Das Altpapier am 12. Juni 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 12. Juni 2023 Moms Who Shop Like Crazy

12. Juni 2023, 09:35 Uhr

... sind nur eine von über einer halben Million Zielgruppen der Online-Werbung. Edward Snowden bereut nichts. Wird Julian Assange "planmäßig" ausgeliefert? In puncto öffentlich-rechtlicher Rundfunk drehen die Rechnungshöfe auf. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Neues aus dem werbefinanzierten Internet

Viele aufsehenerregende Recherchen schlagen Wellen, so dass manchmal die Medien, die sie als erste veröffentlichten, weniger davon haben als weitermeldende Trittbrettfahrer. Das lässt sich oft niemandem vorwerfen. Zwar wollen alle Nachrichtenportale, dass das, was anderswo gut klickt, auch bei ihnen gut klickt. Aber natürlich sollen Recherchen auch Wellen schlagen und müssen Nachrichtenportale über alles Wichtige informieren.

Manche wichtigen Recherchen schlagen bemerkenswert wenig Wellen. Z.B. diese von netzpolitik.org. Wobei es kein Wunder ist, dass Nachrichtenportale auf die Recherche, "wie deutsche Firmen am Geschäft mit unseren Daten verdienen", nicht einsteigen. Da wird das Geschäft mit Nutzerdaten zwar längst nicht nur, aber auch anhand von solchem Tracking auf Internetseiten beleuchtet, dem zuzustimmen alle, die private Nachrichtenportale aufrufen und auf deren Geräten die entsprechenden Cookies nicht schon arbeiten, freundlich gedrängt werden.

Es geht um sage und schreibe 651.463 Kategorien, in die Nutzer eingeordnet werden. Die "absurdesten zehn Werbekategorien" nennt netzpolitik.org unter der klick-attraktiv klingenden Überschrift "Verlierer, Liebhaber, Junkies: In diese absurden Schubladen steckt dich die Werbeindustrie". Diese Rangliste führen die Segmente namens "Fragile Senior:innen", denen sich also gut Geld abluchsen lässt, und "Shoppping-versessene Mamas" an. Wobei diese Kategorie im Original "Moms Who Shop Like Crazy" heißt, was wir – geklickt werden wollen wir ja auch – hier als Überschrift borgten. Zwar fokussiert der eingangs verlinkte Beitrag sich auf deutsche Datenhändler, darunter Tochterfirmen der Deutsche Telekom und von ProSiebenSat.1. Doch basiert die gemeinsam mit themarkup.org aus den USA betriebene Recherche auf einer "Angebotsliste aus dem Mai 2021 von Xandr". Dieses Xandr sitzt in New York und gehört inzwischen zum Datenkraken Microsoft, der auf sehr vielen PCs ganz besonders in Behörden präsent ist (und in sog. KI stark vertreten und, wenn es nach der EU geht, auch den Spielehersteller Activision kaufen darf). Heißt: Das Tracking-Geschäft funktioniert natürlich auf Englisch und vor allem durch und für US-amerikanische Firmen.

Und auch in der EU und Deutschland werden Methoden, mit denen "die Adtech-Industrie offenbar selbst unsere Krankheiten und Schwächen zu Geld machen will", kaum gebremst, kommentiert netzpolitik.org-Chefredakteurin Anna Biselli:

"Dass dieses System mit der Datenschutzgrundverordnung vereinbar sein soll, erscheint mir wie die (Über-)Lebenslüge einer milliardenschweren Industrie, die sich in unserem Online-Leben eingenistet hat und damit ihr Geschäftsmodell betreibt."

Es lohnt, den eingangs verlinkten 30.000 Zeichen-Longread zu lesen. Schon der Frage wegen, woher die zahllosen Daten stammen: von "Kreditkartenfirmen, Marktforschungsunternehmen und zahlreichen Apps und Websites, die Daten ihrer Nutzer:inen weitergeben", schreibt Ingo Dachwitz, sowie von "anderen Datenhändlern, die ihre Bestände weiterverkaufen" und beteuern, "die Einwilligung der Betroffenen eingeholt haben, dass ihre Daten weitergegeben und für Werbung genutzt werden dürfen." Ein konkretes Beispiel bezieht sich etwa auf verknüpfte Geo- und Kreditkarten-Daten:

