht daran geglaubt, weiter als Journalistin arbeiten zu können, sagt sie. Es fehle an Positivbeispielen dafür, dass es möglich sei. Naiby ist nun Vorbild und Einzelfall zugleich. Um Journalist*innen wie sie zu fördern, so der Tenor des Panels, müssten Medienhäuser mehr Geld und Zeit aufwenden."
Wobei: Wenn mehr Migranten in den Redaktionen zum Beispiel dafür sorgen, dass über Themen auch aus migrantischer Perspektive berichtet wird und nicht aus der der weißen Mehrheitsgesellschaft, könnten Medienhäuser damit Zielgruppen erreichen, die sie bisher nicht erreicht haben. Der Aufwand könnte sich also mittelfristig lohnen. Eine ähnliche Argumentation vertrat zum Beispiel Negin Behkam, 2010 aus dem Iran geflohen und heute Redakteurin beim ND, bei der erwähnten Dokville-Tagung (über die ich für die am Freitag erscheinende neue Ausgabe von "epd medien" berichte).
Alle reden über Springer, aber …
Größtenteils weiterhin aktuell ist auch die zur Konferenz erschienene Interviewzeitung "Nestbeschmutzer", produziert von Master-Studierenden der Journalistik und der Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg.
Unter anderem interviewt hier Clara Veihelmann die auf der Titelseite als "Grande Dame des Medienjournalismus" bezeichnete Sissi Pitzer. Die langjährige verantwortliche Redakteurin der Sendung "Das Medienmagazin" im BR ist kürzlich in den Ruhestand gegangen, und im Gespräch geht es natürlich um die Situation des Medienjournalismus, aufgehängt unter anderem an Hans-Jürgen Jakobs’ viel beachtetem Text für "epd medien" (Altpapier, Altpapier).
Veihelmann fragt Pitzer:
"In der Breite wird der Medienjournalismus weniger. Wie sieht es bei der Tiefe der Recherchen aus?"
Woraufhin die "Grande Dame" sagt:
"Ich finde, dass es sehr viele tiefgreifende Recherchen gibt (…) Aber was mir fehlt, ist die Breite der Themen. Also gerade das Beispiel Springer ist sehr beliebt. Da stürzt sich alles drauf. Aber mal auf die Südwestdeutsche Medienholding zu gucken, zu der die Süddeutsche Zeitung gehört und die Stuttgarter Zeitung, die seit Jahren ein irres Sparprogramm fahren. Oder auf den Focus, auf den Burda-Verlag generell, wo es ganz schwierig ist zu recherchieren und etwas herauszufinden. Das fehlt mir auch. Selbst beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dem ich ja selbst 25 Jahre angehört habe, könnte man manchmal noch sehr viel tiefer gucken und vielleicht mal in Unterlagen reinschauen, die durchaus zugänglich sind wie Geschäftsberichte. Um herauszufinden, wo eigentlich manche Gelder versacken. Es gäbe viele, viele Themen, die man recherchieren könnte. Es fehlt aber an Zeit und Kapazitäten."
Was man als Hinweis darauf verstehen kann, dass es auch den Machern des Magazins, für das Pitzer verantwortlich war, an Zeit und Kapazitäten fehlte, um übers Versacken zu berichten.
Pitzers Kritik an der unzureichenden Berichterstattung über die Südwestdeutsche Medienholding teile ich. Darüber, wie die SWMH ihren Laden runter rockt, berichtet am detailliertesten und hartnäckigsten die Wochenzeitung "Kontext" (Altpapier, Altpapier). Dass aber beispielsweise der "Spiegel" oder Medienjournalistinnen und Medienjournalisten der ARD dazu Größeres recherchiert hätten - daran erinnere ich mich nicht.
Dass Springer weiterhin für "relativ große Schlagzeilen (…) in den Medienressorts sorgt" (um eine Formulierung von Christian Bartels aus dem Altpapier von Dienstag aufzugreifen), liegt neben vielem anderen auch daran, dass es dort immer noch relativ viele Redakteurinnen und Redakteure gibt, die Medienjournalistinnen und Medienjournalisten Zugang zu Interna verschaffen. Generell gilt: Je kleiner die Redaktionen werden, desto stärker sinkt die Zahl der potenziellen Informanten, desto schwieriger wird also die Recherche. Das sind zumindest für Teile des Medienjournalismus keine gute Aussichten.
Ein Text über die ARD, den man gelesen haben sollte
"Wir müssen mal über die ARD-Mediathek reden", lautete der Einstieg eines Tweets, der auf ein Altpapier aus der vergangenen Woche verweist, und ein aktueller Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" legt nun nahe, dass wir über die ARD-Audiothek ebenfalls reden müssen. Unter der Überschrift "Versemmelt die ARD die Zukunft des Hörspiels?" schreibt Stefan Fischer:
"Viele der freien Autoren, Regisseurinnen, Komponisten, aber auch der festangestellten Dramaturginnen fürchten, dass das Hörspiel unterm Deckmantel eines Reformprozesses vor allem gefälliger und günstiger werden soll. Belege für diese Entwicklung gibt es. In der Szene nehmen Frustration und Wut überhand. Aus Furcht vor Konsequenzen will jedoch niemand namentlich genannt werden."
