Das Altpapier am 6. Juni 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 6. Juni 2023 Perspektive und Kontext

06. Juni 2023, 10:15 Uhr

Im Nachrichtenjournalismus zählt Aktualität, aber in der Klimaschutzberichterstattung ist das eine bizarre Währung. Die re:publica beginnt unter anderem mit einer Widerrede gegen den KI-Hype. Und: wer RBB-Intendantin werden könnte. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Grumpy Cat wäre gegen den KI-Hype

"Man hat zuletzt (...) auf der Regierungsbank Leute sitzen sehen, die es als Internet-Meme mit der guten alten Grumpy Cat aufnehmen könnten", schreibt die "FAZ" auf Seite 1 unter ihr populäres Aufmacherfoto. Und dieses Foto, das, wie so oft, anschlussfähig in mehrere Richtungen ist, zeigt: die besagte grummelige Katze. Wenn da nicht die halbe re:publica heute zur "FAZ" greift, dann weiß ich auch nicht.

Es ist wieder Netzkonferenz in Berlin. Also könnten in diesen Tagen etwas verstärkt Netzthemen verhandelt werden. Der Wirtschaftsteil der "Süddeutschen" veröffentlicht zum Beispiel einen Text von Simon Hurtz, der auf der re:publica die Session von Jürgen Geuter gesehen hat, einem Informatiker und "Deutschlands präzisestem KI-Kritiker" (Hurtz).

"Eine Gesellschaft, die nach Selbstoptimierung und Produktivität lechzt, ist (…) anfällig für das Versprechen aus dem Silicon Valley, soziale und politische Probleme ließen sich mit Technik lösen. 'Die Tech-Branche ist auf Wachstum, Unicorns und diesem ganzen Shit aufgebaut', sagt Geuter. Die Blase der Kryptowährungen sei geplatzt, das Metaverse existiere nur in der Fantasie von Facebook-Chef Mark Zuckerberg, da komme KI gerade recht."

So Hurtz über Geuter unter der Überschrift "Alle feiern KI, nur einer nicht".

Dass nur Geuter nicht mitfeiern würde, ist freilich eine Zuspitzung. Schon seit einiger Zeit ist immer wieder ein KI-debattenkritischer Klingelton zu vernehmen. Der geht ungefähr so: Die KI-Debatte läuft schräg, weil sie praktisch nur "Heilsversprechen" und "Untergangsszenarien" kenne.

Das Social-Media-Watchblog wies dieser Tage etwa in einem Newsletter darauf hin, dass ein paar Dinge im KI-Debattenkontext so ungenau-apokalyptisch verhandelt werden, als wäre der Film "Terminator", in dem die Künstliche Intelligenz Skynet die Herrschaft übernehmen will, eine Doku gewesen:

"Statt sich vor einem möglichen Skynet zu gruseln, sollten wir uns mit den bereits existierenden Risiken beschäftigen, etwa Ausbeutung, der absurden Machtkonzentration und blindem Vertrauen in halluzinierende KI. In der Öffentlichkeit mangelt es garantiert nicht an KI-Dystopien, während die realen Herausforderungen zu kurz kommen".

so das Social-Media-Watchblog, das auch eine Passage aus einem älteren Essay von Lee Vinsel ausgegraben hat: Wer allzu eindringlich vor neuen Technologien warne und ihre dystopischen Auswirkungen dramatisiere, befeuere letztlich den Hype.

"Hype" ist eine zentrale Kategorie der Kritik an der KI-Debatte. Sie taucht in Jürgen Geuters Vortrag auf, und sie steht auch prominent in einem Kommentar von Sebastian Meineck zur KI-Debatte (netzpolitik.org). Auch er hat Einwände gegen das Pro-Contra-Spiel, das wir aus den Debatten, die um irgendwas mit Internet kreisen, als Utopie-Dystopie-Spiel kennen:

"Utopie und Dystopie, die beiden Pole der Erzählung erfüllen gemeinsam eine Funktion. Sie verengen die Debatte auf eine Entweder-oder-Frage: Bringt die KI enormes Glück oder enormen Schrecken? In den Hintergrund rückt dabei die Frage, inwiefern große Teile des Hypes bloß heiße Luft sind",

so Meineck. Und einer seiner Punkte ist dieser:

"Es wäre die Aufgabe von Journalist*innen, diesen Hype zu entzaubern. Stattdessen feuern viele Beiträge den Hype weiter an; wohl auch weil es Zeit und Mühe kosten würde, den Science-Fiction-Erzählungen etwas entgegenzusetzen."

Das sieht Grumpy Cat ganz gewiss nicht anders.

Klimaschutzjournalismus: Wo sind Perspektive und Kontext?

Es kostet Zeit und Mühe, Hypes zu entzaubern. – Zu der Erkenntnis kann auch kommen, wer sich in die Berichterstattung über Wärmepumpen und Gebäudeenergie vertieft. Es hat in den vergangenen Wochen in Teilen des Journalismus offensichtlich an viel Zeit und Mühe gefehlt. Ein paar Beiträge zur Hype-Entzauberung gab es (Altpapier). Aber maßgeblich bestimmt war die Debatte über das Gebäudeenergiegesetzesvorhaben des Klima- und Wirtschaftsministeriums von blöd-boulevardesken Krampf-Kategorien wie "Habecks Heiz-Hammer".