"... Wir haben bei der Berliner Sparkasse und der Berliner Volksbank angefragt, ob auch sie die Quelle für diese Informationen sind. Die Banken sagen: Nein. Adsquare selbst will auf Anfrage nicht sagen, woher die Segmente stammen. Doch eine Pressesprecherin der Berliner Volksbank hat eine Vermutung: 'Ein Blick auf den Webauftritt der Adsquare als Anbieter von Geo-Daten lässt uns folgendes Szenario denkbar erscheinen: Bewegungsdaten (z. B. von Mobilfunkprovidern oder Apps die Standortdaten teilen) werden mit öffentlichen Kartendaten (frei verfügbare Standortdaten unserer Filialen und SB Geräte) kombiniert, um ein Dataset zu erzeugen, wie Sie es scheinbar online gefunden haben.' Dies wäre ohne konkrete Nutzungsdaten aus dem Geldautomatensystem der Bank möglich."

Wobei die Geo-Daten vermutlich von beliebten Wetter-Apps stammen. Wir sind ja keine Nutzwert-Kolumne, aber: Wetter-Apps zu deinstallieren (oder zu deaktivieren, falls sie vorinstalliert und nicht deinstallierbar sind) und, wenn man wissen will, wie das Wetter sich dort, wo man gerade ist oder wohin man reisen möchte, entwickelt, einfach eine entsprechende Internetseite aufzurufen und den Ortsnamen einzugeben, wäre eine sinnvolle Reaktion auf die Enthüllungen. Zur Werbefinanzierung der Seite trägt das ja ebenfalls bei, verhindert aber, dass das (sog.) Smartphone unterwegs immerzu Daten sendet ... was außerdem auch Akku-Energie spart.

Fieses Framing gegen Julian Assange

Privatwirtschaftliche Unternehmen sind nicht die einzigen, die tracken. Das ist seit spätestens zehn Jahren bekannt und wesentlich Edward Snowden zu verdanken. Snowdens Enthüllungen lagen vorige Woche ein Jahrzehnt zurück. Daher sprach für den "Guardian" Ewen MacAskill mit ihm, der Snowden 2013 auf seiner Flucht im (damals noch freieren) Hongkong getroffen hatte:

"Snowden lebt seit 2013 im russischen Exil, nachdem er aus Hongkong geflohen war, wo er Zehntausende von streng geheimen Dokumenten an Journalisten weitergegeben hatte. Seine Gegner prangern ihn dafür an, dass er sich in Russland aufhält, obwohl dies die einzige realistische Option für ihn zu sein scheint, die er neben dem Gefängnis in den USA hat. Die Kritik hat sich seit dem Einmarsch in die Ukraine und dem Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im letzten Jahr, zwei Jahre nach seinem Antrag, verschärft. Doch trotz seiner persönlichen Notlage hält sich Snowden nicht mit der Vergangenheit auf. 'Ich bereue nichts', sagte er." (deepl.com-übersetzt)

Wobei die journalistische Auswertung von Snowdens Dokumenten in den 20er Jahren unter "dem Druck der betroffenen Regierungen" weitgehend "abgebrochen" wurde, wie mmm.verdi.de kürzlich mithilfe des NDR-Reporters John Goetz bilanzierte. So schlimm es ist, dass einer der wesentlichen Vorkämpfer für digitale Freiheit nur in einem äußerst unfreien und aggressiv kriegerischen Staat frei leben kann, noch schlimmer traf es Wikileaks-Gründer Assange. Seine Auslieferung in die USA "rückt gefährlich nahe", meldeten die Reporter ohne Grenzen, nachdem im (insbesondere wegen seines Umgangs mit Assange zweifelhaft erscheinenden) Rechtsstaat Großbritannien eine weitere Etappe auf dem Rechtsweg absolviert wurde.

Das ist bei den ROG eine zweifellos wertende, nämlich "zutiefst besorgte" Formulierung. Andere Formulierungen, nämlich die von der "geplanten Auslieferung in die USA" und die vom Vorwurf, "geheimes Material von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan gestohlen" zu haben, enthielt eine u.a. bei tagesschau.de und faz.net veröffentlichte dpa-Meldung. Warum das fieses Framing darstellt, erklärt Sebastian Köhler bei "Telepolis". Schließlich ist – oder war inzwischen bloß noch? – Konsens, dass die USA im Irak einen Krieg führten. Und dass Wikileaks darin begangene US-amerikanische Kriegsverbrechen öffentlich gemacht hat, eigentlich auch. Im ebenfalls fiesen Satz "Unterstützer sehen in Assange einen Journalisten, der Kriegsverbrechen ans Licht gebracht hat", gekleidet, taucht das selbst bei der dpa auf. 

