Das Altpapier am 5. Juni 2023: Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka
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Kolumne: Das Altpapier am 5. Juni 2023 Sex-Subjekte und -Objekte

05. Juni 2023, 10:31 Uhr

Eine sexpositive Frau kehrt zurück in eine Serie. Ein sexnegativer Sänger lässt ein ganzes Genre und mehrere Institutionen schlecht aussehen. Heute kommentiert Jenni Zylka die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Vorsichtige Rückkehr

Vielleicht fangen wir mal lieber mit etwas (Sex-)Positivem an, später wird es nämlich noch ganz anders: Viele, darunter auch die SZ, freuen sich, dass es in der nächsten Staffel der "Sex and the City"-Fortsetzung "And just like that…" dann doch, nach langem Tauziehen ein Wiedersehen mit dem Charakter "Samantha" geben wird. Samantha, gespielt von Kim Cattrall, war die promiskuitivste der vier New Yorker Freundinnen, was nicht besonders schwierig scheint, denn die anderen drei arbeiteten ohnehin ohne Unterlass auf die verlässliche RZB ("Romantische Zweierbeziehung", siehe Lassie Singers) hin. Die Liebeserklärung der Süddeutschen unterstreicht den nachhaltigen Einfluss der körperlich und geistig freien, sexpositiven und angenehm selbstbewussten Samantha-Figur:

"Es kann schon sein, dass viele junge Frauen sich anzogen wie Carrie, als SATC Ende der Neunziger auf die Menschheit losgelassen wurde, Samantha ist trotzdem die prägendere Figur: Samantha thematisierte permanent ihre Sexualität und hatte dabei ein loses Mundwerk, wie es vor ihr nur ein paar Frauen im französischen Kino hatten, aber bestimmt nicht im amerikanischen Fernsehen."

Die Information über die diesbezügliche Szene (es handelt sich um ein Telefongespräch zwischen Carrie, gespielt von Sarah Jessica Parker, und Samantha, gedreht wurde es an separaten Orten und ohne reale Interaktion zwischen den beiden tief zerstrittenen Schauspielerinnen) stammt aus dem Branchenmagazin Variety, das ebenfalls Samanthas Bedeutung für die sexuelle weibliche Selbstbestimmung hervorhebt:

"Still, the return of Samantha in any form will certainly thrill "Sex and the City" fans, who have been clamoring for even a glimpse of the beloved, empowered publicist who put the "sex" in the groundbreaking series that ran on HBO for six seasons from 1998 to 2004, and led to two movies."

Und für das Wort "Sex" in einer "bahnbrechenden" Produktion zuständig zu sein, das klingt doch gar nicht schlecht – dass der "Samantha"-Charakter zudem der älteste der Reichenclique ist, und während des ersten, auf der Serie beruhenden Spielfilm ihren 50. Geburtstag feierte, verschaffte der zurecht mit Vorwürfen wegen mangelnder Diversität konfrontierten Serie zumindest ein paar Pünktchen gegen Ageismus. Dabei darf man auf keinen Fall vergessen, dass es mit den "Golden Girls" schon lange noch viel betagtere, lustigere, ebenso schlagfertige und zum Teil ebenso sexversessene und selbstverliebte Serienheldinnen gibt.

Quartettspiele

Die vielen, fast gleichlautenden, begeisterten Medienmeldungen zu Samanthas designiertem Kurzauftritt bei "And just like that…" scheinen jedenfalls das – auch durch die "Golden Girls" und 1000 andere, ähnliche Formate etablierte - "Quartett" als einzig wahre Form der seriellen Freundschafts- oder Abenteuerfiktion zu beschwören:

"For one night only, the "Sex and the City" universe will be whole again."

heißt es in der "Variety" mit leicht pathetischem Unterton und keiner Angst vor universalen Begriffen. Eventuell ist es auch eine mathematische Frage. Das Quadrat ist eben symmetrischer als das Dreieck, und ohne zu sehr in die Gedankenwelt des nicht unumstrittenen Schweizer Psychodocs C.G. Jungs einsteigen zu wollen: Archetypen kommen meist als Quartett, Jung nannte zuweilen den "Krieger", den "Liebhaber", den "Magier" und den "König". Übertragen auf die Popkultur wären das dann vielleicht der Schlagfertige, der Hübsche, der Stille und der Lustige, und schwups, sind wir bei den Beatles. Die sich ja nun leider tatsächlich nie mehr wiedervereinigen werden, seufz, nicht mal mehr für ein gefaktes, separat aufgenommenes Telefongespräch. (Wobei man den 15 Jahre nach John Lennons Tod leichenfledderisch erschienenen Song "Free as a bird" durchaus in diese Richtung deuten könnte…) Und nebenbei: "Drei Engel für Charlie" hatten - trotz einer misogynen und ästhetisch sexistischen Rahmenerzählung – eh auch das verlässliche-Freundinnen-und-Kolleginnen-Trio längst etabliert.