Das Gesetz hatte oder hat Schwächen, Lücken – nennen Sie es, wie Sie wollen. Vielleicht hat es sogar eine Menge Schwächen, über die unbedingt zu reden war und ist. Aber die Debatte darüber strotzte und strotzt vor Unredlichkeit. Friederike Haupt schreibt heute im "FAZ"-Leitartikel: "Gefährlich ist (…) nicht der Streit, sondern die Vermeidung des Arguments. Sie verleiht Erregungsgrad und Lautstärke eine Bedeutung, die ihnen nicht zukommt." Sie belegt ihre Kritik mit Äußerungen aus der CDU ("Heizungswahn", "Energie-Stasi").

Aber ebenso der Rede wert ist die Performance von Medien. Harald Staun hat sie in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" nachgezeichnet und die Unredlichkeit exemplarisch in den Kampagnen von "Bild" und Bootskapitän Gabor Steingart festgestellt,

"der täglich neue Listen von Halbwahrheiten raushaut, 'Die sieben Irrtümer des Robert Habeck", die 'sechs Zumutungen, die den Minister und die Wirtschaft (. . .) aus dem Takt gebracht haben', 'fünf Fakten, die Habecks Leuchtkraft schwächen'. Auch andere Medien schenken dem Streit viel mehr Aufmerksamkeit als der kompetenten Aufklärung, als könnte man das politische Kalkül dahinter nicht deutlich erkennen."

Wobei es noch keine Erkenntnis ist, dass es im Journalismus diskursive Unredlichkeit gibt. Selbstverständlich gibt es die. Interessant und relevant ist aber, dass so viele darauf einsteigen, als wäre das ein alternativloses Vorgehen. Harald Staun schreibt:

"(A)uch die, die ihre Kritik ein bisschen eleganter formulieren, behandeln das Thema oft mit journalistischen Reflexen, die angesichts der tatsächlichen Herausforderungen selbst wie Rudimente einer schrottreifen Technologie wirken: Personalisierung und Performance-Kritik, Koalitionsstreit-Ticker und Insider-Tweets vom parteipolitischen Hickhack, Reportagen über problematische Einzelfallschicksale – das sind die dürftigen Genres eines Politjournalismus, dessen chronische Defizite nun fast bizarr wirken."

Es ist, als wäre eine KI am Werk: Wenn erstmal eine kritische Masse an Beiträgen erschienen ist, in denen das Wort "Heizhammer" auftaucht, wird es wohl quasi automatisch auch in andere eingerechnet, als handelte es sich um einen ernstzunehmenden Befund aus der Klimawissenschaft. Nochmal Harald Staun:

"Der Preis für die mediale Präsenz von Klimaschutzthemen ist offenbar, dass jede konstruktive Berichterstattung in den Routinen eines Nachrichtenjournalismus aufgerieben wird, der Aktualität und Nähe auch in einem Bereich für die Leitwährung hält, in dem Perspektive und Kontext viel relevanter wären."

Wer wird RBB-Intendantin?

Andere Frage: Wer wird RBB-Intendantin? (Oder – Frage an den CDU-Vorsitzenden – muss man hier, in einer öffentlich-rechtlich finanzierten Kolumne, nun auch "RBB-Intendant" schreiben, damit die AfD nicht weiter wächst? Es wäre halt irgendwie schräg: Es sind null Männer unter den Kandidatinnen.) "Jan Weyrauch, Programmdirektor von Radio Bremen, steht, anders als vom Tagesspiegel gemeldet, nicht zur Wahl", korrigierte der "Tagesspiegel" am Montagnachmittag seine ursprüngliche Meldung.

Wer stattdessen in der engeren Wahl ist, sind die ehemalige Regierungssprecherin Ulrike Demmer, Heide Baumann, Mitglied der Geschäftsführung von Vodafone Deutschland, und Juliane Leopold, Chefredakteurin Digitales von ARD-aktuell. Und dann wäre da noch die amtierende RBB-Intendantin, Katrin Vernau, die dem "Tagesspiegel" zufolge "keineswegs aus dem Rennen" ist:

"Zwar hatte sie sich innerhalb der Bewerbungsfrist für die Führungsposition nicht gemeldet, zugleich aber ihre Bereitschaft bestätigt, als Intendantin im Amt bleiben zu wollen. Ihre bisherige Arbeit im und für den RBB sollte als Reverenz für Leistung und Leistungsbereitschaft verstanden werden. Im Rundfunkrat wird erwartet, dass Vernau spätestens am 16. Juni als Kandidatin benannt wird.ihre Bereitschaft bestätigt, als Intendantin im Amt bleiben zu wollen",

heißt es dort. dwdl.de schätzt Vernaus Aussichten allerdings anders ein: Dass Oliver Bürgel, der Vorsitzende des RBB-Rundfunkrats und der Wahl- und Findungskommission, nun "explizit das 'demokratische und transparente Verfahren' betont", mache es "zunehmend unwahrscheinlich, dass es Vernau doch noch auf die Wahlliste schafft".