Wer der Ansicht ist, dass deutsche Medien oft verdammt regierungsnah berichten, was in internationalen Fällen bedeutet: die Sichtweisen der Regierungen der Verbündeten ungefiltert übernehmen, muss sich dieses Beispiel merken.

Noch mehr Spannung rund um den RBB

Selbstredend gibt's Neues vom RBB. "Wende in Schlesinger-Affäre?", lautet eine spektakuläre Überschrift bei t-online.de: "Ein Teil der Vorwürfe gegen Schlesinger und ihr Umfeld sind nach Informationen von t-online möglicherweise nicht zu halten".

Da bezieht sich das Portal auf ein Gutachten, das die Messe Berlin beauftragte, deren Ex-Aufsichtsratschef Wolf-Dieter Wolf zugleich dem RBB-Verwaltungsrat vorsaß, sowie auf Anwalts-Einschätzungen: von Ralf Höcker, der die gefeuerte Ex-RBB-Intendantin Patricia Schlesinger vertritt, sowie von Robert Unger, der Schlesingers Ehemann Gerhard Spörl vertritt. Dieser hatte ja als Journalist "über seinen Kontakt zu Wolf lukrative Aufträge der landeseigenen Messe" erhalten.

Bei t-online.de spielen den Artikel flankierende Werbebanner seit je eine wichtige Rolle. Schließlich gehört das Portal dem Werbekonzern Ströer (der im eingangs verlinkten netzpolitik.org-Beitrag weiter unten auch erwähnt wird). Vergleichsweise nicht ungeheuer auffällig, aber vorhanden ist der "Transparenzhinweis: Schlesingers Ehemann Gerhard Spörl schreibt als Kolumnist auch für t-online". Die jüngste Kolumne des Ex-"Spiegel"-Journalisten trägt die passend klingende Überschrift "Die übliche Heuchelei", befasst sich allerdings mit Rammstein.

[Noch ein Transparenzhinweis: Ich selbst schrieb bis Ende 2022 auch für t-online.de]

Wie bei t-online.de und in den Weitermeldungen steht, werden weitere Ermittlungen, vor allem der Berliner Generalstaatsanwaltschaft, und weitere Berichte, vor allem der vom RBB beauftragten und zu weiter laufenden Kosten weiter ermittelnden Kanzlei Lutz Abel, gespannt erwartet. Tatsächlich wird spannend, ob Schlesinger und ihre Kumpanen beim RBB gegen viele Gesetze verstießen (wie der RBB sozusagen hofft, um seiner Ex nicht noch Geld nachzahlen zu müssen, sondern etwas von ihren horrenden Einnahmen zurückfordern zu können), oder ob sie eher bloß taten, was zuvor beim RBB und womöglich in anderen Anstalten üblich war und im Rahmen der überkommenen Regelwerke von den ehrenamtlichen, manchmal befreundeten Kontrolleuren durchgewunken wurde.

"Aber nicht nur Schlesingers Größenwahn ... und die wahllose wie unkontrollierte Vergabe von Aufträgen und Beraterverträgen, sondern auch die Kumpanei von Senderspitze und Verwaltungsrat haben den RBB skandalisiert. Und den gesamten öffentlich-rechtlichen Rundfunk gleich mit",

rückt Joachim Huber im "Tagesspiegel" zurecht. In dem Artikel geht es dann auch um nun vorgelegte Berichte der Rechnungshöfe Berlins und Brandenburgs (vgl. auch rbb24.de), die sowohl Schlesingers Wirtschaften scharf kritisieren als auch deutlich niedrigere Intendantengehälter fordern. Solche Forderungen kommen von immer mehr Seiten. Einen Überblick bietet businessinsider.de, vor allem mit Bezug auf die "Saarbrücker Zeitung". Wird am Ende der Rundfunk-Spitzenposten in Berlin schlechter bezahlt werden als der bisherige "Geringverdiener unter den Intendanten der ARD" (BI), der  Saarländische Rundfunk-Intendant, der mit nur 245.000 Euro schon jetzt weniger als etwa ein Bundeskanzler verdient? Auch das wird spannend, wenn nach der Wahl der neuen Intendantin (oder des neuen Intendanten, wie seit Ende voriger Woche doch wieder möglich scheint) beim RBB das Gehalt verhandelt wird.