Rockerattitüden

Apropos Sexismus: Es gibt, wie angekündigt, leider auch extrem Sexnegatives zu vermelden. Die Berichterstattung über den Rammstein-Sänger Till Lindemann, dem von mehreren Frauen sexueller Missbrauch in After Show-Party-Zusammenhängen vorgeworfen wurde, produziert momentan stündlich neue Beiträge, und scheint sich auf zwei Bereiche zu konzentrieren:

Einerseits wird durch die mutmaßliche Praxis Lindemanns, sich Frauen gezielt "zuführen zu lassen" (in einigen Artikeln ist von Bildern oder Videos die Rede, die vorher von den Interessierten eingesandt werden mussten), die anscheinend in den grundlegend auf Machtstrukturen basierenden Rockkreisen gängige Praxis konstatiert, die (generell nicht musizierenden, sondern anhimmelnden) Frauen als frei zugängliche Objekte zu sehen. Der Tagesspiegel beschreibt das etwa hier so:

"Stars und Groupies stehen in einem eigenen, unauflösbaren Wechselverhältnis. Ruhm und Status können schnell zu einem ungleichen Machtverhältnis führen. Fließend sind die Übergänge von einem selbstbestimmten Fan zu einem fremdbestimmten Opfer."

Und weiter:

"Auch jenseits strafrechtlicher Kategorien deuten die zahlreichen Schilderungen auf ein fein ausgeklügeltes System von Machtmissbrauch hin, das im Umfeld der Band offenbar mit dem Ziel aufgebaut wurde, hübsche junge Frauen dem Rammstein-Frontmann Till Lindemann zuzuführen. Was genau in den Nebenzimmern der Partys passierte, bleibt offen."

Das lyrische Ich darf alles

Auch andere Medien stellen eine viel zu lange ausgebliebene #metoo-Explosion in der Musikbranche, speziell dem traditionell mackerhaften Rock-Mainstream fest, bemängeln, dass das System so lange funktionierte, und versuchen, die Gründe dafür zu analysieren.

Andererseits wird aus der Ferne Till Lindemanns Psyche und die Frage nach der Trennung von Kunst und Künstler, beziehungsweise dem lyrischen Ich und dem Autor angeschaut, die Lindemanns Verlag KiWi noch vor drei Jahren jedem und jeder aufs Brot schmierte, der oder die sich über Lindemanns morbide Gedichte echauffieren wollte:

"Die Differenz zwischen lyrischem Ich und Autor ist aber konstitutiv für jede Lektüre von Lyrik wie von Literatur allgemein und gilt für alle Gedichte des Bandes wie für Lyrik überhaupt. Andernfalls wären keine literarischen Fiktionen und Phantasien des Bösen, der Gewalt, wie wir sie zahlreich aus der Weltliteratur von Henry Miller über B. E. Ellis bis zu A. M. Homes kennen, möglich und die Freiheit der Kunst damit hinfällig. Dass der im Gedicht dargestellte Vorgang unter moralischen Gesichtspunkten zutiefst verwerflich ist, ist eine Selbstverständlichkeit und erlaubt keine persönliche Diffamierung des Autors."

Soweit ein Statement des damaligen Redakteurs Helge Malchow aus dem Jahr 2020.

Zum neuen Skandal um Lindemann gehört jedoch ein Video, dass der Musiker vor drei Jahren aufnahm, und in dem er gut sieben Minuten lang beim "rough sex", also nicht sichtbar konsensuellem, eher wie eine Qual für die Beteiligten wirkenden Verkehr mit verschiedenen jungen Frauen zu sehen ist. Tatsächlich kann man bei dem Film qua Jugendschutzdefinition von einem Porno sprechen – zwar liegt ein Rammstein-Lied zugrunde, das teilweise von den Darstellerinnen synchronisiert wird, doch sexuelle Vorgänge, sichtbare Penetration, Fellatio und so weiter stehen im Vordergrund, die Szenen stehen teilweise ohne Musik frei, und man kann, auch weil die Darstellerinnen teilweise Till Lindemann-Masken tragen, sowohl von einer "apersonalen Sexualität" – so heißt es bei der Kommission für Jugendmedienschutz kjm – als auch von einer "Degradierung des Menschen zum bloßen auswechselbaren Objekt" sprechen. Hier nochmal die kjm-Definition:

"Unter Pornografie ist eine Darstellung zu verstehen, die unter Ausklammerung sonstiger menschlicher Bezüge sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher Weise in den Vordergrund rückt und die in ihrer Gesamttendenz ausschließlich oder überwiegend auf sexuelle Stimulation angelegt ist, sowie dabei die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertevorstellungen gezogenen Grenzen eindeutig überschreitet."