Wie das halt so ist in der Angstwelt ARD. Aktueller Aufhänger des Textes: Heute und morgen befassen sich die Intendantinnen und Intendanten der ARD mit vier Szenarien, die eine "Prüfgruppe" für die Zukunft des Hörspiels entwickelt hat. Fun fact: Einer der Leiter dieser "Prüfgruppe" ist der uns zuletzt durch seine finanzielle Genügsamkeit betörende Jan Weyrauch, der beinahe für das Intendantenamt beim RBB kandidiert hätte.
Egal, welches Szenario der Prüfgruppe die ARD-Granden favorisieren werden:
"In keinem der Fälle werden weiter alle ARD-Sender künftig eine eigenständige Hörspielredaktion haben. Die Vielfalt der Themen und der akustischen Handschriften wird sich also verringern. Oder, aus Sicht etlicher Entscheider: der Wildwuchs."
Wobei die ARD ja eigentlich dafür da sein sollte, Wildwuchs zu fördern, aber da sie sich als Player im plattformkapitalistischen Halligalli versteht, hat man solche Grundsätze längst über Bord geworfen. Fischer schreibt:
"Nichts ist in der ARD-Audiothek so erfolgreich wie das Hörspiel: Die Gattung (…) verantwortet (…) mehr als ein Drittel aller Abrufe (…) Die Stoßrichtung der Prüfgruppe ist erkennbar. Das Hörspiel soll noch stärker zu einem Instrument werden, das die Konkurrenzfähigkeit der Audiothek im Wettbewerb mit den großen privaten Audio-Plattformen, voran Spotify, steigert."
Für diesen Wettbewerb, so der SZ-Redakteur, habe man "Sonderetats" und "Parallelstrukturen" geschaffen, und mit einem "immensen Sonderetat" wird zum Beispiel Radio Bremens "Lost in Neulich" produziert:
"(Der Sender) gibt die Kosten mit rund 10 000 Euro pro 20-minütiger Folge an, in Summe nach zwei Staffeln à 24 Episoden, bislang also eine halbe Million. Ein ungewöhnlich hoher Anteil des Etats fließt offenbar ins Marketing, und die Serie wird erkennbar immer wieder sehr prominent in der ARD-Audiothek präsentiert. Kritiker dieser inhaltlich und ästhetisch ziemlich ambitionslosen Soap, von denen es auch innerhalb der ARD etliche gibt, stören sich daran, wie mit 'Lost in Neulich' Programmpolitik gemacht wird: Es werde, so der Vorwurf, mit viel Geld ein Publikumserfolg erkauft, der dann intern der Argumentation dient, das seien nun einmal die Inhalte, die das Publikum besonders schätze."
Bei Bewegtbild-Produktionen läuft es ja teilweise nicht unähnlich. Überhaupt: Wenn man wissen will, wie die ARD-Strategen ticken, welche Dynamiken und Mechanismen den Senderverbund derzeit prägen - dann sollte man Fischers Text gelesen haben, unabhängig davon, wie sehr man sich für das Genre Hörspiel interessiert.
Stefanowitsch über Sternchen und das Spaltungs-Narrativ
Allerlei Eumel singen seit Monaten den Gassenhauer von der "gespaltenen Gesellschaft" (Altpapier, Altpapier), und gestern tat es zum Beispiel Ulf Poschardt in einer Claudia-Pechstein-Apologie fürs Welt-Debattenressort.
"Der linke Kulturkampf hat das Land gespalten", heißt es in dem Text unter anderem - obwohl die Linke (nicht die komische Partei dieses Namens, sondern die Bewegung) derzeit so kraftlos ist, dass es ihr wohl nicht einmal gelänge, einen Laib Mozzarella zu spalten. Möglicherweise war’s Poschardt, der den Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch am Dienstag zu einem langen Mastodon-Thread inspiriert hat:
"'X spaltet die Gesellschaft' - mit dieser Metapher wird in Politik und Feuilleton seit einiger Zeit jede tatsächliche oder herbeigeredete Meinungsverschiedenheit beschrieben – egal, ob es um das Gendern, Migration, Corona-Maßnahmen, Wärmepumpen, die Proteste der Letzten Generation, Waffenlieferungen an die Ukraine, Künstliche Intelligenz, Rassismus, Antirassismus, den Ballermann-Hit 'Layla' oder die Erbschaftssteuer geht.