Überdies (auch "Tagesspiegel") schnitt Brandenburgs Rechnungshof-Präsident gar noch mal wieder die Frage an, ob Politiker in den Kontrollgremien der theoretisch staatsfernen Rundfunkanstalten sitzen sollten (und nannte mit dem Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh einen, der das seiner Ansicht nach nicht tun sollte). Die Rechnungshöfe drehen mächtig auf und das ist, schon weil hier tatsächliche Staatsferne angenommen werden darf, eine gute Nachricht. Joachim Huber schließt seinen Beitrag mit dem Ausblick:

"Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat nicht den Zweck, seinen Beschäftigten das Dasein zu verschönern, sondern das Ziel, Programme zu gestalten, die den Zwangsbeitrag rechtfertigen. Der RBB steht am Scheideweg: mehr Geld fürs Personal oder mehr Geld fürs Programm? Wer immer die Spitze im RBB besetzen wird, der muss umsteuern. Der Eisberg wartet schon."

Huch, "Zwangsbeitrag"? Das ist gleich wieder ein Framing, das wir hier an dieser, aus dem Rundfunkbeitrag finanzierten Stelle selbstverständlich ablehnen. Der Rest des Absatzes ist zu wohlwollender Beachtung empfohlen.


Altpapierkorb (Rammstein, Rockmusik, Springer, Funk)

+++ Der Skandal um Rammstein war am Donnerstag hier ausführlich Thema. Dazu erschienen und erscheinen zahlreiche weitere Berichte mit oftmals neuen Enthüllungen. Die von Juliane Löffler und zwölf weiteren verfasste "Spiegel"-Titel-Geschichte nennt Stefan Niggemeier im uebermedien.de-Newsletter "einen klassischen langen Artikel-Zombie, mehr oder weniger kunstvoll zusammengeschraubt aus Teilen, die verschiedene Leute aus unterschiedlichen Ecken der Redaktion zugeliefert haben... ". Einerseits fühlt sich das Magazin "an den Fall Harvey Weinstein" erinnert, andererseits sind allerlei Notate rund um die "Rockmusik, eine der großen und zentralen kulturellen Formationen des 20. Jahrhunderts", auch enthalten. +++ Medienanwältin Stephanie Schorks Ansicht "Lindemann 'ist presserechtlich nicht mehr zu helfen'" sorgt u.a. auf Twitter mit Link zu linkedin.com da und dort für jeweils interessanten Diskussionen. +++ Unbedingt lesenswert ist Laura Hertreiters Kommentar bzw. Gegenfrage "Was hat Till Lindemann denn erwartet?" in der "SZ". +++

+++ Immer was los bei Berliner Medienhäusern, außer beim RBB auch bei Axel Springer. Bei Upday, dem Inhalteanbieter für Samsung-Geräte (um den es in diesem Altpapier-Rückblick mal ging), werde "ein Drittel der Belegschaft" entlassen. Dabei spiele "auch die fortschreitende Entwicklung im Bereich Künstlicher Intelligenz eine Rolle. In der Belegschaft gehen nun viele davon aus, dass menschliche Arbeitskraft auch aus diesem Grund abgebaut wird", meldete die "SZ". +++ Für die sich ebenfalls Anna Ernst außerdem mit dem vielleicht "spannendsten Rechtsstreit der Medienlandschaft" befasste: der gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen Springer und seinem einst führenden Mitarbeiter Julian Reichelt. Nach einem Gerichtstermin am Freitag geht's allerdings wohl erst im November weiter ("FAZ"). +++

+++ Funk-Formate wirken manchmal, "als hätte man in Ermanglung von Lust auf Recherche einfach den am wenigsten aufwändigen Ansatz gewählt (Protagonisten aus dem Bekanntenkreis, Selbstversuche mit Alkohol)", schrieb Ralf Heimann hier neulich zur differenzierten, dabei bemerkenswert kritischen Brenner-Stiftungs-Studie zum ARD-/ZDF-Junge-Leute-Angebot. "Kommt den Funk-Machern nicht in den Sinn, dass sich junge Leute auch kritisch gegenüber ihrer eigenen Alterskohorte verhalten können?", heißt es am Ende des "FAZ"-Artikels zum gleichen Thema, für den Autor Tobias Schweitzer auch mit Funk-Vertretern wie dem "Head of Content", Stefan Spiegel, sprach. +++

Das nächste Altpapier erscheint am Dienstag.

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