(Dass diese Art des Gewaltsex nicht unbedingt tatsächlich sexuell stimuliert, sondern im Gegenteil abstoßend wirken könnte, ist mit den Worten "überwiegend" und "gezogene Grenzen überschreiten" abgegolten.)

(Buch)Missbrauch

Dass in dem Video jener Gedichtband aus dem KiWi-Verlag von Lindemann als eine Art "glory hole" eingesetzt wird, könnte, wenn das alles nicht so abstoßend wäre, schon wieder unfassbar albern sein, ist es aber nicht. Der renommierte Verlag hat jedenfalls mit dem Hinweis auf das Video die Zusammenarbeit mit dem Künstler gekündigt.

Und Lindemanns irritierende Dichtung und Haltung zieht weitere Kreise in namhaften medialen Zusammenhängen: Sowohl das Glory Hole-Buch von 2013, als auch ein Lindemann-Gedichtband von 2020, in dem der Sänger lustvoll einen "sleep rape" beschreibt, wurden von einem der SZ-Feuilletonchefs herausgegeben, wie die Zeitung knapp schreibt:

"Im darin enthaltenen Gedicht "Wenn du schläfst" exerziert Lindemanns Protagonist eine Vergewaltigung unter Einsatz von K.o.-Tropfen durch: "Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst", heißt es da. Und am Ende: "Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas) / Kannst dich gar nicht mehr bewegen / Und du schläfst / Es ist ein Segen". Beide Bücher wurden herausgegeben von einem der SZ-Feuilletonchefs, Alexander Gorkow, der das Video nicht kannte und die Entscheidung des Verlags richtig findet."

Es ist kaum abzusehen, welche Erschütterungen diese erschütternde Geschichte weiterhin auslösen wird. Die Band selbst hat sich inzwischen in einem sehr knappen Instagram-Statement geäußert, und darum gebeten, die Frauen, die diese Anschuldigungen tätigen, nicht "vorzuverurteilen", weil sie ein "Recht auf ihre Sicht der Dinge haben". Allerdings hätte man als Band ebenfalls "das Recht, nicht vorzuverurteilt zu werden". Was in diesem Zusammenhang eine eigentümliche Formulierung ist: Impliziert sie doch, man müsse nur etwas abwarten. Bis zum richtigen Urteil nämlich. Müsste man mit reinem Gewissen nicht eher jede Art von Verurteilung zurückweisen…? Puh.


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  • Aufgeregte Presse, die Zweite: Die taz reportiert hier den Versuch Prinz Harrys, wegen "unterschiedlicher illegaler Recherchemethoden" in vier verschiedenen Gerichtsverfahren gegen britische Boulevardblätter vorzugehen, und fächert überblicksartig die vielen, vielen Prozesse auf, die auch andere Prominente in Großbritannien mit Zeitungen wie der "Daily Mail" (aus der Associated Newspaper Limited-Gruppe ANL), "Daily Mirror"(gehört zum Verlag "Mirror Group Newspapers" MGN) oder "The Sun" (verantwortlich ist Rupert Murdochs "Newsgroup Newspapers" NGN) beschäftigen: "Gegen die ANL klagen auch einige andere Prominente wie Elton John und Liz Hurley sowie Doreen Lawrence, die Mutter des Schwarzen Teenagers Stephen Lawrence, der 1993 von englischen Rassisten ermordeten wurde."

  • Der Tagesspiegel vermeldet hier die nächste mögliche Erhöhung des Rundfunkbeitrags, und bezieht sich auf Zahlen der KEF. Das wird Folgen haben …

  • Die FAZ berichtet mit Hinweis auf den Guardian, dass der erste schwarze männliche Chefredakteur der britischen Vogue, Edward Enninful, seinen Posten aufgegeben hat – eventuell, um Chef der US-Vogue, und damit Nachfolger von Anna Wintour zu werden – das nennt man dann wohl "hochloben".

Das Altpapier am Dienstag schreibt Klaus Raab.

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