Was die DWDL-Vermutung nähren könnte, ist, dass sich der RBB ein intransparentes Verfahren nicht leisten kann. Das klingt, in anderem Zusammenhang, in der "FAZ" an, in der der ehemalige WDR-Sprecher Jürgen Bremer in einem Gastbeitrag den RBB-Skandal reflektiert:

"Ein Katalysator beim RBB-Desaster war eine unglaublich verblüffende In­transparenz. Nur unter dem Siegel der Vertraulichkeit – innerhalb der Gremien selber und gegenüber der Öffentlichkeit – konnten seltsame Beschäftigungsverhältnisse, Beraterverträge, Zu­lagen und skandalöse Ruhegeldvereinbarungen gedeihen."

Gewählt wird die RBB-Intendantin jedenfalls am 16. Juni.


Altpapierkorb (YouTube-Channels, Karolin Kandler, "Bravo Girl", Vorhersage-Journalismus, Donbass-Reportage)

+++ Eines der Medienthemen des Tages ist der Deutschland-Start von YouTubes bezahlpflichtigen Prime-Time-Channels. "Das sind zunächst neun Kanäle, die man über Youtube buchen kann", schreibt Michael Hanfeld in der "FAZ" (nur Print; online bei faz.net gibt es zum Thema einen kurzen Bericht). Nicht vernachlässigbar ist, dass es dort auch das Angebot "ARD Plus" gebe, für 4,95 Euro. Dass ein Sender mit "ARD" im Namen nochmal Geld kostet, obwohl die Inhalte beitragsfinanziert sind, ist bekannt. Hanfeld: "'ARD Plus' versammelt Programme, die aus dem Angebot der Mediathek herausfallen, entweder weil die vom Medienstaatsvertrag festgelegte Laufzeit dort abgelaufen ist oder weil die ARD die Rechte zur alleinigen Ausstrahlung nicht mehr hat." Was er problematisiert, ist, dass die ARD dazu beitrage, "Konzerne wie Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft als Zentralgestirne" im "Digitaluniversum" zu formen.

+++ Die, hm, Nachricht, dass die ehemalige "Tagesschau"-Sprecherin Karolin Kandler "vier Jahre lang fast umsonst gearbeitet" habe, hat nach einem Beitrag der "Bild" ein paar Runden gedreht (Welt.de, stern.de). "Übermedien" hat allerdings nachgerechnet und kommt auf einen Betrag von "Schlechte Nachrichten über die ARD (und das ZDF) gehören bei 'Bild' gewissermaßen zum Markenkern", aka Milchmädchenrechnung.

+++ Aurelie von Blazekovic verabschiedet in der "Süddeutschen" die "Bravo Girl":"Der Bauer-Verlag hat das Heft eingestellt. (…) Ohne Abschiedsworte ist da still und leise eine Institution verschwunden."

+++ Wenn es hinterher nicht so ausgegangen ist, wie man vorher gedacht hätte – dann ist es eine gute Idee, das eigene Denken zu reflektieren. Raphael Geiger, Korrespondent der "Süddeutschen", hat es nach der Wahl in der Türkei, die einen – für viele, auch für ihn – nicht erwarteten Ausgang nahm, gemacht und schreibt: "Dieser Job ist letztlich eine Anmaßung. Man behauptet, ein Land erklären zu können. Ein so komplexes Gebilde wie die Türkei zum Beispiel, mit 85 Millionen Menschen. Und eins mit, wie sie hier sagen, "zu viel Geschichte". Man versucht zu verstehen, man liest, man reist, man hört zu. Man verlässt sich natürlich auch auf die Demoskopen, weil die Zahlen anbieten, während man selber nur so stichprobensammelnd durch Anatolien tourt. Macht man das über Jahre, verfolgt man ein Land wie die Türkei länger, kann etwas Gefährliches entstehen. Eine allzu feste Meinung. Oder, in einem Anflug leichter Arroganz, die Annahme, jetzt habe man die Dinge verstanden. Die Türkinnen und Türken sind so oder sie sind so. Sätze, bei denen man erschrecken muss. Müsste. Über sich selbst."

+++ Arte hat wegen einer Reportage über den Donbass, die seit dem 19. Mai in der Mediathek steht, Nachbereitungsbedarf. Denn die Reportage vermittle "den Eindruck einer Täter-Opfer-Umkehr", schrieb am Samstag die "FAZ" und führte damit ihre eigene Berichterstattung fort. Eine entscheidende Sache wurde von Arte mittlerweile auf die breit vorgetragene Kritik hin geändert – der Titel: "Im deutschen Titel des Vorspanns heißt es jetzt nicht mehr 'Russland: Leben auf verbrannter Erde', sondern 'Donbass: Leben auf verbrannter Erde'. Damit wäre wenigstens angezeigt, dass der östliche Teil der Ukraine nicht zu Russland gehört, sondern in einem Angriffskrieg erobert worden ist."

Am Mittwoch schreibt das Altpapier Christian Bartels.

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