Stefanowitsch konstatiert, dass "die Meinungsvielfalt als das Zerbrochen-Sein eines idealerweise heilen Ganzen dargestellt" werde. Er schreibt weiter:
"Es ist ok, wenn Leute das Gendersternchen hässlich, sinnlos oder übereifrig finden. Das bedeutet nicht, dass Schulen, Behörden, Firmen oder Privatpersonen aufhören müssen, es zu verwenden, bis uns eine bessere Lösung für eine genderinklusive Sprache einfällt (…) Die Idee, dass diese Meinungsvielfalt eine 'Spaltung' darstellt und dass diese 'Spaltung' überwunden werden muss, bevor wir den Planeten retten, menschliche Diversität akzeptieren, ein Zufluchtsort für verzweifelte Menschen sein oder einem Nachbarland gegen einen Aggressor zur Seite stehen können, *das* ist das Problem."
Und weil Stefanowitsch gerade in guter Thread-Form war und das Thema Gendern schon beim Wickel hatte, hat er letzterem Aspekt noch mal einen gesonderten Thread gewidmet:
"Gedankenexperiment: Nehmen wir an, du seist ein Mann, der glaubt, seine Lebenswelt sei die Welt. In dieser Welt würde sich alles um dich drehen, und deshalb wäre es nicht verwunderlich, wenn du zum Beispiel das Gendersternchen für ein politisches Symbol halten würdest, mit dem diejenigen, die es verwenden, Zugehörigkeit zu einem politischen Lager ausdrücken und Kritik an denjenigen üben wollen, die es nicht verwenden. Dass das Gendersternchen vielleicht gar nicht an dich gerichtet ist, sondern dass es non-binären Menschen signalisieren soll, dass man sie wahrnimmt und sprachlich einbeziehen möchte, kommt dir nicht in den Sinn, denn in deiner Welt ist *alles* an dich gerichtet."
Altpapierkorb ("Gegen den Strom", "Irgendwas-mit-Afrika-Fotos", Springers Code of Conduct, teure Parteitags-Berichterstattung)
+++ Der Dokumentarfilm "Gegen den Strom" erzählt die Geschichte der syrischen Seenotretterin Sara Mardini, der wegen ihres Wirkens als Retterin eine Verurteilung in Griechenland droht. Der Film sei "ein ausgesprochen persönliches, mit zahlreichen O-Tönen gespicktes Porträt einer jungen Frau, die unter dem drohenden Prozess leidet, aber nach wie vor ihre Bekanntheit im Kampf gegen das Sterben im Mittelmeer nutzt", schreibt Thomas Gehringer im "Tagesspiegel".
+++ Inwiefern "Irgendwas-mit-Afrika-Fotos" in der hiesigen Berichterstattung eines von vielen Beispielen dafür sind, "wie heute von Europa aus Bilder und Metaphern reproduziert werden, die ihren Ursprung in der europäischen Ethnologie des 19. Jahrhunderts haben", steht in einem "Übermedien"-Text von Anne Haeming.
+++ Die von der Springer-Pressestelle aus aktuellem Anlass (siehe auch Altpapier) aufgestellte Behauptung, der Code of Conduct des Konzerns beziehe sich "ausdrücklich auf die Geschäftsleitungen unterhalb des Vorstands", also nicht auf Mathias Döpfner, tritt Felix W. Zimmermann bei Legal Tribune Online entgegen: "Rechtlich betrachtet ist Döpfner (…) nicht berechtigt, sich redaktionell einzumischen: Das interne Nichteinmischungsverbot aus dem Code of Conduct gilt für Döpfner, da der Kodex den Vorstand direkt verpflichtet und Döpfner als Vorstandsvorsitzender zur 'Geschäftsleitung’ gehört. Auch seine Aktionärsstellung verschafft ihm keine 'Verlegerrechte'", da mit dieser keinerlei operative Entscheidungsbefugnisse einhergehen."
+++ Was deutsche Parteien nicht von den britischen Konservativen lernen sollten: Geld für die Berichterstattung von Parteitagen zu verlangen. Den Tories, berichtet die FAZ-Medienseite heute, "drohen bei ihrem Parteitag in Manchester Anfang Oktober gelichtete Pressereihen, nachdem die Regierungspartei abermals eine Gebühr für die Akkreditierung von Journalisten erhebt. Hunderte von Medienorganisationen aus aller Welt, darunter auch die FAZ, haben diesen Schritt als Angriff auf die Pressefreiheit verurteilt. Die Tories hatten im vergangenen Jahr unter lautem Protest der Betroffenen 125 Pfund für die Teilnahme von Journalisten verlangt." Dieses Mal kostet der Spaß mindestens 137 Pfund. Das ist allerdings nur der Frühbucher-Rabatt. Nach dem 31. Juli soll die Akkreditierung 880 Pfund kosten.
Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ralf Heimann.